The Project Gutenberg EBook of Römische Geschichte Book 1, by Theodor Mommsen
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Title: Römische Geschichte Book 1
Author: Theodor Mommsen
Release Date: February, 2002 [Etext #3060]
[Most recently updated: January 15, 2020]
Language: German
Character set encoding: UTF-8
*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK RÖMISCHE GESCHICHTE ***
Römische Geschichte
Erstes Buch
Bis zur Abschaffung des römischen Königtums
von Theodor Mommsen
The following e-text of Mommsen’s Roemische Geschichte contains some
(ancient) Greek quotations. The character set used for those quotations is a
modern Greek character set. Therefore, aspirations are not marked in Greek
words, nor is there any differentiation between the different accents of
ancient Greek and the subscript iotas are missing as well.
Contents
Vorrede zu der zweiten Auflage
Vorrede zu der dritten bis neunten Auflage
Erstes Buch—Bis zur Abschaffung des römischen Königtums
Kapitel I. Einleitung
Kapitel II. Die ältesten Einwanderungen in Italien
Kapitel III. Die Ansiedelungen der Latiner
Kapitel IV. Die Anfänge Roms
Kapitel V. Die ursprüngliche Verfassung Roms
Kapitel VI. Die Nichtbürger und die reformierte Verfassung
Kapitel VII. Roms Hegemonie in Latium
Kapitel VIII. Die umbrisch-sabellischen Stämme.
Anfänge der Samniten
Kapitel IX. Die Etrusker
Kapitel X. Die Hellenen in Italien.
Seeherrschaft der Tusker und Karthager
Kapitel XI. Recht und Gericht
Kapitel XII. Religion
Kapitel XIII. Ackerbau, Gewerbe und Verkehr
Kapitel XIV. Mass und Schrift
Kapitel XV. Die Kunst
Vorrede zu der zweiten Auflage
Die neue Auflage der ‘Roemischen Geschichte’ weicht von der frueheren
betraechtlich ab. Am meisten gilt dies von den beiden ersten Buechern,
welche die ersten fuenf Jahrhunderte des roemischen Staats umfassen. Wo
die pragmatische Geschichte beginnt, bestimmt und ordnet sie durch sich
selbst Inhalt und Form der Darstellung; fuer die fruehere Epoche sind
die Schwierigkeiten, welche die Grenzlosigkeit der Quellenforschung und
die Zeit- und Zusammenhanglosigkeit des Materials dem Historiker
bereiten, von der Art, dass er schwerlich andern und gewiss sich selber
nicht genuegt. Obwohl der Verfasser des vorliegenden Werkes mit diesen
Schwierigkeiten der Forschung und der Darstellung ernstlich gerungen
hat, ehe er dasselbe dem Publikum vorlegte, so blieb dennoch notwendig,
hier noch viel zu tun und viel zu bessern. In diese Auflage ist eine
Reihe neu angestellter Untersuchungen, zum Beispiel ueber die
staatsrechtliche Stellung der Untertanen Roms, ueber die Entwicklung
der dichtenden und bildenden Kuenste, ihren Ergebnissen nach
aufgenommen worden. Ueberdies wurden eine Menge kleinerer Luecken
ausgefuellt, die Darstellung durchgaengig schaerfer und reichlicher
gefasst, die ganze Anordnung klarer und uebersichtlicher gestellt. Es
sind ferner im dritten Buche die inneren Verhaeltnisse der roemischen
Gemeinde waehrend der Karthagischen Kriege nicht, wie in der ersten
Ausgabe, skizzenhaft, sondern mit der durch die Wichtigkeit wie die
Schwierigkeit des Gegenstandes gebotenen Ausfuehrlichkeit behandelt
worden.
Der billig Urteilende und wohl am ersten der, welcher aehnliche
Aufgaben zu loesen unternommen hat, wird es sich zu erklaeren und also
zu entschuldigen wissen, dass es solcher Nachholungen bedurfte. Auf
jeden Fall hat der Verfasser es dankbar anzuerkennen, dass das
oeffentliche Urteil nicht jene leicht ersichtlichen Luecken und
Unfertigkeiten des Buches betont, sondern vielmehr wie den Beifall so
auch den Widerspruch auf dasjenige gerichtet hat, darin es
abgeschlossen und fertig war.
Im uebrigen hat der Verfasser das Buch aeusserlich bequemer
einzurichten sich bemueht. Die Varronische Zaehlung nach Jahren der
Stadt ist im Texte beibehalten; die Ziffern am Rande * bezeichnen das
entsprechende Jahr vor Christi Geburt. Bei den Jahresgleichungen ist
durchgaengig das Jahr 1 der Stadt dem Jahre 753 vor Christi Geburt und
dem Olympiadenjahr 6, 4 gleichgesetzt worden; obgleich, wenn die
verschiedenen Jahresanfaenge des roemischen Sonnenjahres mit dem 1.
Maerz, des griechischen mit dem 1. Juli beruecksichtigt werden, nach
genauer Rechnung das Jahr 2 der Stadt den letzten zehn Monaten des
Jahres 753 und den zwei ersten des Jahres 752 v. Chr. sowie den vier
letzten Monaten von Ol. 6, 3 und den acht ersten von Ol. 6, 4
entsprechen wuerde. Das roemische und griechische Geld ist durchgaengig
in der Art reduziert worden, dass Pfundas und Sesterz, Denar und
attische Drachme als gleich genommen und fuer alle Summen ueber 100
Denare der heutige Gold-, fuer alle Summen bis zu 100 Denaren der
heutige Silberwert des entsprechenden Gewichtsquantums zugrunde gelegt
wurde, wobei das roemische Pfund (= 327,45 Gramm) Geld gleich 4000
Sesterzen nach dem Verhaeltnis des Goldes zum Silber 1:15,5 zu 304½
Talern preussisch, der Denar nach Silberwert zu 7 Groschen preussisch
angesetzt wird. Die dem ersten Bande beigefuegte Kiepertsche Karte wird
die militaerische Konsolidierung Italiens anschaulicher darstellen, als
die Erzaehlung es vermag. Die Inhaltsangaben am Rande werden dem Leser
die Uebersicht erleichtern. Ein alphabetisches Inhaltsverzeichnis wird
dem dritten Bande beigegeben werden **, da anderweitige Obliegenheiten
es dem Verfasser unmoeglich machen, das Werk so rasch, wie er es
wuenschte, zu foerdern.
——————-
* Hier in Klammern im Text.
** Karte und Register sind hier weggelassen.
——————-
Breslau, im November 1856
Die Aenderungen, welche der Verfasser in dem zweiten und dritten Bande
dieses Werkes bei der abermaligen Herausgabe zu machen veranlasst
gewesen ist, sind zum groesseren Teil hervorgegangen aus den neu
aufgefundenen Fragmenten des Licinianus, welche er durch die
zuvorkommende Gefaelligkeit des Herausgebers, Herrn Karl Pertz, bereits
vor ihrem Erscheinen in den Aushaengebogen hat einsehen duerfen und die
zu unserer lueckenhaften Kunde der Epoche von der Schlacht bei Pydna
bis auf den Aufstand des Lepidus manche nicht unwichtige Ergaenzung,
freilich auch manches neue Raetsel hinzugefuegt haben.
Breslau, im Mai 1857
Vorrede zu der dritten bis neunten Auflage
Einleitung
Die dritte (vierte, fuenfte, sechste, siebente, achte und neunte)
Auflage wird man im ganzen von den vorhergehenden nicht betraechtlich
abweichend finden. Kein billiger und sachkundiger Beurteiler wird den
Verfasser eines Werkes, wie das vorliegende ist, verpflichtet erachten,
fuer dessen neue Auflagen jede inzwischen erschienene
Spezialuntersuchung auszunutzen, das heisst zu wiederholen. Was
inzwischen aus fremden oder aus eigenen, seit dem Erscheinen der
zweiten Auflage angestellten Forschungen sich dem Verfasser als
versehen oder verfehlt ergeben hat, ist wie billig berichtet worden; zu
einer Umarbeitung groesserer Abschnitte hat sich keine Veranlassung
dargeboten. Eine Ausfuehrung ueber die Grundlagen der roemischen
Chronologie im vierzehnten Kapitel des dritten Buches ist spaeterhin in
umfassender und dem Stoffe angemessener Weise in einer besonderen
Schrift (‘Die roemische Chronologie bis auf Caesar’. Zweite Auflage.
Berlin 1859) vorgelegt und deshalb hier jetzt auf die kurze Darlegung
der Ergebnisse von allgemein geschichtlicher Wichtigkeit eingeschraenkt
worden. Im uebrigen ist die Einrichtung nicht veraendert.
Berlin, am 1. Februar 1861; am 29. Dezember 1864; am 11. April 1868; am
4. August 1874; am 21. Juli 1881; am 15. August 1887; am 1. Oktober
1902.
Meinem Freunde
Moritz Haupt
In Berlin
Erstes Buch
Bis zur Abschaffung des römischen Königtums
Τά παλαίστερα σαφώς μέν ευρείν διά χρόνου πλήθος αδύνατα ήν. Εκ δέ
τεκμηρίων ων επί μακρότατον σκοπούντί μοι πιστεύσαι ξυμβαίνει ου μεγάλα
νομίζω γενέσθαι, ούτε κατά τούς πολέμους οίτε ες τά άλλα.
Die aelteren Begebenheiten liessen sich wegen der Laenge der Zeit nicht
genau erforschen; aber aus Zeugnissen, die sich mir bei der Pruefung im
grossen Ganzen als verlaesslich erwiesen, glaube ich, dass sie nicht
erheblich waren, weder in bezug auf die Kriege noch sonst.
Thukydides
KAPITEL I.
Einleitung
Rings um das mannigfaltig gegliederte Binnenmeer, das tief
einschneidend in die Erdfeste den groessten Busen des Ozeans bildet
und, bald durch Inseln oder vorspringende Landfesten verengt, bald
wieder sich in betraechtlicher Breite ausdehnend, die drei Teile der
Alten Welt scheidet und verbindet, siedelten in alten Zeiten
Voelkerstaemme sich an, welche, ethnographisch und sprachgeschichtlich
betrachtet, verschiedenen Rassen angehoerig, historisch ein Ganzes
ausmachen. Dies historische Ganze ist es, was man nicht passend die
Geschichte der alten Welt zu nennen pflegt, die Kulturgeschichte der
Anwohner des Mittelmeers, die in ihren vier grossen Entwicklungsstadien
an uns vorueberfaehrt: die Geschichte des koptischen oder aegyptischen
Stammes an dem suedlichen Gestade, die der aramaeischen oder syrischen
Nation, die die Ostkueste einnimmt und tief in das innere Asien hinein
bis an den Euphrat und Tigris sich ausbreitet, und die Geschichte des
Zwillingsvolkes der Hellenen und der Italiker, welche die europaeischen
Uferlandschaften des Mittelmeers zu ihrem Erbteil empfingen. Wohl
knuepft jede dieser Geschichten an ihren Anfaengen an andere Gesichts-
und Geschichtskreise an; aber jede auch schlaegt bald ihren eigenen
abgesonderten Gang ein. Die stammfremden oder auch stammverwandten
Nationen aber, die diesen grossen Kreis umwohnen, die Berber und Neger
Afrikas, die Araber, Perser und Inder Asiens, die Kelten und Deutschen
Europas, haben mit jenen Anwohnern des Mittelmeers wohl auch vielfach
sich beruehrt, aber eine eigentlich bestimmende Entwicklung doch weder
ihnen gegeben noch von ihnen empfangen; und soweit ueberhaupt
Kulturkreise sich abschliessen lassen, kann derjenige als eine Einheit
gelten, dessen Hoehepunkt die Namen Theben, Karthago, Athen und Rom
bezeichnen. Es haben jene vier Nationen, nachdem jede von ihnen auf
eigener Bahn zu einer eigentuemlichen und grossartigen Zivilisation
gelangt war, in mannigfaltigster Wechselbeziehung zueinander alle
Elemente der Menschennatur scharf und reich durchgearbeitet und
entwickelt, bis auch dieser Kreis erfuellt war, bis neue
Voelkerschaften, die bis dahin das Gebiet der Mittelmeerstaaten nur wie
die Wellen den Strand umspuelt hatten, sich ueber beide Ufer ergossen
und, indem sie die Suedkueste geschichtlich trennten von der
noerdlichen, den Schwerpunkt der Zivilisation verlegten vom Mittelmeer
an den Atlantischen Ozean. So scheidet sich die alte Geschichte von der
neuen nicht bloss zufaellig und chronologisch; was wir die neue
Geschichte nennen, ist in der Tat die Gestaltung eines neuen
Kulturkreises, der in mehreren seiner Entwicklungsepochen wohl
anschliesst an die untergehende oder untergegangene Zivilisation der
Mittelmeerstaaten wie diese an die aelteste indogermanische, aber auch
wie diese bestimmt ist, eine eigene Bahn zu durchmessen und
Voelkerglueck und Voelkerleid im vollen Masse zu erproben: die Epochen
der Entwicklung, der Vollkraft und des Alters, die beglueckende Muehe
des Schaffens in Religion, Staat und Kunst, den bequemen Genuss
erworbenen materiellen und geistigen Besitzes, vielleicht auch dereinst
das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten Befriedigung des
erreichten Zieles. Aber auch dieses Ziel wird nur ein vorlaeufiges
sein; das grossartigste Zivilisationssystem hat seine Peripherie und
kann sie erfuellen, nimmer aber das Geschlecht der Menschen, dem, so
wie es am Ziele zu stehen scheint, die alte Aufgabe auf weiterem Felde
und in hoeherem Sinne neu gestellt wird.
Unsere Aufgabe ist die Darstellung des letzten Akts jenes grossen
weltgeschichtlichen Schauspiels, die alte Geschichte der mittleren
unter den drei Halbinseln, die vom noerdlichen Kontinent aus sich in
das Mittelmeer erstrecken. Sie wird gebildet durch die von den
westlichen Alpen aus nach Sueden sich verzweigenden Gebirge. Der
Apennin streicht zunaechst in suedoestlicher Richtung zwischen dem
breiteren westlichen und dem schmalen oestlichen Busen des Mittelmeers,
an welchen letzteren hinantretend er seine hoechste, kaum indes zu der
Linie des ewigen Schnees hinansteigende Erhebung in den Abruzzen
erreicht. Von den Abruzzen aus setzt das Gebirge sich in suedlicher
Richtung fort, anfangs ungeteilt und von betraechtlicher Hoehe; nach
einer Einsattlung, die eine Huegellandschaft bildet, spaltet es sich in
einen flacheren suedoestlichen und einen steileren suedlichen Hoehenzug
und schliesst dort wie hier mit der Bildung zweier schmaler Halbinseln
ab. Das noerdlich zwischen Alpen und Apennin bis zu den Abruzzen hinab
sich ausbreitende Flachland gehoert geographisch und bis in sehr spaete
Zeit auch historisch nicht zu dem suedlichen Berg- und Huegelland,
demjenigen Italien, dessen Geschichte uns hier beschaeftigt. Erst im
siebenten Jahrhundert Roms wurde das Kuestenland von Sinigaglia bis
Rimini, erst im achten das Potal Italien einverleibt; die alte
Nordgrenze Italiens sind also nicht die Alpen, sondern der Apennin.
Dieser steigt von keiner Seite in steiler Kette empor, sondern breit
durch das Land gelagert und vielfache, durch maessige Paesse verbundene
Taeler und Hochebenen einschliessend gewaehrt er selbst den Menschen
eine wohl geeignete Ansiedelungsstaette, und mehr noch gilt dies von
dem oestlich, suedlich und westlich an ihn sich anschliessenden Vor-
und Kuestenland. Zwar an der oestlichen Kueste dehnt sich, gegen Norden
von dem Bergstock der Abruzzen geschlossen und nur von dem steilen
Ruecken des Garganus inselartig unterbrochen, die apulische Ebene in
einfoermiger Flaeche mit schwach entwickelter Kuesten- und Strombildung
aus. An der Suedkueste aber zwischen den beiden Halbinseln, mit denen
der Apennin endigt, lehnt sich an das innere Huegelland eine
ausgedehnte Niederung, die zwar an Haefen arm, aber wasserreich und
fruchtbar ist. Die Westkueste endlich, ein breites, von bedeutenden
Stroemen, namentlich dem Tiber, durchschnittenes, von den Fluten und
den einst zahlreichen Vulkanen in mannigfaltigster Tal- und Huegel-,
Hafen- und Inselbildung entwickeltes Gebiet, bildet in den Landschaften
Etrurien, Latium und Kampanien den Kern des italischen Landes, bis
suedlich von Kampanien das Vorland allmaehlich verschwindet und die
Gebirgskette fast unmittelbar von dem Tyrrhenischen Meere bespuelt
wird. Ueberdies schliesst, wie an Griechenland der Peloponnes, so an
Italien die Insel Sizilien sich an, die schoenste und groesste des
Mittelmeers, deren gebirgiges und zum Teil oedes Innere ringsum, vor
allem im Osten und Sueden, mit einem breiten Saume des herrlichsten,
grossenteils vulkanischen Kuestenlandes umguertet ist; und wie
geographisch die sizilischen Gebirge die kaum durch den schmalen “Riss”
(Ρήγιον) der Meerenge unterbrochene Fortsetzung des Apennins sind, so
ist auch geschichtlich Sizilien in aelterer Zeit ebenso entschieden ein
Teil Italiens wie der Peloponnes von Griechenland, der Tummelplatz
derselben Staemme und der gemeinsame Sitz der gleichen hoeheren
Gesittung. Die italische Halbinsel teilt mit der griechischen die
gemaessigte Temperatur und die gesunde Luft auf den maessig hohen
Bergen und im ganzen auch in den Taelern und Ebenen. In der
Kuestenentwicklung steht sie ihr nach; namentlich fehlt das Inselreiche
Meer, das die Hellenen zur seefahrenden Nation gemacht hat. Dagegen ist
Italien dem Nachbarn ueberlegen durch die reichen Flussebenen und die
fruchtbaren und kraeuterreichen Bergabhaenge, wie der Ackerbau und die
Viehzucht ihrer bedarf. Es ist wie Griechenland ein schoenes Land, das
die Taetigkeit des Menschen anstrengt und belohnt und dem unruhigen
Streben die Bahnen in die Ferne, dem ruhigen die Wege zu friedlichem
Gewinn daheim in gleicher Weise eroeffnet. Aber wenn die griechische
Halbinsel nach Osten gewendet ist, so ist es die italische nach Westen.
Wie das epirotische und akarnanische Gestade fuer Hellas, so sind die
apulischen und messapischen Kuesten fuer Italien von untergeordneter
Bedeutung; und wenn dort diejenigen Landschaften, auf denen die
geschichtliche Entwicklung ruht, Attika und Makedonien, nach Osten
schauen, so sehen Etrurien, Latium und Kampanien nach Westen. So stehen
die beiden so eng benachbarten und fast verschwisterten Halbinseln
gleichsam voneinander abgewendet; obwohl das unbewaffnete Auge von
Otranto aus die akrokeraunischen Berge erkennt, haben Italiker und
Hellenen sich doch frueher und enger auf jeder andern Strasse beruehrt
als auf der naechsten ueber das Adriatische Meer. Es war auch hier wie
so oft in den Bodenverhaeltnissen der geschichtliche Beruf der Voelker
vorgezeichnet: die beiden grossen Staemme, auf denen die Zivilisation
der Alten Welt erwuchs, warfen ihre Schatten wie ihren Samen der eine
nach Osten, der andere nach Westen.
Es ist die Geschichte Italiens, die hier erzaehlt werden soll, nicht
die Geschichte der Stadt Rom. Wenn auch nach formalem Staatsrecht die
Stadtgemeinde von Rom es war, die die Herrschaft erst ueber Italien,
dann ueber die Welt gewann, so laesst sich doch dies im hoeheren
geschichtlichen Sinne keineswegs behaupten und erscheint das, was man
die Bezwingung Italiens durch die Roemer zu nennen gewohnt ist,
vielmehr als die Einigung zu einem Staate des gesamten Stammes der
Italiker, von dem die Roemer wohl der gewaltigste, aber doch nur ein
Zweig sind.
Die italische Geschichte zerfaellt in zwei Hauptabschnitte: in die
innere Geschichte Italiens bis zu seiner Vereinigung unter der Fuehrung
des latinischen Stammes und in die Geschichte der italischen
Weltherrschaft. Wir werden also darzustellen haben des italischen
Volksstammes Ansiedelung auf der Halbinsel; die Gefaehrdung seiner
nationalen und politischen Existenz und seine teilweise Unterjochung
durch Voelker anderer Herkunft und aelterer Zivilisation, durch
Griechen und Etrusker; die Auflehnung der Italiker gegen die Fremdlinge
und deren Vernichtung oder Unterwerfung; endlich die Kaempfe der beiden
italischen Hauptstaemme, der Latiner und der Samniten, um die Hegemonie
auf der Halbinsel und den Sieg der Latiner am Ende des vierten
Jahrhunderts vor Christi Geburt oder des fuenften der Stadt Rom. Es
wird dies den Inhalt der beiden ersten Buecher bilden. Den zweiten
Abschnitt eroeffnen die Punischen Kriege; er umfasst die reissend
schnelle Ausdehnung des Roemerreiches bis an und ueber Italiens
natuerliche Grenzen, den langen Status quo der roemischen Kaiserzeit
und das Zusammenstuerzen des gewaltigen Reiches. Dies wird im dritten
und den folgenden Buechern erzaehlt werden.
KAPITEL II.
Die ältesten Einwanderungen in Italien
Keine Kunde, ja nicht einmal eine Sage erzaehlt von der ersten
Einwanderung des Menschengeschlechts in Italien; vielmehr war im
Altertum der Glaube allgemein, dass dort wie ueberall die erste
Bevoelkerung dem Boden selbst entsprossen sei. Indes die Entscheidung
ueber den Ursprung der verschiedenen Rassen und deren genetische
Beziehungen zu den verschiedenen Klimaten bleibt billig dem
Naturforscher ueberlassen; geschichtlich ist es weder moeglich noch
wichtig festzustellen, ob die aelteste bezeugte Bevoelkerung eines
Landes daselbst autochthon oder selbst schon eingewandert ist.
Wohl aber liegt es dem Geschichtsforscher ob, die sukzessive
Voelkerschichtung in dem einzelnen Lande darzulegen, um die Steigerung
von der unvollkommenen zu der vollkommneren Kultur und die
Unterdrueckung der minder kulturfaehigen oder auch nur minder
entwickelten Staemme durch hoeher stehende Nationen soweit moeglich
rueckwaerts zu verfolgen. Italien indes ist auffallend arm an
Denkmaelern der primitiven Epoche und steht in dieser Beziehung in
einem bemerkenswerten Gegensatz zu anderen Kulturgebieten. Den
Ergebnissen der deutschen Altertumsforschung zufolge muss in England,
Frankreich, Norddeutschland und Skandinavien, bevor indogermanische
Staemme hier sich ansaessig machten, ein Volk vielleicht tschudischer
Rasse gewohnt oder vielmehr gestreift haben, das von Jagd und Fischfang
lebte, seine Geraete aus Stein, Ton oder Knochen verfertigte und mit
Tierzaehnen und Bernstein sich schmueckte, des Ackerbaues aber und des
Gebrauchs der Metalle unkundig war. In aehnlicher Weise ging in Indien
der indogermanischen eine minder kulturfaehige dunkelfarbige
Bevoelkerung vorauf. In Italien aber begegnen weder Truemmer einer
verdraengten Nation, wie im keltisch-germanischen Gebiet die Finnen und
Lappen und die schwarzen Staemme in den indischen Gebirgen sind, noch
ist daselbst bis jetzt die Verlassenschaft eines verschollenen Urvolkes
nachgewiesen worden, wie sie die eigentuemlich gearteten Gerippe, die
Mahlzeit- und Grabstaetten der sogenannten Steinepoche des deutschen
Altertums zu offenbaren scheinen. Es ist bisher nichts zum Vorschein
gekommen, was zu der Annahme berechtigt, dass in Italien die Existenz
des Menschengeschlechts aelter sei als die Bebauung des Ackers und das
Schmelzen der Metalle; und wenn wirklich innerhalb der Grenzen Italiens
das Menschengeschlecht einmal auf der primitiven Kulturstufe gestanden
hat, die wir den Zustand der Wildheit zu nennen pflegen, so ist davon
doch jede Spur schlechterdings ausgeloescht.
Die Elemente der aeltesten Geschichte sind die Voelkerindividuen, die
Staemme. Unter denen, die uns spaeterhin in Italien begegnen, ist von
einzelnen, wie von den Hellenen, die Einwanderung, von anderen, wie von
den Brettiern und den Bewohnern der sabinischen Landschaft, die
Denationalisierung geschichtlich bezeugt. Nach Ausscheidung beider
Gattungen bleiben eine Anzahl Staemme uebrig, deren Wanderungen nicht
mehr mit dem Zeugnis der Geschichte, sondern hoechstens auf
aprioristischem Wege sich nachweisen lassen und deren Nationalitaet
nicht nachweislich eine durchgreifende Umgestaltung von aussen her
erfahren hat; diese sind es, deren nationale Individualitaet die
Forschung zunaechst festzustellen hat. Waeren wir dabei einzig
angewiesen auf den wirren Wust der Voelkernamen und der zerruetteten,
angeblich geschichtlichen Ueberlieferung, welche aus wenigen
brauchbaren Notizen zivilisierter Reisender und einer Masse meistens
geringhaltiger Sagen, gewoehnlich ohne Sinn fuer Sage wie fuer
Geschichte zusammengesetzt und konventionell fixiert ist, so muesste
man die Aufgabe als eine hoffnungslose abweisen. Allein noch fliesst
auch fuer uns eine Quelle der Ueberlieferung, welche zwar auch nur
Bruchstuecke, aber doch authentische gewaehrt; es sind dies die
einheimischen Sprachen der in Italien seit unvordenklicher Zeit
ansaessigen Staemme. Ihnen, die mit dem Volke selbst geworden sind, war
der Stempel des Werdens zu tief eingepraegt, um durch die nachfolgende
Kultur gaenzlich verwischt zu werden. Ist von den italischen Sprachen
auch nur eine vollstaendig bekannt, so sind doch von mehreren anderen
hinreichende Ueberreste erhalten, um der Geschichtsforschung fuer die
Stammverschiedenheit oder Stammverwandtschaft und deren Grade zwischen
den einzelnen Sprachen und Voelkern einen Anhalt zu gewaehren.
So lehrt uns die Sprachforschung drei italische Urstaemme
unterscheiden, den iapygischen, den etruskischen und den italischen,
wie wir ihn nennen wollen, von welchen der letztere in zwei Hauptzweige
sich spaltet: das latinische Idiom und dasjenige, dem die Dialekte der
Umbrer, Marser, Volsker und Samniten angehoeren.
Von dem iapygischen Stamm haben wir nur geringe Kunde. Im aeussersten
Suedosten Italiens, auf der messapischen oder kalabrischen Halbinsel,
sind Inschriften in einer eigentuemlichen verschollenen Sprache ^1 in
ziemlicher Anzahl gefunden worden, unzweifelhaft Truemmer des Idioms
der Iapyger, welche auch die Oberlieferung mit grosser Bestimmtheit von
den latinischen und samnitischen Staemmen unterscheidet; glaubwuerdige
Angaben und zahlreiche Spuren fuehren dahin, dass die gleiche Sprache
und der gleiche Stamm urspruenglich auch in Apulien heimisch war. Was
wir von diesem Volke jetzt wissen, genuegt wohl, um dasselbe von den
uebrigen Italikern bestimmt zu unterscheiden, nicht aber, um positiv
den Platz zu bestimmen, welcher dieser Sprache und diesem Volk in der
Geschichte des Menschengeschlechts zukommt. Die Inschriften sind nicht
entraetselt, und es ist kaum zu hoffen, dass dies dereinst gelingen
wird. Dass der Dialekt den indogermanischen beizuzaehlen ist, scheinen
die Genetivformen aihi und ihi entsprechend dem sanskritischen asya,
dem griechischen οιο anzudeuten. Andere Kennzeichen, zum Beispiel der
Gebrauch der aspirierten Konsonanten und das Vermeiden der Buchstaben m
und t im Auslaut, zeigen diesen iapygischen in wesentlicher
Verschiedenheit von den italischen und in einer gewissen
Uebereinstimmung mit den griechischen Dialekten. Die Annahme einer
vorzugsweise engen Verwandtschaft der iapygischen Nation mit den
Hellenen findet weitere Unterstuetzung in den auf den Inschriften
mehrfach hervortretenden griechischen Goetternamen und in der
auffallenden, von der Sproedigkeit der uebrigen italischen Nationen
scharf abstechenden Leichtigkeit, mit der die Iapyger sich
hellenisierten: Apulien, das noch in Timaeos’ Zeit (400 Roms, [350])
als ein barbarisches Land geschildert wird, ist im sechsten Jahrhundert
der Stadt, ohne dass irgendeine unmittelbare Kolonisierung von
Griechenland aus dort stattgefunden haette, eine durchaus griechische
Landschaft geworden, und selbst bei dem rohen Stamm der Messapier
zeigen sich vielfache Ansaetze zu einer analogen Entwicklung. Bei
dieser allgemeinen Stamm- oder Wahlverwandtschaft der Iapyger mit den
Hellenen, die aber doch keineswegs so weit reicht, dass man die
Iapygersprache als einen rohen Dialekt des Hellenischen auffassen
koennte, wird die Forschung vorlaeufig wenigstens stehen bleiben
muessen, bis ein schaerferes und besser gesichertes Ergebnis zu
erreichen steht ^2. Die Luecke ist indes nicht sehr empfindlich; denn
nur weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Beginn
unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volksstamm. Der wenig
widerstandsfaehige, leicht in andere Nationalitaeten sich aufloesende
Charakter der iapygischen Nation passt wohl zu der Annahme, welche
durch ihre geographische Lage wahrscheinlich gemacht wird, dass dies
die aeltesten Einwanderer oder die historischen Autochthonen Italiens
sind. Denn unzweifelhaft sind die aeltesten Wanderungen der Voelker
alle zu Lande erfolgt; zumal die nach Italien gerichteten, dessen
Kueste zur See nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und
deshalb noch in Homers Zeit den Hellenen voellig unbekannt war. Kamen
aber die frueheren Ansiedler ueber den Apennin, so kann, wie der Geolog
aus der Schichtung der Gebirge ihre Entstehung erschliesst, auch der
Geschichtsforscher die Vermutung wagen, dass die am weitesten nach
Sueden geschobenen Staemme die aeltesten Bewohner Italiens sein werden;
und eben an dessen aeusserstem suedoestlichen Saume begegnen wir der
iapygischen Nation.
———————————————————————————-
^1 Ihren Klang moegen einige Grabschriften vergegenwaertigen, wie
θeotoras artahiaihi berenarrihino und dazihonas platorrihi bollihi.
^2 Man hat, freilich auf ueberhaupt wenig und am wenigsten fuer eine
Tatsache von solcher Bedeutung zulaengliche sprachliche
Vergleichungspunkte hin, eine Verwandtschaft zwischen der iapygischen
Sprache und der heutigen albanesischen angenommen. Sollte diese
Stammverwandtschaft sich bestaetigen und sollten anderseits die
Albanesen - ein ebenfalls indogermanischer und dem hellenischen und
italischen gleichstehender Stamm - wirklich ein Rest jener
hellenobarbarischen Nationalitaet sein, deren Spuren in ganz
Griechenland und namentlich in den noerdlichen Landschaften
hervortreten, so wuerde diese vorhellenische Nationalitaet damit als
auch voritalisch nachgewiesen sein; Einwanderung der Iapyger in Italien
ueber das Adriatische Meer hin wuerde daraus zunaechst noch nicht
folgen.
————————————————————————————————-
Die Mitte der Halbinsel ist, soweit unsere zuverlaessige Ueberlieferung
zurueckreicht, bewohnt von zwei Voelkern oder vielmehr zwei Staemmen
desselben Volkes, dessen Stellung in dem indogermanischen Volksstamm
sich mit groesserer Sicherheit bestimmen laesst, als dies bei der
iapygischen Nation der Fall war. Wir duerfen dies Volk billig das
italische heissen, da auf ihm die geschichtliche Bedeutung der
Halbinsel beruht; es teilt sich in die beiden Staemme der Latiner
einerseits, anderseits der Umbrer mit deren suedlichen Auslaeufern, den
Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher Zeit von den
Samniten ausgesandten Voelkerschaften. Die sprachliche Analyse der
diesen Staemmen angehoerenden Idiome hat gezeigt, dass sie zusammen ein
Glied sind in der indogermanischen Sprachenkette, und dass die Epoche,
in der sie eine Einheit bildeten, eine verhaeltnismaessig spaete ist.
Im Lautsystem erscheint bei ihnen der eigentuemliche Spirant f, worin
sie uebereinstimmen mit den Etruskern, aber sich scharf scheiden von
allen hellenischen und hellenobarbarischen Staemmen, sowie vom Sanskrit
selbst. Die Aspiraten dagegen, die von den Griechen durchaus und die
haerteren davon auch von den Etruskern festgehalten werden, sind den
Italikern urspruenglich fremd und werden bei ihnen vertreten durch
eines ihrer Elemente, sei es durch die Media, sei es durch den Hauch
allein f oder h. Die feineren Hauchlaute s, w, j, die die Griechen
soweit moeglich beseitigen, sind in den italischen Sprachen wenig
beschaedigt erhalten, ja hie und da noch weiter entwickelt worden. Das
Zurueckziehen des Akzents und die dadurch hervorgerufene Zerstoerung
der Endungen haben die Italiker zwar mit einigen griechischen Staemmen
und mit den Etruskern gemein, jedoch in staerkerem Grad als jene, in
geringerem als diese angewandt; die unmaessige Zerruettung der Endungen
im Umbrischen ist sicher nicht in dem urspruenglichen Sprachgeist
begruendet, sondern spaetere Verderbnis, welche sich in derselben
Richtung wenngleich schwaecher auch in Rom geltend gemacht hat. Kurze
Vokale fallen in den italischen Sprachen deshalb im Auslaut
regelmaessig, lange haeufig ab; die schliessenden Konsonanten sind
dagegen im Lateinischen und mehr noch im Samnitischen mit Zaehigkeit
festgehalten worden, waehrend das Umbrische auch diese fallen laesst.
Damit haengt es zusammen, dass die Medialbildung in den italischen
Sprachen nur geringe Spuren zurueckgelassen hat und dafuer ein
eigentuemliches, durch Anfuegung von r gebildetes Passiv an die Stelle
tritt; ferner dass der groesste Teil der Tempora durch
Zusammensetzungen mit den Wurzeln es und fu gebildet wird, waehrend den
Griechen neben dem Augment die reichere Ablautung den Gebrauch der
Hilfszeitwoerter grossenteils erspart. Waehrend die italischen Sprachen
wie der aeolische Dialekt auf den Dual verzichteten, haben sie den
Ablativ, der den Griechen verlorenging, durchgaengig, grossenteils auch
den Lokativ erhalten. Die strenge Logik der Italiker scheint Anstoss
daran genommen zu haben, den Begriff der Mehrheit in den der Zweiheit
und der Vielheit zu spalten, waehrend man die in den Beugungen sich
ausdrueckenden Wortbeziehungen mit grosser Schaerfe festhielt.
Eigentuemlich italisch und selbst dem Sanskrit fremd ist die in den
Gerundien und Supinen vollstaendiger als sonst irgendwo durchgefuehrte
Substantivierung der Zeitwoerter.
Diese aus einer reichen Fuelle analoger Erscheinungen ausgewaehlten
Beispiele genuegen, um die Individualitaet des italischen Sprachstammes
jedem anderen indogermanischen gegenueber darzutun und zeigen denselben
zugleich sprachlich wie geographisch als naechsten Stammverwandten der
Griechen; der Grieche und der Italiker sind Brueder, der Kelte, der
Deutsche und der Slave ihnen Vettern. Die wesentliche Einheit aller
italischen wie aller griechischen Dialekte und Staemme unter sich muss
frueh und klar den beiden grossen Nationen selbst aufgegangen sein;
denn wir finden in der roemischen Sprache ein uraltes Wort
raetselhaften Ursprungs, Graius oder Graicus, das jeden Hellenen
bezeichnet, und ebenso bei den Griechen die analoge Benennung Οπικός,
die von allen, den Griechen in aelterer Zeit bekannten latinischen und
samnitischen Stmmen, nicht aber von Iapygern oder Etruskern gebraucht
wird.
Innerhalb des italischen Sprachstammes aber tritt das Lateinische
wieder in einen bestimmten Gegensatz zu den umbrisch-samnitischen
Dialekten. Allerdings sind von diesen nur zwei, der umbrische und der
samnitische oder oskische Dialekt, einigermassen, und auch diese nur in
aeusserst lueckenhafter und schwankender Weise bekannt; von den
uebrigen Dialekten sind die einen, wie der volskische und der
marsische, in zu geringen Truemmern auf uns gekommen, um sie in ihrer
Individualitaet zu erfassen oder auch nur die Mundarten selbst mit
Sicherheit und Genauigkeit zu klassifizieren, waehrend andere, wie der
sabinische, bis auf geringe, als dialektische Eigentuemlichkeiten im
provinzialen Latein erhaltene Spuren voellig untergegangen sind. Indes
laesst die Kombination der sprachlichen und der historischen Tatsachen
daran keinen Zweifel, dass diese saemtlichen Dialekte dem
umbrisch-samnitischen Zweig des grossen italischen Stammes angehoert
haben, und dass dieser, obwohl dem lateinischen Stamm weit naeher als
dem griechischen verwandt, doch auch wieder von ihm aufs bestimmteste
sich unterscheidet. Im Fuerwort und sonst haeufig sagte der Samnite und
der Umbrer p, wo der Roemer q sprach - so pis fuer quis; ganz wie sich
auch sonst nahverwandte Sprachen scheiden, zum Beispiel dem Keltischen
in der Bretagne und Wales p, dem Gaelischen und Irischen k eigen ist.
In den Vokalen erscheinen die Diphthonge im Lateinischen und ueberhaupt
den noerdlichen Dialekten sehr zerstoert, dagegen in den suedlichen
italischen Dialekten sie wenig gelitten haben; womit verwandt ist, dass
in der Zusammensetzung der Roemer den sonst so streng bewahrten
Grundvokal abschwaecht, was nicht geschieht in der verwandten
Sprachengruppe. Der Genetiv der Woerter auf a ist in dieser wie bei den
Griechen as, bei den Roemern in der ausgebildeten Sprache ae; der der
Woerter auf us im Samnitischen eis, im Umbrischen es, bei den Roemern
ei; der Lokativ tritt bei diesen im Sprachbewusstsein mehr und mehr
zurueck, waehrend er in den andern italischen Dialekten in vollem
Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf bus ist nur im Lateinischen
vorhanden. Der umbrisch-samnitische Infinitiv auf um ist den Roemern
fremd, waehrend das oskisch-umbrische, von der Wurzel es gebildete
Futur nach griechischer Art (her-est wie λέγ-σω) bei den Roemern fast,
vielleicht ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des
einfachen Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo (ama-bo). In
vielen dieser Faelle, zum Beispiel in den Kasusformen, sind die
Unterschiede indes nur vorhanden fuer die beiderseits ausgebildeten
Sprachen, waehrend die Anfaenge zusammenfallen. Wenn also die italische
Sprache neben der griechischen selbstaendig steht, so verhaelt sich
innerhalb jener die lateinische Mundart zu der umbrisch-samnitischen
etwa wie die ionische zur dorischen, waehrend sich die
Verschiedenheiten des Oskischen und des Umbrischen und der verwandten
Dialekte etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus in Sizilien und
in Sparta.
Jede dieser Spracherscheinungen ist Ergebnis und Zeugnis eines
historischen Ereignisses. Es laesst sich daraus mit vollkommener
Sicherheit erschliessen, dass aus dem gemeinschaftlichen Mutterschoss
der Voelker und der Sprachen ein Stamm ausschied, der die Ahnen der
Griechen und der Italiker gemeinschaftlich in sich schloss; dass aus
diesem alsdann die Italiker sich abzweigten und diese wieder in den
westlichen und oestlichen Stamm, der oestliche noch spaeter in Umbrer
und Osker auseinander gingen.
Wo und wann diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die Sprache
nicht lehren, und kaum darf der verwegene Gedanke es versuchen, diesen
Revolutionen ahnend zu folgen, von denen die fruehesten unzweifelhaft
lange vor derjenigen Einwanderung stattfanden, welche die Stammvaeter
der Italiker ueber die Apenninen fuehrte. Dagegen kann die Vergleichung
der Sprachen, richtig und vorsichtig behandelt, von demjenigen
Kulturgrade, auf dem das Volk sich befand, als jene Trennungen
eintraten, ein annaeherndes Bild und damit uns die Anfaenge der
Geschichte gewaehren, welche nichts ist als die Entwicklung der
Zivilisation. Denn es ist namentlich in der Bildungsepoche die Sprache
das treue Bild und Organ der erreichten Kulturstufe; die grossen
technischen und sittlichen Revolutionen sind darin wie in einem Archiv
aufbewahrt, aus dessen Akten die Zukunft nicht versaeumen wird, fuer
jene Zeiten zu schoepfen, aus welchen alle unmittelbare Ueberlieferung
verstummt ist.
Waehrend die jetzt getrennten indogermanischen Voelker einen
gleichsprachigen Stamm bildeten, erreichten sie einen gewissen
Kulturgrad und einen diesem angemessenen Wortschatz, den als gemeinsame
Ausstattung in konventionell festgestelltem Gebrauch alle Einzelvoelker
uebernahmen, um auf der gegebenen Grundlage selbstaendig weiter zu
bauen. Wir finden in diesem Wortschatz nicht bloss die einfachsten
Bezeichnungen des Seins, der Taetigkeiten, der Wahrnehmungen wie sum,
do, pater, das heisst den urspruenglichen Widerhall des Eindrucks, den
die Aussenwelt auf die Brust des Menschen macht, sondern auch eine
Anzahl Kulturwoerter nicht bloss ihren Wurzeln nach, sondern in einer
gewohnheitsmaessig ausgepraegten Form, welche Gemeingut des
indogermanischen Stammes und weder aus gleichmaessiger Entfaltung noch
aus spaeterer Entlehnung erklaerbar sind. So besitzen wir Zeugnisse
fuer die Entwicklung des Hirtenlebens in jener fernen Epoche in den
unabaenderlich fixierten Namen der zahmen Tiere: sanskritisch gâus ist
lateinisch bos, griechisch βούς; sanskritisch avis ist lateinisch ovis,
griechisch όις; sanskritisch açvas, lateinisch equus, griechisch ίππος;
sanskritisch hansas, lateinisch anser, griechisch χήν; sanskritisch
âtis, griechisch νήσσα, lateinisch anas; ebenso sind pecus, sus,
porcus, taurus, canis sanskritische Woerter. Also schon in dieser
fernsten Epoche hatte der Stamm, auf dem von den Tagen Homers bis auf
unsere Zeit die geistige Entwicklung der Menschheit beruht, den
niedrigsten Kulturgrad der Zivilisation, die Jaeger- und Fischerepoche,
ueberschritten und war zu einer wenigstens relativen Stetigkeit der
Wohnsitze gelangt. Dagegen fehlt es bis jetzt an sicheren Beweisen
dafuer, dass schon damals der Acker gebaut worden ist. Die Sprache
spricht eher dagegen als dafuer. Unter den lateinisch-griechischen
Getreidenamen kehrt keiner wieder im Sanskrit mit einziger Ausnahme von
ζέα, das sprachlich dem sanskritischen yavas entspricht, uebrigens im
Indischen die Gerste, im Griechischen den Spelt bezeichnet. Es muss nun
freilich zugegeben werden, dass diese von der wesentlichen
Uebereinstimmung der Benennungen der Haustiere so scharf abstechende
Verschiedenheit in den Namen der Kulturpflanzen eine urspruengliche
Gemeinschaft des Ackerbaues noch nicht unbedingt ausschliesst; in
primitiven Verhaeltnissen ist die Uebersiedelung und Akklimatisierung
der Pflanzen schwieriger als die der Tiere, und der Reisbau der Inder,
der Weizen- und Speltbau der Griechen und Roemer, der Roggen- und
Haferbau der Germanen und Kelten koennten an sich wohl alle auf einen
gemeinschaftlichen urspruenglichen Feldbau zurueckgehen. Aber auf der
andern Seite ist die den Griechen und Indern gemeinschaftliche
Benennung einer Halmfrucht doch hoechstens ein Beweis dafuer, dass man
vor der Scheidung der Staemme die in Mesopotamien wildwachsenden
Gersten- und Speltkoerner ^3 sammelte und ass, nicht aber dafuer, dass
man schon Getreide baute. Wenn sich hier nach keiner Seite hin eine
Entscheidung ergibt, so fuehrt dagegen etwas weiter die Beobachtung,
dass eine Anzahl der wichtigsten hier einschlagenden Kulturwoerter im
Sanskrit zwar auch, aber durchgaengig in allgemeinerer Bedeutung
vorkommen: agras ist bei den Indern ueberhaupt Flur, kûrnu ist das
Zerriebene, aritram ist Ruder und Schiff, venas das Anmutige
ueberhaupt, namentlich der anmutende Trank. Die Woerter also sind
uralt; aber ihre bestimmte Beziehung auf die Ackerflur (ager), auf das
zu mahlende Getreide (granum, Korn), auf das Werkzeug, das den Boden
furcht wie das Schiff die Meeresflaeche (aratrum), auf den Saft der
Weintraube (vinum) war bei der aeltesten Teilung der Staemme noch nicht
entwickelt; es kann daher auch nicht wundernehmen, wenn die Beziehungen
zum Teil sehr verschieden ausfielen und zum Beispiel von dem
sanskritischen kûrnu sowohl das zum Zerreiben bestimmte Korn als auch
die zerreibende Muehle, gotisch quairnus, litauisch girnôs ihre Namen
empfingen. Wir duerfen darnach als wahrscheinlich annehmen, dass das
indogermanische Urvolk den Ackerbau noch nicht kannte, und als gewiss,
dass, wenn es ihn kannte, er doch noch in der Volkswirtschaft eine
durchaus untergeordnete Rolle spielte; denn waere er damals schon
gewesen, was er spaeter den Griechen und Roemern war, so haette er
tiefer der Sprache sich eingepraegt, als es geschehen ist.
Dagegen zeugen fuer den Haeuser- und Huettenbau der Indogermanen
sanskritisch dam(as), lateinisch domus, griechisch δόμος; sanskritisch
vêças, lateinisch vicus, griechisch οίκος; sanskritisch dvaras,
lateinisch fores, griechisch θύρα; ferner fuer den Bau von Ruderbooten
die Namen des Nachens - sanskritisch nâus, griechisch ναύς, lateinisch
navis - und des Ruders - sanskritisch aritram, griechisch ερετμός,
lateinisch remus, tri-res-mis; fuer den Gebrauch der Wagen und die
Baendigung der Tiere zum Ziehen und Fahren sanskritisch akshas (Achse
und Karren), lateinisch axis, griechisch άξων, αμ-αξα; sanskritisch
iugam, lateinisch iugum, griechisch ζυγόν. Auch die Benennungen des
Kleides - sanskritisch vastra, lateinisch vestis, griechisch εςθής -
und des Naehens und Spinnens - sanskritisch siv, lateinisch suo;
sanskritisch nah, lateinisch neo, griechisch νήθω - sind in allen
indogermanischen Sprachen die gleichen. Von der hoeheren Kunst des
Webens laesst dies dagegen nicht in gleicher Weise sich sagen ^4.
Dagegen ist wieder die Kunde von der Benutzung des Feuers zur
Speisenbereitung und des Salzes zur Wuerzung derselben uraltes Erbgut
der indogermanischen Nationen und das gleiche gilt sogar von der
Kenntnis der aeltesten zum Werkzeug und zum Zierat von dem Menschen
verwandten Metalle. Wenigstens vom Kupfer (aes) und Silber (argentum),
vielleicht auch vom Gold kehren die Namen wieder im Sanskrit, und diese
Namen sind doch schwerlich entstanden, bevor man gelernt hatte, die
Erze zu scheiden und zu verwenden; wie denn auch sanskritisch asis,
lateinisch ensis auf den uralten Gebrauch metallener Waffen hinleitet.
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^3 Nordwestlich von Anah am rechten Euphratufer fanden sich zusammen
Gerste, Weizen und Spelt im wilden Zustande (Alphonse de Candolle,
Géographie botanique raisonnée. Paris 1855. Bd. 2, S. 934). Dasselbe,
dass Gerste und Weizen in Mesopotamien wild wachsen, sagt schon der
babylonische Geschichtschreiber Berosos (bei Georgios Synkellos p. 50
Bonn.).
^4 Wenn das lateinische vieo, vimen, demselben Stamm angehoert wie
unser weben und die verwandten Woerter, so muss das Wort, noch als
Griechen und Italiker sich trennten, die allgemeine Bedeutung flechten
gehabt haben, und kann diese erst spaeter, wahrscheinlich in
verschiedenen Gebieten unabhaengig voneinander, in die des Webens
uebergegangen sein. Auch der Leinbau, so alt er ist, reicht nicht bis
in diese Zeit zurueck, denn die Inder kennen die Flachspflanze wohl,
bedienen sich ihrer aber bis heute nur zur Bereitung des Leinoels. Der
Hanf ist den Italikern wohl noch spaeter bekannt geworden als der
Flachs; wenigstens sieht cannabis ganz aus wie ein spaetes Lehnwort.
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Nicht minder reichen in diese Zeiten die Fundamentalgedanken zurueck,
auf denen die Entwicklung aller indogermanischen Staaten am letzten
Ende beruht: die Stellung von Mann und Weib zueinander, die
Geschlechtsordnung, das Priestertum des Hausvaters und die Abwesenheit
eines eigenen Priesterstandes sowie ueberhaupt einer jeden
Kastensonderung, die Sklaverei als rechtliche Institution, die
Rechtstage der Gemeinde bei Neumond und Vollmond. Dagegen die positive
Ordnung des Gemeinwesens, die Entscheidung zwischen Koenigtum und
Gemeindeherrlichkeit, zwischen erblicher Bevorzugung der Koenigs- und
Adelsgeschlechter und unbedingter Rechtsgleichheit der Buerger gehoert
ueberall einer spaeteren Zeit an. Selbst die Elemente der Wissenschaft
und der Religion zeigen Spuren urspruenglicher Gemeinschaft.
Die Zahlen sind dieselben bis hundert (sanskritisch çatam, ékaçatam,
lateinisch centum, griechisch ε-κατόν, gotisch hund); der Mond heisst
in allen Sprachen davon, dass man nach ihm die Zeit misst (mensis). Wie
der Begriff der Gottheit selbst (sanskritisch devas, lateinisch deus,
griechisch θεός) gehoeren zum gemeinen Gut der Voelker auch manche der
aeltesten Religionsvorstellungen und Naturbilder. Die Auffassung zum
Beispiel des Himmels als des Vaters, der Erde als der Mutter der Wesen,
die Festzuege der Goetter, die in eigenen Wagen auf sorgsam gebahnten
Gleisen von einem Orte zum andern ziehen, die schattenhafte Fortdauer
der Seele nach dem Tode sind Grundgedanken der indischen wie der
griechischen und roemischen Goetterlehre. Selbst einzelne der Goetter
vom Ganges stimmen mit den am Ilissos und am Tiber verehrten bis auf
die Namen ueberein - so ist der Uranos der Griechen der Varunas, so der
Zeus, Jovis pater, Diespiter der Djâus pitâ der Veden. Auf manche
raetselhafte Gestalt der hellenischen Mythologie ist durch die neuesten
Forschungen ueber die aeltere indische Goetterlehre ein ungeahntes
Licht gefallen. Die altersgrauen geheimnisvollen Gestalten der Erinnyen
sind nicht hellenisches Gedicht, sondern schon mit den aeltesten
Ansiedlern aus dem Osten eingewandert. Das goettliche Windspiel Saramâ,
das dem Herrn des Himmels die goldene Herde der Sterne und
Sonnenstrahlen behuetet und ihm die Himmelskuehe, die naehrenden
Regenwolken zum Melken zusammentreibt, das aber auch die frommen Toten
treulich in die Welt der Seligen geleitet, ist den Griechen zu dem Sohn
der Saramâ, dem Saramêyas oder Hermeias geworden, und die raetselhafte,
ohne Zweifel auch mit der roemischen Cacussage zusammenhaengende
hellenische Erzaehlung von dem Raub der Rinder des Helios erscheint nun
als ein letzter unverstandener Nachklang jener alten sinnvollen
Naturphantasie.
Wenn die Aufgabe, den Kulturgrad zu bestimmen, den die Indogermanen vor
der Scheidung der Staemme erreichten, mehr der allgemeinen Geschichte
der alten Welt angehoert, so ist es dagegen speziell Aufgabe der
italischen Geschichte, zu ermitteln, soweit es moeglich ist, auf
welchem Stande die graecoitalische Nation sich befand, als Hellenen und
Italiker sich voneinander schieden. Es ist dies keine ueberfluessige
Arbeit; wir gewinnen damit den Anfangspunkt der italischen
Zivilisation, den Ausgangspunkt der nationalen Geschichte.
Alle Spuren deuten dahin, dass, waehrend die Indogermanen
wahrscheinlich ein Hirtenleben fuehrten und nur etwa die wilde
Halmfrucht kannten, die Graecoitaliker ein korn-, vielleicht sogar
schon ein weinbauendes Volk waren. Dafuer zeugt nicht gerade die
Gemeinschaft des Ackerbaues selbst, die im ganzen noch keineswegs einen
Schluss auf alle Voelkergemeinschaft rechtfertigt. Ein geschichtlicher
Zusammenhang des indogermanischen Ackerbaus mit dem der chinesischen,
aramaeischen und aegyptischen Staemme wird schwerlich in Abrede
gestellt werden koennen; und doch sind diese Staemme den Indogermanen
entweder stammfremd oder doch zu einer Zeit von ihnen getrennt worden,
wo es sicher noch keinen Feldbau gab. Vielmehr haben die hoeher
stehenden Staemme vor alters wie heutzutage die Kulturgeraete und
Kulturpflanzen bestaendig getauscht; und wenn die Annalen von China den
chinesischen Ackerbau auf die unter einem bestimmten Koenig in einem
bestimmten Jahr stattgefundene Einfuehrung von fuenf Getreidearten
zurueckfuehren, so zeichnet diese Erzaehlung im allgemeinen wenigstens
die Verhaeltnisse der aeltesten Kulturepoche ohne Zweifel richtig.
Gemeinschaft des Ackerbaus wie Gemeinschaft des Alphabets, der
Streitwagen, des Purpurs und andern Geraets und Schmuckes gestattet
weit oefter einen Schluss auf alten Voelkerverkehr als auf
urspruengliche Volkseinheit. Aber was die Griechen und Italiker
anlangt, so darf bei den verhaeltnismaessig wohlbekannten Beziehungen
dieser beiden Nationen zueinander die Annahme, dass der Ackerbau, wie
Schrift und Muenze, erst durch die Hellenen nach Italien gekommen sei,
als voellig unzulaessig bezeichnet werden. Anderseits zeugt fuer den
engsten Zusammenhang des beiderseitigen Feldbaus die
Gemeinschaftlichkeit aller aeltesten hierher gehoerigen Ausdruecke:
ager αγρός, aro aratrum αρόω άροτρον, ligo neben λαχαίνω, hortus
χόρτος, hordeum κριθή, milium μελίνη, rapa ραφανίς, malva μαλάχη, vinum
οίνος, und ebenso das Zusammentreffen des griechischen und italischen
Ackerbaus in der Form des Pfluges, der auf altattischen und roemischen
Denkmaelern ganz gleich gebildet vorkommt, in der Wahl der aeltesten
Kornarten: Hirse, Gerste, Spelt, in dem Gebrauch, die Aehren mit der
Sichel zu schneiden und sie auf der glattgestampften Tenne durch das
Vieh austreten zu lassen, endlich in der Bereitungsart des Getreides:
puls πόλτος, pinso πτίσσω, mola μύλη, denn das Backen ist juengeren
Ursprungs, und wird auch deshalb im roemischen Ritual statt des Brotes
stets der Teig oder Brei gebraucht. Dass auch der Weinbau in Italien
ueber die aelteste griechische Einwanderung hinausgeht, dafuer spricht
die Benennung “Weinland” (Οινοτρία), die bis zu den aeltesten
griechischen Anlaendern hinaufzureichen scheint. Danach muss der
Uebergang vom Hirtenleben zum Ackerbau oder, genauer gesprochen, die
Verbindung des Feldbaus mit der aelteren Weidewirtschaft stattgefunden
haben, nachdem die Inder aus dem Mutterschoss der Nationen
ausgeschieden waren, aber bevor die Hellenen und die Italiker ihre alte
Gemeinsamkeit aufhoben. Uebrigens scheinen, als der Ackerbau aufkam,
die Hellenen und Italiker nicht bloss unter sich, sondern auch noch mit
anderen Gliedern der grossen Familie zu einem Volksganzen verbunden
gewesen zu sein; wenigstens ist es Tatsache, dass die wichtigsten jener
Kulturwoerter zwar den asiatischen Gliedern der indogermanischen
Voelkerfamilien fremd, aber den Roemern und Griechen mit den keltischen
sowohl als mit den deutschen, slawischen, lettischen Staemmen gemeinsam
sind ^5. Die Sonderung des gemeinsamen Erbgutes von dem wohlerworbenen
Eigen einer jeden Nation in Sitte und Sprache ist noch lange nicht
vollstaendig und in aller Mannigfaltigkeit der Gliederungen und
Abstufungen durchgefuehrt; die Durchforschung der Sprachen in dieser
Beziehung hat kaum begonnen, und auch die Geschichtschreibung entnimmt
immer noch ihre Darstellung der Urzeit vorwiegend, statt dem reichen
Schacht der Sprachen, vielmehr dem groesstenteils tauben Gestein der
Ueberlieferung. Fuer jetzt muss es darum hier genuegen, auf die
Unterschiede hinzuweisen zwischen der Kultur der indogermanischen
Familie in ihrem aeltesten Beisammensein und zwischen der Kultur
derjenigen Epoche, wo die Graecoitaliker noch ungetrennt
zusammenlebten; die Unterscheidung der den asiatischen Gliedern dieser
Familie fremden, den europaeischen aber gemeinsamen Kulturresultate von
denjenigen, welche die einzelnen Gruppen dieser letzteren, wie die
griechisch-italische, die deutsch-slawische, jede fuer sich erlangten,
kann, wenn ueberhaupt, doch auf jeden Fall erst nach weiter
vorgeschrittenen sprachlichen und sachlichen Untersuchungen gemacht
werden. Sicher aber ist der Ackerbau fuer die graecoitalische, wie ja
fuer alle anderen Nationen auch, der Keim und der Kern des Volks- und
Privatlebens geworden und als solcher im Volksbewusstsein geblieben.
Das Haus und der feste Herd, den der Ackerbauer sich gruendet anstatt
der leichten Huette und der unsteten Feuerstelle des Hirten, werden im
geistigen Gebiete dargestellt und idealisiert in der Goettin Vesta oder
Εστία, fast der einzigen, die nicht indogermanisch und doch beiden
Nationen von Haus aus gemein ist. Eine der aeltesten italischen
Stammsagen legt dem Koenig Italus, oder, wie die Italiker gesprochen
haben muessen, Vitalus oder Vitulus, die Ueberfuehrung des Volkes vom
Hirtenleben zum Ackerbau bei und knuepft sinnig die urspruengliche
italische Gesetzgebung daran; nur eine andere Wendung davon ist es,
wenn die samnitische Stammsage zum Fuehrer der Urkolonien den
Ackerstier macht oder wenn die aeltesten latinischen Volksnamen das
Volk bezeichnen als Schnitter (Siculi, auch wohl Sicani) oder als
Feldarbeiter (Opsci). Es gehoert zum sagenwidrigen Charakter der
sogenannten roemischen Ursprungssage, dass darin ein staedtegruendendes
Hirten- und Jaegervolk auftritt: Sage und Glaube, Gesetze und Sitten
knuepfen bei den Italikern wie bei den Hellenen durchgaengig an den
Ackerbau an ^6.
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^5 So finden sich aro aratrum wieder in dem altdeutschen aran
(pfluegen, mundartlich eren), erida, im slawischen orati, oradlo, im
litauischen arti, arimnas, im keltischen ar, aradar. So steht neben
ligo unser Rechen, neben hortus unser Garten, neben mola unsere Muehle,
slawisch mlyn, litauisch malunas, keltisch malirr.
Allen diesen Tatsachen gegenueber wird man es nicht zugeben koennen,
dass es eine Zeit gegeben wo die Griechen in allen hellenischen Gauen
nur von der Viehzucht gelebt haben. Wenn nicht Grund-, sondern
Viehbesitz in Hellas wie in Italien der Ausgangs- und Mittelpunkt alles
Privatvermoegens ist, so beruht dies nicht darauf, dass der Ackerbau
erst spaeter aufkam, sondern dass er anfaenglich nach dem System der
Feldgemeinschaft betrieben ward. Ueberdies versteht es sich von selbst,
dass eine reine Ackerbauwirtschaft vor Scheidung der Staemme noch
nirgends bestanden haben kann, sondern, je nach der Lokalitaet mehr
oder minder, die Viehzucht damit sich in ausgedehnterer Weise verband,
als dies spaeter der Fall war.
^6 Nichts ist dafuer bezeichnender als die enge Verknuepfung, in welche
die aelteste Kulturepoche den Ackerbau mit der Ehe wie mit der
Stadtgruendung setzte. So sind die bei der Ehe zunaechst beteiligten
Goetter in Italien die Ceres und (oder?) Tellus (Plut. Rom. 22; Serv.
Aen. 4, 166; A. Rossbach, Untersuchungen ueber die roemische Ehe.
Stuttgart 1853, S. 257, 301), in Griechenland die Demeter (Plut.
coniug. praec. Vorrede), wie denn auch in alten griechischen Formeln
die Gewinnung von Kindern selber “Ernte” heisst (Anm. 8); ja die
aelteste roemische Eheform, die Confarreatio, entnimmt ihren Namen und
ihr Ritual vom Kornbau. Die Verwendung des Pflugs bei der
Stadtgruendung ist bekannt.
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Wie der Ackerbau selbst beruhen auch die Bestimmungen der Flaechenmasse
und die Weise der Limitation bei beiden Voelkern auf gleicher
Grundlage; wie denn das Bauen des Bodens ohne eine wenn auch rohe
Vermessung desselben nicht gedacht werden kann. Der oskische und
umbrische Vorsus von 100 Fuss ins Gevierte entspricht genau dem
griechischen Plethron. Auch das Prinzip der Limitation ist dasselbe.
Der Feldmesser orientiert sich nach einer der Himmelsgegenden und zieht
also zuerst zwei Linien von Norden nach Sueden und von Osten nach
Westen, in deren Schneidepunkt (templum, τέμενος von τέμνω) er steht,
alsdann in gewissen festen Abstaenden den Hauptschneidelinien parallele
Linien, wodurch eine Reihe rechtwinkeliger Grundstuecke entsteht, deren
Ecken die Grenzpfaehle (termini, in sizilischen Inschriften τέρμονες,
gewoehnlich όροι) bezeichnen. Diese Limitationsweise, die wohl auch
etruskisch, aber schwerlich etruskischen Ursprungs ist, finden wir bei
den Roemern, Umbrern, Samniten, aber auch in sehr alten Urkunden der
tarentinischen Herakleoten, die sie wahrscheinlich ebensowenig von den
Italikern entlehnt haben als diese sie von den Tarentinern, sondern es
ist altes Gemeingut. Eigentuemlich roemisch und charakteristisch ist
erst die eigensinnige Ausbildung des quadratischen Prinzips, wonach man
selbst, wo Fluss und Meer eine natuerliche Grenze machten, diese nicht
gelten liess, sondern mit dem letzten vollen Quadrat das zum Eigen
verteilte Land abschloss.
Aber nicht bloss im Ackerbau, sondern auch auf den uebrigen Gebieten
der aeltesten menschlichen Taetigkeit ist die vorzugsweise enge
Verwandtschaft der Griechen und Italiker unverkennbar. Das griechische
Haus, wie Homer es schildert, ist wenig verschieden von demjenigen, das
in Italien bestaendig festgehalten ward; das wesentliche Stueck und
urspruenglich der ganze innere Wohnraum des lateinischen Hauses ist das
Atrium, das heisst das schwarze Gemach mit dem Hausaltar, dem Ehebett,
dem Speisetisch und dem Herd, und nichts anderes ist auch das
homerische Megaron mit Hausaltar und Herd und schwarzberusster Decke.
Nicht dasselbe laesst sich von dem Schiffbau sagen. Der Rudernachen ist
altes indogermanisches Gemeingut; der Fortschritt zu Segelschiffen aber
gehoert der graecoitalischen Periode schwerlich an, da es keine nicht
allgemein indogermanische und doch von Haus aus den Griechen und
Italikern gemeinsame Seeausdruecke gibt. Dagegen wird wieder die uralte
italische Sitte der gemeinschaftlichen Mittagsmahlzeiten der Bauern,
deren Ursprung der Mythus an die Einfuehrung des Ackerbaues anknuepft,
von Aristoteles mit den kretischen Syssitien verglichen; und auch darin
trafen die aeltesten Roemer mit den Kretern und Lakonen zusammen, dass
sie nicht, wie es spaeter bei beiden Voelkern ueblich ward, auf der
Bank liegend, sondern sitzend die Speisen genossen. Das Feuerzuenden
durch Reiben zweier verschiedenartiger Hoelzer ist allen Voelkern
gemein; aber gewiss nicht zufaellig treffen Griechen und Italiker
zusammen in den Bezeichnungen der beiden Zuendehoelzer, des “Reibers”
(τρύπανον, terebra) und der “Unterlage” (στόρευς εσχάρα, tabula, wohl
von tendere, τέταμαι). Ebenso ist die Kleidung beider Voelker
wesentlich identisch, denn die Tunika entspricht voellig dem Chiton,
und die Toga ist nichts als ein bauschigeres Himation; ja selbst in dem
so veraenderlichen Waffenwesen ist wenigstens das beiden Voelkern
gemein, dass die beiden Hauptangriffswaffen Wurfspeer und Bogen sind,
was roemischerseits in den aeltesten Wehrmannsnamen (pilumni -
arquites) deutlich sich ausspricht ^7 und der aeltesten nicht
eigentlich auf den Nahkampf berechneten Fechtweise angemessen ist. So
geht bei den Griechen und Italikern in Sprache und Sitte zurueck auf
dieselben Elemente alles, was die materiellen Grundlagen der
menschlichen Existenz betrifft; die aeltesten Aufgaben, die die Erde an
den Menschen stellt, sind einstmals von beiden Voelkern, als sie noch
eine Nation ausmachten, gemeinschaftlich geloest worden.
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^7 Unter den beiderseits aeltesten Waffennamen werden kaum sicher
verwandte aufgezeigt werden koennen: lancea, obwohl ohne Zweifel mit
λόγχη zusammenhaengend, ist als roemisches Wort jung und vielleicht von
den Deutschen oder Spaniern entlehnt.
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Anders ist es in dem geistigen Gebiet. Die grosse Aufgabe des Menschen,
mit sich selbst, mit seinesgleichen und mit dem Ganzen in bewusster
Harmonie zu leben, laesst so viele Loesungen zu, als es Provinzen gibt
in unsers Vaters Reich; und auf diesem Gebiet ist es, nicht auf dem
materiellen, wo die Charaktere der Individuen und der Voelker sich
scheiden. In der graecoitalischen Periode muessen die Anregungen noch
gefehlt haben, welche diesen innerlichen Gegensatz hervortreten
machten; erst zwischen den Hellenen und den Italikern hat jene tiefe
geistige Verschiedenheit sich offenbart, deren Nachwirkung noch bis auf
den heutigen Tag sich fortsetzt. Familie und Staat, Religion und Kunst
sind in Italien wie in Griechenland so eigentuemlich, so durchaus
national entwickelt worden, dass die gemeinschaftliche Grundlage, auf
der auch hier beide Voelker fussten, dort und hier ueberwuchert und
unsern Augen fast ganz entzogen ist. Jenes hellenische Wesen, das dem
Einzelnen das Ganze, der Gemeinde die Nation, dem Buerger die Gemeinde
aufopferte, dessen Lebensideal das schoene und gute Sein und nur zu oft
der suesse Muessiggang war, dessen politische Entwicklung in der
Vertiefung des urspruenglichen Partikularismus der einzelnen Gaue und
spaeter sogar in der innerlichen Aufloesung der Gemeindegewalt bestand,
dessen religioese Anschauung erst die Goetter zu Menschen machte und
dann die Goetter leugnete, das die Glieder entfesselte in dem Spiel der
nackten Knaben und dem Gedanken in aller seiner Herrlichkeit und in
aller seiner Furchtbarkeit freie Bahn gab; und jenes roemische Wesen,
das den Sohn in die Furcht des Vaters, die Buerger in die Furcht des
Herrschers, sie alle in die Furcht der Goetter bannte, das nichts
forderte und nichts ehrte als die nuetzliche Tat und jeden Buerger
zwang, jeden Augenblick des kurzen Lebens mit rastloser Arbeit
auszufuellen, das die keusche Verhuellung des Koerpers schon dem Buben
zur Pflicht machte, in dem, wer anders sein wollte als die Genossen,
ein schlechter Buerger hiess, in dem der Staat alles war und die
Erweiterung des Staates der einzige nicht verpoente hohe Gedanke - wer
vermag diese scharfen Gegensaetze in Gedanken zurueckzufuehren auf die
urspruengliche Einheit, die sie beide umschloss und beide vorbereitete
und erzeugte? Es waere toerichte Vermessenheit, diesen Schleier lueften
zu wollen; nur mit wenigen Andeutungen soll es versucht werden, die
Anfaenge der italischen Nationalitaet und ihre Anknuepfung an eine
aeltere Periode zu bezeichnen, um den Ahnungen des einsichtigen Lesers
nicht Worte zu leihen, aber die Richtung zu weisen.
Alles, was man das patriarchalische Element im Staate nennen kann, ruht
in Griechenland wie in Italien auf denselben Fundamenten. Vor allen
Dingen gehoert hierher die sittliche und ehrbare Gestaltung des
gesellschaftlichen Lebens ^8, welche dem Manne die Monogamie gebietet
und den Ehebruch der Frau schwer ahndet und welche in der hohen
Stellung der Mutter innerhalb des haeuslichen Kreises die
Ebenbuertigkeit beider Geschlechter und die Heiligkeit der Ehe
anerkennt. Dagegen ist die schroffe und gegen die Persoenlichkeit
ruecksichtslose Entwicklung der eheherrlichen und mehr noch der
vaeterlichen Gewalt den Griechen fremd und italisches Eigen; die
sittliche Untertaenigkeit hat erst in Italien sich zur rechtlichen
Knechtschaft umgestaltet. In derselben Weise wurde die vollstaendige
Rechtlosigkeit des Knechts, wie sie im Wesen der Sklaverei lag, von den
Roemern mit erbarmungsloser Strenge festgehalten und in allen ihren
Konsequenzen entwickelt; wogegen bei den Griechen frueh tatsaechliche
und rechtliche Milderungen stattfanden und zum Beispiel die Sklavenehe
als ein gesetzliches Verhaeltnis anerkannt ward.
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^8 Selbst im einzelnen zeigt sich diese Uebereinstimmung, z. B. in der
Bezeichnung der rechten Ehe als der zur Gewinnung rechter Kinder
abgeschlossenen” (γάμος επί παίδων γνησίων αρότω - matrimonium
liberorum quaerendorum causa).
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Auf dem Hause beruht das Geschlecht, das heisst die Gemeinschaft der
Nachkommen desselben Stammvaters; und von dem Geschlecht ist bei den
Griechen wie den Italikern das staatliche Dasein ausgegangen. Aber wenn
in der schwaecheren politischen Entwicklung Griechenlands der
Geschlechtsverband als korporative Macht dem Staat gegenueber sich noch
weit in die historische Zeit hinein behauptet hat, erscheint der
italische Staat sofort insofern fertig, als ihm gegenueber die
Geschlechter vollstaendig neutralisiert sind und er nicht die
Gemeinschaft der Geschlechter, sondern die Gemeinschaft der Buerger
darstellt. Dass dagegen umgekehrt das Individuum dem Geschlecht
gegenueber in Griechenland weit frueher und vollstaendiger zur
innerlichen Freiheit und eigenartigen Entwicklung gediehen ist als in
Rom, spiegelt sich mit grosser Deutlichkeit in der bei beiden Voelkern
durchaus verschiedenartigen Entwicklung der urspruenglich doch
gleichartigen Eigennamen. In den aelteren griechischen tritt der
Geschlechtsname sehr haeufig adjektivisch zum Individualnamen hinzu,
waehrend umgekehrt noch die roemischen Gelehrten es wussten, dass ihre
Vorfahren urspruenglich nur einen, den spaeteren Vornamen fuehrten.
Aber waehrend in Griechenland der adjektivische Geschlechtsname frueh
verschwindet, wird er bei den Italikern, und zwar nicht bloss bei den
Roemern, zum Hauptnamen, so dass der eigentliche Individualname, das
Praenomen, sich ihm unterordnet. Ja es ist, als sollte die geringe und
immer mehr zusammenschwindende Zahl und die Bedeutungslosigkeit der
italischen, besonders der roemischen Individualnamen, verglichen mit
der ueppigen und poetischen Fuelle der griechischen, uns wie im Bilde
zeigen, wie dort die Nivellierung, hier die freie Entwicklung der
Persoenlichkeit im Wesen der Nation lag.
Ein Zusammenleben in Familiengemeinden unter Stammhaeuptern, wie man es
fuer die graecoitalische Periode sich denken mag, mochte den spaeteren
italischen wie hellenischen Politien ungleich genug sehen, musste aber
dennoch die Anfaenge der beiderseitigen Rechtsbildung notwendig bereits
enthalten. Die “Gesetze des Koenigs Italus”, die noch in Aristoteles’
Zeiten angewendet wurden, moegen diese beiden Nationen wesentlich
gemeinsamen Institutionen bezeichnen. Frieden und Rechtsfolge innerhalb
der Gemeinde, Kriegsstand und Kriegsrecht nach aussen, ein Regiment des
Stammhauptes, ein Rat der Alten, Versammlungen der waffenfaehigen
Freien, eine gewisse Verfassung muessen in denselben enthalten gewesen
sein. Gericht (crimen, κρίνειν), Busse (poena, ποινή), Wiedervergeltung
(talio, ταλάω τλήναι) sind graecoitalische Begriffe. Das strenge
Schuldrecht, nach welchem der Schuldner fuer die Rueckgabe des
Empfangenen zunaechst mit seinem Leibe haftet, ist den Italikern und
zum Beispiel den tarentinischen Herakleoten gemeinsam. Die
Grundgedanken der roemischen Verfassung - Koenigtum, Senat und eine nur
zur Bestaetigung oder Verwerfung der von dem Koenig und dem Senat an
sie gebrachten Antraege befugte Volksversammlung - sind kaum irgendwo
so scharf ausgesprochen wie in Aristoteles’ Bericht ueber die aeltere
Verfassung von Kreta. Die Keime zu groesseren Staatenbuenden in der
staatlichen Verbruederung oder gar der Verschmelzung mehrerer bisher
selbstaendiger Staemme (Symmachie, Synoikismos) sind gleichfalls beiden
Nationen gemein. Es ist auf diese Gemeinsamkeit der Grundlagen
hellenischer und italischer Politie um so mehr Gewicht zu legen, als
dieselbe sich nicht auch auf die uebrigen indogermanischen Staemme mit
erstreckt; wie denn zum Beispiel die deutsche Gemeindeordnung
keineswegs wie die der Griechen und Italiker von dem Wahlkoenigtum
ausgeht. Wie verschieden aber die auf dieser gleichen Basis in Italien
und in Griechenland aufgebauten Politien waren und wie vollstaendig der
ganze Verlauf der politischen Entwicklung jeder der beiden Nationen als
Sondergut angehoert ^9, wird die weitere Erzaehlung darzulegen haben.
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^9 Nur darf man natuerlich nicht vergessen, dass aehnliche
Voraussetzungen ueberall zu aehnlichen Institutionen fuehren. So ist
nichts so sicher, als dass die roemischen Plebejer erst innerhalb des
roemischen Gemeinwesens erwuchsen, und doch finden sie ueberall ihr
Gegenbild, wo neben einer Buerger- eine Insassenschaft sich entwickelt
hat. Dass auch der Zufall hier sein neckendes Spiel treibt, versteht
sich von selbst.
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Nicht anders ist es in der Religion. Wohl liegt in Italien wie in
Hellas dem Volksglauben der gleiche Gemeinschatz symbolischer und
allegorisierter Naturanschauungen zugrunde; auf diesem ruht die
allgemeine Analogie zwischen der roemischen und der griechischen
Goetter- und Geisterwelt, die in spaeteren Entwicklungsstadien so
wichtig werden sollte. Auch in zahlreichen Einzelvorstellungen, in der
schon erwaehnten Gestalt des Zeus-Diovis und der Hestia-Vesta, in dem
Begriff des heiligen Raumes (τέμενος, templum), in manchen Opfern und
Zeremonien, stimmten die beiderseitigen Kulte nicht bloss zufaellig
ueberein. Aber dennoch gestalteten sie sich in Hellas wie in Italien so
vollstaendig national und eigentuemlich, dass selbst von dem alten
Erbgut nur weniges in erkennbarer Weise und auch dieses meistenteils
unverstanden oder missverstanden bewahrt ward. Es konnte nicht anders
sein; denn wie in den Voelkern selbst die grossen Gegensaetze sich
schieden, welche die graecoitalische Periode noch in ihrer
Unmittelbarkeit zusammengehalten hatte, so schied sich auch in ihrer
Religion Begriff und Bild, die bis dahin nur ein Ganzes in der Seele
gewesen waren. Jene alten Bauern mochten, wenn die Wolken am Himmel hin
gejagt wurden, sich das so ausdruecken, dass die Huendin der Goetter
die verscheuchten Kuehe der Herde zusammentreibe; der Grieche vergass
es, dass die Kuehe eigentlich die Wolken waren, und machte aus dem
bloss fuer einzelne Zwecke gestatteten Sohn der Goetterhuendin den zu
allen Diensten bereiten und geschickten Goetterboten. Wenn der Donner
in den Bergen rollte, sah er den Zeus auf dem Olymp die Keile
schwingen; wenn der blaue Himmel wieder auflaechelte, blickte er in das
glaenzende Auge der Tochter des Zeus, Athenaia; und so maechtig lebten
ihm die Gestalten, die er sich geschaffen, dass er bald in ihnen nichts
sah als vom Glanze der Naturkraft strahlende und getragene Menschen und
sie frei nach den Gesetzen der Schoenheit bildete und umbildete. Wohl
anders, aber nicht schwaecher offenbarte sich die innige Religiositaet
des italischen Stammes, der den Begriff festhielt und es nicht litt,
dass die Form ihn verdunkelte. Wie der Grieche, wenn er opfert, die
Augen zum Himmel aufschlaegt, so verhuellt der Roemer sein Haupt; denn
jenes Gebet ist Anschauung und dieses Gedanke. In der ganzen Natur
verehrt er das Geistige und Allgemeine; jedem Wesen, dem Menschen wie
dem Baum, dem Staat wie der Vorratskammer, ist der mit ihm entstandene
und mit ihm vergehende Geist zugegeben, das Nachbild des Physischen im
geistigen Gebiet; dem Mann der maennliche Genius, der Frau die
weibliche Juno, der Grenze der Terminus, dem Wald der Silvanus, dem
kreisenden Jahr der Vertumnus, und also weiter jedem nach seiner Art.
Ja es wird in den Handlungen der einzelne Moment der Taetigkeit
vergeistigt; so wird beispielsweise in der Fuerbitte fuer den Landmann
angerufen der Geist der Brache, des Ackerns, des Furchens, Saeens,
Zudeckens, Eggens und so fort bis zu dem des Einfahrens, Rufspeicherns
und des Oeffnens der Scheuer; und in aehnlicher Weise wird Ehe, Geburt
und jedes andere physische Ereignis mit heiligem Leben ausgestattet. Je
groessere Kreise indes die Abstraktion beschreibt, desto hoeher steigt
der Gott und die Ehrfurcht der Menschen; so sind Jupiter und Juno die
Abstraktionen der Maennlichkeit und der Weiblichkeit, Dea Dia oder
Ceres die schaffende, Minerva die erinnernde Kraft, Dea bona oder, bei
den Samniten, Dea cupra die gute Gottheit. Wie den Griechen alles
konkret und koerperlich erschien, so konnte der Roemer nur abstrakte,
vollkommen durchsichtige Formeln brauchen; und warf der Grieche den
alten Sagenschatz der Urzeit deshalb zum groessten Teil weg, weil in
deren Gestalten der Begriff noch zu durchsichtig war, so konnte der
Roemer ihn noch weniger festhalten, weil ihm die heiligen Gedanken auch
durch den leichtesten Schleier der Allegorie sich zu trueben schienen.
Nicht einmal von den aeltesten und allgemeinsten Mythen, zum Beispiel
der den Indern, Griechen und selbst den Semiten gelaeufigen Erzaehlung
von dem nach einer grossen Flut uebriggebliebenen gemeinsamen
Stammvater des gegenwaertigen Menschengeschlechts, ist bei den Roemern
eine Spur bewahrt worden. Ihre Goetter konnten nicht sich vermaehlen
und Kinder zeugen wie die hellenischen; sie wandelten nicht ungesehen
unter den Sterblichen und bedurften nicht des Nektars. Aber dass sie
dennoch in ihrer Geistigkeit, die nur der platten Auffassung platt
erscheint, die Gemueter maechtig und vielleicht maechtiger fassten als
die nach dem Bilde des Menschen geschaffenen Goetter von Hellas, davon
wuerde, auch wenn die Geschichte schwiege, schon die roemische, dem
Worte wie dem Begriffe nach unhellenische Benennung des Glaubens, die
“Religio”, das heisst die Bindung, zeugen. Wie Indien und Iran aus
einem und demselben Erbschatz jenes die Formenfuelle seiner heiligen
Epen, dieses die Abstraktionen des Zendavesta entwickelte, so herrscht
auch in der griechischen Mythologie die Person, in der roemischen der
Begriff, dort die Freiheit, hier die Notwendigkeit.
Endlich gilt, was von dem Ernst des Lebens, auch von dessen Nachbild in
Scherz und Spiel, welche ja ueberall, und am meisten in der aeltesten
Zeit des vollen und einfachen Daseins, den Ernst nicht ausschliessen,
sondern einhuellen. Die einfachsten Elemente der Kunst sind in Latium
und in Hellas durchaus dieselben: der ehrbare Waffentanz, der “Sprung”
(triumpus, θρίαμβος, δι-θύραμβος); der Mummenschanz der “vollen Leute”
(σάτυροι, satura), die, in Schaf- und Bockfelle gehuellt, mit ihren
Spaessen das Fest beschliessen; endlich das Instrument der Floete, das
den feierlichen wie den lustigen Tanz mit angemessenen Weisen
beherrscht und begleitet. Nirgends vielleicht tritt so deutlich wie
hier die vorzugsweise enge Verwandtschaft der Hellenen und der Italiker
zu Tage; und dennoch ist die Entwicklung der beiden Nationen in keiner
anderen Richtung so weit auseinandergegangen. Die Jugendbildung blieb
in Latium gebannt in die engen Schranken der haeuslichen Erziehung; in
Griechenland schuf der Drang nach mannigfaltiger und doch harmonischer
Bildung des menschlichen Geistes und Koerpers die von der Nation und
von den Einzelnen als ihr bestes Gut gepflegten Wissenschaften der
Gymnastik und der Paedeia. Latium steht in der Duerftigkeit seiner
kuenstlerischen Entwicklung fast auf der Stufe der kulturlosen Voelker;
in Hellas ist mit unglaublicher Raschheit aus den religioesen
Vorstellungen der Mythos und die Kulturfigur und aus diesen jene
Wunderwelt der Poesie und der Bildnerei erwachsen, derengleichen die
Geschichte nicht wieder aufzuzeigen hat. In Latium gibt es im
oeffentlichen wie im Privatleben keine anderen Maechte als Klugheit,
Reichtum und Kraft; den Hellenen war es vorbehalten, die beseligende
Uebermacht der Schoenheit zu empfinden, in sinnlich idealer
Schwaermerei dem schoenen Knabenfreunde zu dienen und den verlorenen
Mut in den Schlachtliedern des goettlichen Saengers wiederzufinden.
So stehen die beiden Nationen, in denen das Altertum sein Hoechstes
erreicht hat, ebenso verschieden wie ebenbuertig nebeneinander. Die
Vorzuege der Hellenen vor den Italikern sind von allgemeinerer
Fasslichkeit und von hellerem Nachglanz; aber das tiefe Gefuehl des
Allgemeinen im Besondern, die Hingebung und Aufopferungsfaehigkeit des
Einzelnen, der ernste Glaube an die eigenen Goetter ist der reiche
Schatz der italischen Nation. Beide Voelker haben sich einseitig
entwickelt und darum beide vollkommen; nur engherzige Armseligkeit wird
den Athener schmaehen, weil er seine Gemeinde nicht zu gestalten
verstand wie die Fabier und Valerier, oder den Roemer, weil er nicht
bilden lernte wie Pheidias und dichten wie Aristophanes. Es war eben
das Beste und Eigenste des griechischen Volkes, was es ihm unmoeglich
machte, von der nationalen Einheit zur politischen fortzuschreiten,
ohne doch die Politie zugleich mit der Despotie zu vertauschen. Die
ideale Welt der Schoenheit war den Hellenen alles und ersetzte ihnen
selbst bis zu einem gewissen Grade, was in der Realitaet ihnen abging;
wo immer in Hellas ein Ansatz zu nationaler Einigung hervortritt,
beruht dieser nicht auf den unmittelbar politischen Faktoren, sondern
auf Spiel und Kunst: nur die olympischen Wettkaempfe, nur die
Homerischen Gesaenge, nur die Euripideische Tragoedie hielten Hellas in
sich zusammen. Entschlossen gab dagegen der Italiker die Willkuer hin
um der Freiheit willen und lernte dem Vater gehorchen, damit er dem
Staate zu gehorchen verstaende. Mochte der Einzelne bei dieser
Untertaenigkeit verderben und der schoenste menschliche Keim darueber
verkuemmern; er gewann dafuer ein Vaterland und ein Vaterlandsgefuehl,
wie der Grieche es nie gekannt hat, und errang allein unter allen
Kulturvoelkern des Altertums bei einer auf Selbstregiment ruhenden
Verfassung die nationale Einheit, die ihm endlich ueber den
zersplitterten hellenischen Stamm und ueber den ganzen Erdkreis die
Botmaessigkeit in die Hand legte.
KAPITEL III.
Die Ansiedelungen der Latiner
Die Heimat des indogermanischen Stammes ist der westliche Teil
Mittelasiens; von dort aus hat er sich teils in suedoestlicher Richtung
ueber Indien, teils in nordwestlicher ueber Europa ausgebreitet.
Genauer den Ursitz der Indogermanen zu bestimmen, ist schwierig;
jedenfalls muss er im Binnenlande und von der See entfernt gewesen
sein, da keine Benennung des Meeres dem asiatischen und dem
europaeischen Zweige gemeinsam ist. Manche Spuren weisen naeher in die
Euphratlandschaften, so dass merkwuerdigerweise die Urheimat der beiden
wichtigsten Kulturstaemme, des indogermanischen und des aramaeischen,
raeumlich fast zusammenfaellt - eine Unterstuetzung fuer die Annahme
einer allerdings fast jenseits aller verfolgbaren Kultur- und
Sprachentwicklung liegenden Gemeinschaft auch dieser Voelker. Eine
engere Lokalisierung ist ebensowenig moeglich, als es moeglich ist, die
einzelnen Staemme auf ihren weiteren Wanderungen zu begleiten. Der
europaeische mag noch nach dem Ausscheiden der Inder laengere Zeit in
Persien und Armenien verweilt haben; denn allem Anschein nach ist hier
die Wiege des Acker- und Weinbaus. Gerste, Spelt und Weizen sind in
Mesopotamien, der Weinstock suedlich vom Kaukasus und vom Kaspischen
Meer einheimisch; ebenda sind der Pflaumen- und der Nussbaum und andere
der leichter zu verpflanzenden Fruchtbaeume zu Hause. Bemerkenswert ist
es auch, dass den meisten europaeischen Staemmen, den Lateinern,
Kelten, Deutschen und Slawen der Name des Meeres gemeinsam ist; sie
muessen also wohl vor ihrer Scheidung die Kueste des Schwarzen oder
auch des Kaspischen Meeres erreicht haben. Auf welchem Wege von dort
die Italiker an die Alpenkette gelangt sind und wo namentlich sie,
allein noch mit den Hellenen vereinigt, gesiedelt haben moegen, laesst
sich nur beantworten, wenn es entschieden ist, auf welchem Wege, ob von
Kleinasien oder vom Donaugebiet aus, die Hellenen nach Griechenland
gelangt sind. Dass die Italiker eben wie die Inder von Norden her in
ihre Halbinsel eingewandert sind, darf auf jeden Fall als ausgemacht
gelten. Der Zug des umbrisch-sabellischen Stammes auf dem mittleren
Bergruecken Italiens in der Richtung von Norden nach Sueden laesst sich
noch deutlich verfolgen; ja die letzten Phasen desselben gehoeren der
vollkommen historischen Zeit an. Weniger kenntlich ist der Weg, den die
latinische Wanderung einschlug. Vermutlich zog sie in aehnlicher
Richtung an der Westkueste entlang, wohl lange bevor die ersten
sabellischen Staemme aufbrachen; der Strom ueberflutet die Hoehen erst,
wenn die Niederungen schon eingenommen sind, und nur, wenn die
latinischen Staemme schon vorher an der Kueste sassen, erklaert es
sich, dass die Sabeller sich mit den rauheren Gebirgen begnuegten und
erst von diesen aus, wo es anging, sich zwischen die latinischen
Voelker draengten.
Dass vom linken Ufer des Tiber bis an die volskischen Berge ein
latinischer Stamm wohnte, ist allbekannt; diese Berge selbst aber,
welche bei der ersten Einwanderung, als noch die Ebenen von Latium und
Kampanien offenstanden, verschmaeht worden zu sein scheinen, waren, wie
die volskischen Inschriften zeigen, von einem den Sabellern naeher als
den Latinern verwandten Stamm besetzt. Dagegen wohnten in Kampanien vor
der griechischen und samnitischen Einwanderung wahrscheinlich Latiner;
denn die italischen Namen Novla oder Nola (Neustadt), Campani Capua,
Volturnus (von volvere wie Iuturna von iuvare), Opsci (Arbeiter) sind
nachweislich aelter als der samnitische Einfall und beweisen, dass, als
Kyme von den Griechen gegruendet ward, ein italischer und
wahrscheinlich latinischer Stamm, die Ausōner, Kampanien innehatten.
Auch die Urbewohner der spaeter von den Lucanern und Brettiern
bewohnten Landschaften, die eigentlichen Itali (Bewohner des
Rinderlandes), werden von den besten Beobachtern nicht zu dem
iapygischen, sondern zu dem italischen Stamm gestellt; es ist nichts im
Wege, sie dem latinischen Stamm beizuzaehlen, obwohl die noch vor dem
Beginn der staatlichen Entwicklung Italiens erfolgte Hellenisierung
dieser Gegenden und deren spaetere Ueberflutung durch samnitische
Schwaerme die Spuren der aelteren Nationalitaet hier gaenzlich
verwischt hat. Auch den gleichfalls verschollenen Stamm der Siculer
setzten sehr alte Sagen in Beziehung zu Rom; so erzaehlt der aelteste
italische Geschichtschreiber Antiochos von Syrakus, dass zum Koenig
Morges von Italia (d. h. der Brettischen Halbinsel) ein Mann Namens
Sikelos auf fluechtigem Fuss aus Rom gekommen sei; und es scheinen
diese Erzaehlungen zu beruhen auf der von den Berichterstattern
wahrgenommenen Stammesgleichheit der Siculer, deren es noch zu
Thukydides’ Zeit in Italien gab, und der Latiner. Die auffallende
Verwandtschaft einzelner Dialektwoerter des sizilischen Griechisch mit
dem Lateinischen erklaert sich zwar wohl nicht aus der alten
Sprachgleichheit der Siculer und Roemer, sondern vielmehr aus den alten
Handelsverbindungen zwischen Rom und den sizilischen Griechen; nach
allen Spuren indes sind nicht bloss die latinische, sondern
wahrscheinlich auch die kampanische und lucanische Landschaft, das
eigentliche Italia zwischen den Buchten von Tarent und Laos und die
oestliche Haelfte von Sizilien, in uralter Zeit von verschiedenen
Staemmen der latinischen Nation bewohnt gewesen.
Die Schicksale dieser Staemme waren sehr ungleich. Die in Sizilien,
Grossgriechenland und Kampanien angesiedelten kamen mit den Griechen in
Beruehrung in einer Epoche, wo sie deren Zivilisation Widerstand zu
leisten nicht vermochten, und wurden entweder voellig hellenisiert, wie
namentlich in Sizilien, oder doch so geschwaecht, dass sie der frischen
Kraft der sabinischen Staemme ohne sonderliche Gegenwehr unterlagen. So
sind die Siculer, die Italer und Morgeten, die Ausōner nicht dazu
gekommen, eine taetige Rolle in der Geschichte der Halbinsel zu
spielen.
Anders war es in Latium, wo griechische Kolonien nicht gegruendet
worden sind und es den Einwohnern nach harten Kaempfen gelang, sich
gegen die Sabiner wie gegen die noerdlichen Nachbarn zu behaupten.
Werfen wir einen Blick auf die Landschaft, die wie keine andere in die
Geschicke der alten Welt einzugreifen bestimmt war.
Schon in uraeltester Zeit ist die Ebene von Latium der Schauplatz der
grossartigsten Naturkaempfe gewesen, in denen die langsam bildende
Kraft des Wassers und die Ausbrueche gewaltiger Vulkane Schicht ueber
Schicht schoben desjenigen Bodens, auf dem entschieden werden sollte,
welchem Volk die Herrschaft der Erde gehoere. Eingeschlossen im Osten
von den Bergen der Sabiner und Aequer, die dem Apennin angehoeren; im
Sueden von dem bis zu 4000 Fuss Hoehe ansteigenden volskischen Gebirg,
welches von dem Hauptstock des Apennin durch das alte Gebiet der
Herniker, die Hochebene des Sacco (Trerus, Nebenfluss des Liris),
getrennt ist und von dieser aus sich westlich ziehend mit dem Vorgebirg
von Terracina abschliesst; im Westen von dem Meer, das an diesem
Gestade nur wenige und geringe Haefen bildet; im Norden in das weite
etruskische Huegelland sich verlaufend, breitet eine stattliche Ebene
sich aus, durchflossen von dem Tiberis, dem “Bergstrom”, der aus den
umbrischen, und dem Anio, der von den sabinischen Bergen herkommt.
Inselartig steigen in der Flaeche auf teils die steilen Kalkfelsen des
Soracte im Nordosten, des circeischen Vorgebirgs im Suedwesten, sowie
die aehnliche, obwohl niedrigere Hoehe des Ianiculum bei Rom; teils
vulkanische Erhebungen, deren erloschene Krater zu Seen geworden und
zum Teil es noch sind: die bedeutendste unter diesen ist das Albaner
Gebirge, das nach allen Seiten frei zwischen den Volskergebirgen und
dem Tiberfluss aus der Ebene emporragt.
Hier siedelte der Stamm sich an, den die Geschichte kennt unter dem
Namen der Latiner, oder, wie sie spaeter zur Unterscheidung von den
ausserhalb dieses Bereichs gegruendeten latinischen Gemeinden genannt
werden, der “alten Latiner” (prisci Latini). Allein das von ihnen
besetzte Gebiet, die Landschaft Latium, ist nur ein kleiner Teil jener
mittelitalischen Ebene. Alles Land noerdlich des Tiber ist den Latinern
ein fremdes, ja sogar ein feindliches Gebiet, mit dessen Bewohnern ein
ewiges Buendnis, ein Landfriede nicht moeglich war und die Waffenruhe
stets auf beschraenkte Zeit abgeschlossen worden zu sein scheint. Die
Tibergrenze gegen Norden ist uralt, und weder die Geschichte noch die
bessere Sage hat eine Erinnerung davon bewahrt, wie und wann diese
folgenreiche Abgrenzung sich festgestellt hat. Die flachen und
sumpfigen Strecken suedlich vom Albaner Gebirge finden wir, wo unsere
Geschichte beginnt, in den Haenden umbrisch-sabellischer Staemme, der
Rutuler und Volsker; schon Ardea und Velitrae sind nicht mehr
urspruenglich latinische Staedte. Nur der mittlere Teil jenes Gebietes
zwischen dem Tiber, den Vorbergen des Apennin, den Albaner Bergen und
dem Meer, ein Gebiet von etwa 34 deutschen Quadratmeilen, wenig
groesser als der jetzige Kanton Zuerich, ist das eigentliche Latium,
die “Ebene” ^1, wie sie von den Hoehen des Monte Cavo dem Auge sich
darstellt. Die Landschaft ist eben, aber nicht flach, mit Ausnahme des
sandigen und zum Teil vom Tiber aufgeschwemmten Meeresstrandes wird
ueberall die Flaeche unterbrochen durch maessig hohe, oft ziemlich
steile Tuffhuegel und tiefe Erdspalten, und diese stets wechselnden
Steigungen und Senkungen des Bodens bilden zwischen sich im Winter jene
Lachen, deren Verdunsten in der Sommerhitze, namentlich wegen der darin
faulenden organischen Substanzen, die boese fieberschwangere Luft
entwickelt, welche in alter wie in neuer Zeit im Sommer die Landschaft
verpestet. Es ist ein Irrtum, dass diese Miasmen erst durch den Verfall
des Ackerbaues entstanden seien, wie ihn das Missregiment des letzten
Jahrhunderts der Republik und das der Paepste herbeigefuehrt haben;
ihre Ursache liegt vielmehr in dem mangelnden Gefaell des Wassers und
wirkt noch heute wie vor Jahrtausenden. Wahr ist es indes, dass bis auf
einen gewissen Grad die boese Luft sich bannen laesst durch die
Intensitaet der Bodenkultur; wovon die Ursache noch nicht vollstaendig
ermittelt ist, zum Teil aber darin liegen wird, dass die Bearbeitung
der Oberflaeche das Austrocknen der stehenden Waesser beschleunigt.
Immer bleibt die Entstehung einer dichten ackerbauenden Bevoelkerung in
Gegenden, die jetzt keine gesunden Bewohner gedeihen lassen und in
denen der Reisende nicht gern die Nacht verweilt, wie die latinische
Ebene und die Niederungen von Sybaris und Metapont sind, eine fuer uns
befremdliche Tatsache. Man muss sich erinnern, dass auf einer niedrigen
Kulturstufe das Volk ueberhaupt einen schaerferen Blick hat fuer das,
was die Natur erheischt, und eine groessere Fuegsamkeit gegen ihre
Gebote, vielleicht auch physisch ein elastischeres Wesen, das dem Boden
sich inniger anschmiegt. In Sardinien wird unter ganz aehnlichen
natuerlichen Verhaeltnissen der Ackerbau noch heutzutage betrieben; die
boese Luft ist wohl vorhanden, allein der Bauer entzieht sich ihren
Einfluessen durch Vorsicht in Kleidung, Nahrung und Wahl der
Tagesstunden. In der Tat schuetzt vor der Aria cattiva nichts so sicher
als das Tragen der Tiervliesse und das lodernde Feuer; woraus sich
erklaert, weshalb der roemische Landmann bestaendig in schwere
Wollstoffe gekleidet ging und das Feuer auf seinem Herd nicht
erloeschen liess. Im uebrigen musste die Landschaft einem einwandernden
ackerbauenden Volke einladend erscheinen; der Boden ist leicht mit
Hacke und Karst zu bearbeiten und auch ohne Duengung ertragsfaehig,
ohne nach italienischem Massstab auffallend ergiebig zu sein; der
Weizen gibt durchschnittlich etwa das fuenfte Korn ^2. An gutem Wasser
ist kein Ueberfluss; um so hoeher und heiliger hielt die Bevoelkerung
jede frische Quelle.
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^1 Wie latus (Seite) und πλατύς (platt); es ist also das Plattland im
Gegensatz zu der sabinischen Berglandschaft, wie Campania die “Ebene”
den Gegensatz bildet zu Samnium. Lātus, ehemals stlātus gehoert nicht
hierher.
^2 Ein franzoesischer Statistiker, Dureau de la Malle (Economie
politique des Romains. Bd. 2, S. 226), vergleicht mit der roemischen
Campagna die Limagne in Auvergne, gleichfalls eine weite, sehr
durchschnittene und ungleiche Ebene, mit einer Bodenoberflaeche aus
dekomponierter Lava und Asche den Resten ausgebrannter Vulkane. Die
Bevoelkerung, mindestens 2500 Menschen auf die Quadratlieue, ist eine
der staerksten, die in rein ackerbauenden Gegenden vorkommt, das
Eigentum ungemein zerstueckelt. Der Ackerbau wird fast ganz von
Menschenhand beschafft, mit Spaten, Karst oder Hacke; nur ausnahmsweise
tritt dafuer der leichte Pflug ein der mit zwei Kuehen bespannt ist und
nicht selten spannt an der Stelle der einen sich die Frau des
Ackermanns ein. Das Gespann dient zugleich um Milch zu gewinnen und das
Land zu bestehen. Man erntet zweimal im Jahre, Korn und Kraut; Brache
kommt nicht vor. Der mittlere Pachtzins fuer einen Arpent Ackerland ist
100 Franken jaehrlich. Wuerde dasselbe Land statt dessen unter sechs
oder sieben grosse Grundbesitzer verteilt werden wuerden Verwalter- und
Tageloehnerwirtschaft an die Stelle des Bewirtschaftens durch kleine
Grundeigentuemer treten, so wuerde in hundert Jahren ohne Zweifel die
Limagne oede, verlassen und elend sein wie heutzutage die Campagna di
Roma.
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Es ist kein Bericht darueber erhalten, wie die Ansiedlungen der Latiner
in der Landschaft, welche seitdem ihren Namen trug, erfolgt sind, und
wir sind darueber fast allein auf Rueckschluesse angewiesen. Einiges
indes laesst sich dennoch erkennen oder mit Wahrscheinlichkeit
vermuten.
Die roemische Mark zerfiel in aeltester Zeit in eine Anzahl
Geschlechterbezirke, welche spaeterhin benutzt wurden, um dar aus die
aeltesten “Landquartiere” (tribus rusticae) zu bilden. Von dem
Claudischen Quartier ist es ueberliefert, dass es aus der Ansiedlung
der Claudischen Geschlechtsgenossen am Anio erwuchs; und dasselbe geht
ebenso sicher fuer die uebrigen Distrikte der aeltesten Einteilung
hervor aus ihren Namen. Diese sind nicht, wie die der spaeter
hinzugefuegten Distrikte, von Oertlichkeiten entlehnt, sondern ohne
Ausnahme von Geschlechternamen gebildet; und es sind die Geschlechter,
die den Quartieren der urspruenglichen roemischen Mark die Namen gaben,
soweit sie nicht gaenzlich verschollen sind (wie die Camilii, Galerii,
Lemonii, Pollii, Pupinii, Voltinii), durchaus die aeltesten roemischen
Patrizierfamilien, die Aemilii, Cornelii, Fabii, Horatii, Menenii,
Papirii, Romilii, Sergii, Voturii. Bemerkenswert ist es, dass unter all
diesen Geschlechtern kein einziges erscheint, das nachweislich erst
spaeter nach Rom uebergesiedelt waere. Aehnlich wie der roemische, wird
jeder italische und ohne Zweifel auch jeder hellenische Gau von Haus
aus in eine Anzahl zugleich oertlich und geschlechtlich vereinigter
Genossenschaften zerfallen sein; es ist diese Geschlechtsansiedlung das
“Haus” (οικία) der Griechen, aus dem, wie in Rom die Tribus, auch dort
sehr haeufig die Komen oder Demen hervorgegangen sind. Die
entsprechenden italischen Benennungen “Haus” (vicus) oder “Bezirk”
(pagus von pangere) deuten gleichfalls das Zusammensiedeln der
Geschlechtsgenossen an und gehen im Sprachgebrauch begreiflicherweise
ueber in die Bedeutung Weiler oder Dorf. Wie zu dem Hause ein Acker, so
gehoert zu dem Geschlechtshaus oder Dorf eine Geschlechtsmark, die
aber, wie spaeter zu zeigen sein wird, bis in verhaeltnismaessig spaete
Zeit noch gleichsam als Hausmark, das heisst nach dem System der
Feldgemeinschaft bestellt wurde. Ob die Geschlechtshaeuser in Latium
selbst sich zu Geschlechtsdoerfern entwickelt haben oder ob die Latiner
schon als Geschlechtsgenossenschaften in Latium eingewandert sind, ist
eine Frage, auf die wir ebenso wenig eine Antwort haben, als wir zu
bestimmen vermoegen, in welcher Weise die Gesamtwirtschaft, welche
durch eine derartige Ordnung gefordert wird, sich in Latium gestaltet
hat ^3, in wie weit das Geschlecht neben der Abstammung noch auf
aeusserlicher Ein- und Zusammenordnung nicht blutsverwandter Individuen
mit beruhen mag.
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^3 In Slawonien, wo die patriarchalische Haushaltung bis auf den
heutigen Tag festgehalten wird, bleibt die ganze Familie, oft bis zu
fuenfzig, ja hundert Koepfen stark, unter den Befehlen des von der
ganzen Familie auf Lebenszeit gewaehlten Hausvaters (Goszpodár) in
demselben Hause beisammen. Das Vermoegen des Hauses, das hauptsaechlich
in Vieh besteht, verwaltet der Hausvater; der Ueberschuss wird nach
Familienstaemmen verteilt. Privaterwerb durch Industrie und Handel
bleibt Sondereigentum. Austritte aus dem Hause, auch der Maenner, z. B.
durch Einheiraten in eine fremde Wirtschaft, kommen vor (Csaplovics,
Slawonien und Kroatien. Pest 1839. Bd. 1, S. 106, 179). Bei derartigen
Verhaeltnissen, die von den aeltesten roemischen sich nicht allzuweit
entfernen moegen, naehert das Haus sich der Gemeinde.
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Von Haus aus aber galten diese Geschlechtsgenossenschaften nicht als
selbstaendige Einheiten, sondern als die integrierenden Teile einer
politischen Gemeinde (civitas, populus), welche zunaechst auftritt als
ein zu gegenseitiger Rechtsfolge und Rechtshilfe und zu
Gemeinschaftlichkeit in Abwehr und Angriff verpflichteter Inbegriff
einer Anzahl stamm-, sprach- und sittengleicher Geschlechtsdoerfer. An
einem festen oertlichen Mittelpunkt konnte es diesem Gau so wenig
fehlen wie der Geschlechtsgenossenschaft; da indes die Geschlechts-,
das heisst die Gaugenossen in ihren Doerfern wohnten, so konnte der
Mittelpunkt des Gaues nicht eine eigentliche Zusammensiedlung, eine
Stadt, sondern nur eine gemeine Versammlungsstaette sein, welche die
Dingstaette und die gemeinen Heiligtuemer des Gaues in sich schloss, wo
die Gaugenossen an jedem achten Tag des Verkehrs wie des Vergnuegens
wegen sich zusammenfanden und wo sie im Kriegsfall sich und ihr Vieh
vor dem einfallenden Feind sicherer bargen als in den Weilern, die aber
uebrigens regelmaessig nicht oder schwach bewohnt war. Ganz aehnliche
alte Zufluchtsstaetten sind noch heutzutage in dem Huegellande der
Ostschweiz auf mehreren Bergspitzen zu erkennen. Ein solcher Platz
heisst in Italien “Hoehe” (capitolium, wie άκρα, das Berghaupt) oder
“Wehr” (arx von arcere); er ist noch keine Stadt, aber die Grundlage
einer kuenftigen, indem die Haeuser an die Burg sich anschliessen und
spaeterhin sich umgeben mit dem “Ringe” (urbs mit urvus, curvus,
vielleicht auch mit orbis verwandt). Den aeusserlichen Unterschied
zwischen Burg und Stadt gibt die Anzahl der Tore, deren die Burg
moeglichst wenige, die Stadt moeglichst viele, jene in der Regel nur
ein einziges, diese mindestens drei hat. Auf diesen Befestigungen ruht
die vorstaedtische Gauverfassung Italiens, welche in denjenigen
italischen Landschaften, die zum staedtischen Zusammensiedeln erst
spaet und zum Teil noch bis auf den heutigen Tag nicht vollstaendig
gelangt sind, wie im Marserland und in den kleinen Gauen der Abruzzen,
noch einigermassen sich erkennen laesst. Die Landschaft der Aequiculer,
die noch in der Kaiserzeit nicht in Staedten, sondern in unzaehligen
offenen Weilern wohnten, zeigt eine Menge altertuemlicher Mauerringe,
die als “veroedete Staedte” mit einzelnen Tempeln das Staunen der
roemischen wie der heutigen Archaeologen erregten, von denen jene ihre
“Urbewohner” (aborigines), diese ihre Pelasger hier unterbringen zu
koennen meinten. Gewiss richtiger wird man in diesen Anlagen nicht
ummauerte Staedte erkennen, sondern Zufluchtsstaetten der Markgenossen,
wie sie in aelterer Zeit ohne Zweifel in ganz Italien, wenngleich in
weniger kunstvoller Weise angelegt, bestanden. Dass in derselben
Epoche, wo die zu staedtischen Ansiedlungen uebergegangenen Staemme
ihren Staedten steinerne Ringmauern gaben, auch diejenigen
Landschaften, die in offenen Weilern zu wohnen fortfuhren, die
Erdwaelle und Pfahlwerke ihrer Festungen durch Steinbauten ersetzten,
ist natuerlich; als dann in der Zeit des gesicherten Landfriedens man
solcher Festungen nicht mehr bedurfte, wurden diese Zufluchtsstaetten
verlassen und bald den spaeteren Generationen ein Raetsel.
Jene Gaue also, die in einer Burg ihren Mittelpunkt fanden und eine
gewisse Anzahl Geschlechtsgenossenschaften in sich begriffen, sind als
die urspruenglichen staatlichen Einheiten der Ausgangspunkt der
italischen Geschichte. Indes wo und in welchem Umfang innerhalb Latiums
dergleichen Gaue sich bildeten, ist weder mit Bestimmtheit auszumachen
noch von besonderem historischen Interesse. Das isolierte Albaner
Gebirge, das den Ansiedlern die gesundeste Luft, die frischesten
Quellen und die am meisten gesicherte Lage darbot, diese natuerliche
Burg Latiums, ist ohne Zweifel von den Ankoemmlingen zuerst besetzt
worden. Hier lag denn auch auf der schmalen Hochflaeche oberhalb
Palazzuola zwischen dem Albanischen See (Lago di Castello) und dem
Albanischen Berg (Monte Cavo) lang hingestreckt Alba, das durchaus als
Ursitz des latinischen Stammes und Mutterort Roms sowie aller uebrigen
altlatinischen Gemeinden galt; hier an den Abhaengen die uralten
latinischen Ortschaften Lanuvium, Aricia und Tusculum. Hier finden sich
auch von jenen uralten Bauwerken, welche die Anfaenge der Zivilisation
zu bezeichnen pflegen und gleichsam der Nachwelt zum Zeugnis dastehen
davon, dass Pallas Athene in der Tat, wenn sie erscheint, erwachsen in
die Welt tritt: so die Abschroffung der Felswand unterhalb Alba nach
Palazzuola zu, welche den durch die steilen Abhaenge des Monte Cavo
nach Sueden zu von Natur unzugaenglichen Ort von Norden her ebenso
unnahbar macht und nur die beiden schmalen, leicht zu verteidigenden
Zugaenge von Osten und Westen her fuer den Verkehr frei laesst; und vor
allem der gewaltige, in die harte, sechstausend Fuss maechtige Lavawand
mannshoch gebrochene Stollen, durch welchen der in dem alten Krater des
Albaner Gebirges entstandene See bis auf seine jetzige Tiefe abgelassen
und fuer den Ackerbau auf dem Berge selbst ein bedeutender Raum
gewonnen worden ist.
Natuerliche Festen der latinischen Ebene sind auch die Spitzen der
letzten Auslaeufer der Sabinergebirge, wo aus solchen Gauburgen spaeter
die ansehnlichen Staedte Tibur und Praeneste hervorgingen. Auch Labici,
Gabii und Nomentum in der Ebene zwischen dem Albaner und Sabinergebirge
und dem Tiber; Rom am Tiber, Laurentum und Lavinium an der Kueste sind
mehr oder minder alte Mittelpunkte latinischer Kolonisation, um von
zahlreichen andern, minder namhaften und zum Teil fast verschollenen zu
schweigen. Alle diese Gaue waren in aeltester Zeit politisch souveraen
und wurden ein jeder von seinem Fuersten unter Mitwirkung des Rates der
Alten und der Versammlung der Wehrmaenner regiert. Aber dennoch ging
nicht bloss das Gefuehl der Sprach- und Stammgenossenschaft durch
diesen ganzen Kreis, sondern es offenbarte sich dasselbe auch in einer
wichtigen religioesen und staatlichen Institution, in dem ewigen Bunde
der saemtlichen latinischen Gaue. Die Vorstandschaft stand
urspruenglich nach allgemeinem italischen wie hellenischen Gebrauch
demjenigen Gau zu, in dessen Grenzen die Bundesstaetten lagen; es war
dies der Gau von Alba, der ueberhaupt, wie gesagt; als der aelteste und
vornehmste der latinischen betrachtet ward. Der berechtigten Gemeinden
waren anfaenglich dreissig, wie denn diese Zahl als Summe der Teile
eines Gemeinwesens in Griechenland wie in Italien ungemein haeufig
begegnet. Welche Ortschaften zu den dreissig altlatinischen Gemeinden
oder, wie sie in Beziehung auf die Metropolrechte Albas auch wohl
genannt werden, zu den dreissig albanischen Kolonien urspruenglich
gezaehlt worden sind, ist nicht ueberliefert und nicht mehr
auszumachen. Wie bei den aehnlichen Eidgenossenschaften zum Beispiel
der Boeoter und der Ionier die Pamboeotien und Panionien, war der
Mittelpunkt dieser Vereinigung das “latinische Fest” (feriae Latinae),
an welchem auf dem “Berg von Alba” (mons Albanus, Monte Cavo) an einem
alljaehrlich von dem Vorstand dafuer fest gesetzten Tage dem
“latinischen Gott” (Iuppiter Latiaris) von dem gesamten Stamm ein
Stieropfer dargebracht ward. Zu dem Opferschmaus hatte jede
teilnehmende Gemeinde nach festem Satz ein Gewisses an Vieh, Milch und
Kaese zu liefern und dagegen von dem Opferbraten ein Stueck zu
empfangen. Diese Gebraeuche dauerten fort bis in die spaete Zeit und
sind wohlbekannt; ueber die wichtigeren rechtlichen Wirkungen dieser
Verbindung dagegen vermoegen wir fast nur Mutmassungen aufzustellen.
Seit aeltester Zeit schlossen sich an das religioese Fest auf dem Berg
von Alba auch Versammlungen der Vertreter der einzelnen Gemeinden auf
der benachbarten latinischen Dingstaette am Quell der Ferentina (bei
Marino); und ueberhaupt kann eine solche Eidgenossenschaft nicht
gedacht werden ohne eine gewisse Oberverwaltung des Bundes und eine
fuer die ganze Landschaft gueltige Rechtsordnung. Dass dem Bunde wegen
Verletzung des Bundesrechts eine Gerichtsbarkeit zustand und in diesem
Fall selbst auf den Tod erkannt werden konnte, ist ueberliefert und
glaublich. Auch die spaetere Rechts- und eine gewisse Ehegemeinschaft
der latinischen Gemeinden darf wohl schon als integrierender Teil des
aeltesten Bundesrechts gedacht werden, so dass also der Latiner mit der
Latinerin rechte Kinder erzielen und in ganz Latium Grundbesitz
erwerben und Handel und Wandel treiben konnte. Der Bund mag ferner fuer
die Streitigkeiten der Gaue untereinander ein Schieds- und
Bundesgericht angeordnet haben; dagegen laesst sich eine eigentliche
Beschraenkung des souveraenen Rechts jeder Gemeinde ueber Krieg und
Frieden durch den Bund nicht nachweisen. Ebenso leidet es keinen
Zweifel, dass mit der Bundesverfassung die Moeglichkeit gegeben war,
einen Bundeskrieg abwehrend und selbst angreifend zu fuehren, wobei
denn ein Bundesfeldherr, ein Herzog, natuerlich nicht fehlen konnte.
Aber wir haben keinen Grund anzunehmen, dass in diesem Fall jede
Gemeinde rechtlich gezwungen war, Heeresfolge zu leisten, oder dass es
ihr umgekehrt verwehrt war, auf eigene Hand einen Krieg selbst gegen
ein Bundesmitglied zu beginnen. Dagegen finden sich Spuren, dass
waehrend der latinischen Feier, aehnlich wie waehrend der hellenischen
Bundesfeste, ein Gottesfriede in ganz Latium galt ^4 und wahrscheinlich
in dieser Zeit auch die verfehdeten Staemme einander sicheres Geleit
zugestanden. Noch weniger ist es moeglich, den Umfang der Vorrechte des
fuehrenden Gaues zu bestimmen; nur soviel laesst sich sagen, dass keine
Ursache vorhanden ist, in der albanischen Vorstandschaft eine wahre
politische Hegemonie ueber Latium zu erkennen und dass moeglicher-, ja
wahrscheinlicherweise dieselbe nicht mehr in Latium zu bedeuten hatte
als die elische Ehrenvorstandschaft in Griechenland ^5. Ueberhaupt war
der Umfang wie der Rechtsinhalt dieses latinischen Bundes vermutlich
lose und wandelbar; doch war und blieb er nicht ein zufaelliges
Aggregat verschiedener, mehr oder minder einander fremder Gemeinden,
sondern der rechtliche und notwendige Ausdruck des latinischen Stammes.
Wenn der latinische Bund nicht zu allen Zeiten alle latinische
Gemeinden umfasst haben mag, so hat er doch zu keiner Zeit einer nicht
latinischen die Mitgliedschaft gewaehrt - sein Gegenbild in
Griechenland ist nicht die delphische Amphiktyonie, sondern die
boeotische oder aetolische Eidgenossenschaft.
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^4 Das latinische Fest wird geradezu Waffenstillstand” (indutiae Macr.
Sat. 1, 16; εκεχερίαι Dion. Hal. 4, 49) genannt, und es war nicht
erlaubt, waehrend desselben einen Krieg zu beginnen (Macr. a.a.O.).
^5 Die oft in alter und neuer Zeit aufgestellte Behauptung, dass Alba
einstmals in den Formen der Symmachie ueber Latium geherrscht habe,
findet bei genauerer Untersuchung nirgends ausreichende Unterstuetzung.
Alle Geschichte geht nicht von der Einigung, sondern von der
Zersplitterung der Nation aus, und es ist sehr wenig wahrscheinlich,
dass das Problem, das Rom nach manchem durchkaempften Jahrhundert
endlich loeste, die Einigung Latiums, schon vorher einmal durch Alba
geloest worden sei. Auch ist es bemerkenswert, dass Rom niemals als
Erbin Albas eigentliche Herrschaftsansprueche gegen die latinischen
Gemeinden geltend gemacht, sondern mit einer Ehrenvorstandschaft sich
begnuegt hat, die freilich, als sie mit der materiellen Macht sich
vereinigte, fuer die hegemonischen Ansprueche Roms eine Handhabe
gewaehrte. Von eigentlichen Zeugnissen kann bei einer Frage, wie diese
ist, ueberall kaum die Rede sein; und am wenigsten reichen Stellen wie
Fest. v. praetor p. 241 und Dion. Hal. 3, 10 aus, um Alba zum
latinischen Athen zu stempeln.
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Diese allgemeinen Umrisse muessen genuegen; ein jeder Versuch, die
Linien schaerfer zu ziehen, wuerde das Bild nur verfaelschen. Das
mannigfache Spiel, wie die aeltesten politischen Atome, die Gaue, sich
in Latium gesucht und geflohen haben moegen, ist ohne berichtfaehige
Zeugen voruebergegangen, und es muss genuegen, das Eine und Bleibende
darin festzuhalten, dass sie in einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt
zwar nicht ihre Einheitlichkeit aufgaben, aber doch das Gefuehl der
nationalen Zusammengehoerigkeit hegten und steigerten und damit den
Fortschritt vorbereiteten von dem kantonalen Partikularismus, mit dem
jede Volksgeschichte anhebt und anheben mass, zu der nationalen
Einigung, mit der jede Volksgeschichte endigt oder doch endigen sollte.
KAPITEL IV.
Die Anfänge Roms
Etwa drei deutsche Meilen von der Muendung des Tiberflusses
stromaufwaerts erheben sich an beiden Ufern desselben maessige Huegel,
hoehere auf dem rechten, niedrigere auf dem linken; an den letzteren
haftet seit mindestens dritthalbtausend Jahren der Name der Roemer. Es
laesst sich natuerlich nicht angeben, wie und wann er aufgekommen ist;
sicher ist nur, dass in der aeltesten uns bekannten Namensform die
Gaugenossen Ramner (Ramnes) heissen, nicht Romaner; und diese der
aelteren Sprachperiode gelaeufige, dem Lateinischen aber in frueher
Zeit abhanden gekommene ^1 Lautverschiebung ist ein redendes Zeugnis
fuer das unvordenkliche Alter des Namens. Eine sichere Ableitung laesst
sich nicht geben; moeglich ist es, dass die Ramner die Stromleute sind.
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^1 Aehnlichen Lautwechsel zeigen beispielsweise folgende Bildungen
saemtlich aeltester Art: pars portio, Mars mors, farreum alt statt
horreum, Fabii Fovii, Valerius Volesus, vacuus vocivus.
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Aber sie blieben nicht allein auf den Huegeln am Tiberufer. In der
Gliederung der aeltesten roemischen Buergerschaft hat sich eine Spur
erhalten, dass dieselbe hervorgegangen ist aus der Verschmelzung dreier
wahrscheinlich ehemals unabhaengiger Gaue, der Ramner, Titier und
Lucerer, zu einem einheitlichen Gemeinwesen, also aus einem Synoekismus
wie derjenige war, woraus in Attika Athen hervorging ^2. Wie uralt
diese Drittelung der Gemeinde ist ^3, zeigt wohl am deutlichsten, dass
die Roemer namentlich in staatsrechtlicher Beziehung fuer “teilen” und
“Teil” regelmaessig sagen “dritteln” (tribuere) und “Drittel” (tribus)
und dieser Ausdruck schon frueh, wie unser Quartier, die urspruengliche
Zahlbedeutung einbuesst. Noch nach der Vereinigung besass jede dieser
drei ehemaligen Gemeinden und jetzigen Abteilungen ein Drittel der
gemeinschaftlichen Feldmark und war in der Buergerwehr wie im Rate der
Alten gleichmaessig vertreten; wie denn auch im Sakralwesen die durch
drei teilbare Mitgliederzahl fast aller aeltesten Kollegien, der
heiligen Jungfrauen, der Taenzer, der Ackerbrueder, der Wolfsgilde, der
Vogelschauer, wahrscheinlich auf diese Dreiteilung zurueckgeht. Man hat
mit diesen drei Elementen, in die die aelteste roemische Buergerschaft
zerfiel, den heillosesten Unfug getrieben; die unverstaendige Meinung,
dass die roemische Nation ein Mischvolk sei, knuepft hier an und
bemueht sich in verschiedenartiger Weise, die drei grossen italischen
Rassen als komponierende Elemente des aeltesten Rom darzustellen und
das Volk, das wie wenig andere seine Sprache, seinen Staat und seine
Religion rein und volkstuemlich entwickelt hat, in ein wuestes Geroelle
etruskischer und sabinischer, hellenischer und leider sogar
pelasgischer Truemmer zu verwandeln. Nach Beseitigung der teils
widersinnigen, teils grundlosen Hypothesen laesst sich in wenige Worte
zusammenfassen, was ueber die Nationalitaet der komponierenden Elemente
des aeltesten roemischen Gemeinwesens gesagt werden kann. Dass die
Ramner ein latinischer Stamm waren, kann nicht bezweifelt werden, da
sie dem neuen roemischen Gemeinwesen den Namen gaben, also auch die
Nationalitaet der vereinigten Gemeinde wesentlich bestimmt haben
werden. Ueber die Herkunft der Lucerer laesst sich nichts sagen, als
dass nichts im Wege steht, sie gleich den Ramnern dem latinischen Stamm
zuzuweisen. Dagegen die zweite dieser Gemeinden wird einstimmig aus der
Sabina abgeleitet, und dies kann wenigstens zurueckgehen auf eine in
der titischen Bruederschaft bewahrte Ueberlieferung, wonach dieses
Priesterkollegium bei dem Eintritt der Titier in die Gesamtgemeinde zur
Bewahrung des sabinischen Sonderrituals gestiftet worden waere. Es mag
also in einer sehr fernen Zeit, als der latinische und der sabellische
Stamm sich noch in Sprache und Sitte bei weitem weniger scharf
gegenueber standen als spaeter der Roemer und der Samnite, eine
sabellische Gemeinde in einen latinischen Gauverband eingetreten sein -
wahrscheinlich, da die Titier in der aelteren und glaubwuerdigen
Ueberlieferung ohne Ausnahme den Platz vor den Ramnern behaupten, in
der Art, dass die eindringenden Titier den aelteren Ramnern den
Synoekismus aufnoetigten. Eine Mischung verschiedener Nationalitaeten
hat hier also allerdings stattgefunden; aber schwerlich hat sie viel
tiefer eingegriffen als zum Beispiel die einige Jahrhunderte spaeter
erfolgte Uebersiedlung des sabinischen Attus Clauzus oder Appius
Claudius und seiner Genossen und Klienten nach Rom. So wenig wie diese
Aufnahme der Claudier unter die Roemer berechtigt die aeltere der
Titier unter die Ramner, die Gemeinde darum den Mischvoelkern
beizuzaehlen. Mit Ausnahme vielleicht einzelner, im Ritual
fortgepflanzter nationaler Institutionen lassen auch sabellische
Elemente in Rom sich nirgends nachweisen, und namentlich gibt die
latinische Sprache fuer eine solche Annahme schlechterdings keinen
Anhalt ^4. Es waere in der Tat mehr als auffallend, wenn die Einfuegung
einer einzelnen Gemeinde von einem dem latinischen naechstverwandten
Stamm die latinische Nationalitaet auch nur in fuehlbarer Weise
getruebt haette; wobei vor allem nicht vergessen werden darf, dass in
der Zeit, wo die Titier neben den Ramnern sich ansaessig machten, die
latinische Nationalitaet auf Latium ruhte und nicht auf Rom. Das neue
dreiteilige roemische Gemeinwesen war, trotz etwaiger urspruenglich
sabellischer Bestandteile, nichts als was die Gemeinde der Ramner
gewesen war, ein Teil der latinischen Nation.
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^2 Eine wirkliche Zusammensiedlung ist mit dem Synoekismus nicht
notwendig verbunden, sondern es wohnt jeder wie bisher auf dem
Seinigen, aber fuer alle gibt es fortan nur ein Rat- und Amthaus (Thuk.
2, 15; Hdt. 1, 170).
^3 Man koennte sogar, im Hinblick auf die attische τριττύς, die
umbrische trifo, die Frage aufwerfen, ob nicht die Dreiteilung der
Gemeinde eine graecoitalische Grundform sei; in welchem Falle die
Dreiteilung der roemischen Gemeinde gar nicht auf die Verschmelzung
mehrerer einstmals selbstaendigen Staemme zurueckgefuehrt werden
duerfte. Aber um eine gegen die Ueberlieferung sich also auflehnende
Annahme aufzustellen, muesste doch die Dreiteilung im graecoitalischen
Gebiet allgemeiner auftreten, als dies der Fall zu sein scheint, und
ueberall gleichmaessig als Grundschema erscheinen. Die Umbrer koennen
das Wort tribus moeglicherweise erst unter dem Einfluss der roemischen
Herrschaft sich angeeignet haben; im Oskischen ist es nicht mit
Sicherheit nachzuweisen.
^4 Nachdem die aeltere Meinung, dass das Lateinische als eine
Mischsprache aus griechischen und nicht-griechischen Elementen zu
betrachten sei, jetzt von allen Seiten aufgegeben ist, wollen selbst
besonnene Forscher (z. B. A. Schwegler, Roemische Geschichte. Bd. 1,
Tuebingen 1853, S. 184, 193) doch noch in dem Lateinischen eine
Mischung zweier nahverwandter italischer Dialekte finden. Aber
vergebens fragt man nach der sprachlichen oder geschichtlichen
Noetigung zu einer solchen Annahme. Wenn eine Sprache als Mittelglied
zwischen zwei anderen erscheint, so weiss jeder Sprachforscher, dass
dies ebenso wohl und haeufiger auf organischer Entwicklung beruht als
auf aeusserlicher Mischung.
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Lange bevor eine staedtische Ansiedlung am Tiber entstand, moegen jene
Ramner, Titier, Lucerer erst vereinzelt, spaeter vereinigt auf den
roemischen Huegeln ihre Burg gehabt und von den umliegenden Doerfern
aus ihre Aecker bestellt haben. Eine Ueberlieferung aus diesen
uraeltesten Zeiten mag das “Wolfsfest” sein, das das Geschlecht der
Quinctier am palatinischen Huegel beging: ein Bauern- und Hirtenfest,
das wie kein anderes die schlichten Spaesse patriarchalischer Einfalt
bewahrt und merkwuerdig genug noch im christlichen Rom sich unter allen
heidnischen Festen am laengsten behauptet hat.
Aus diesen Ansiedlungen ging dann das spaetere Rom hervor. Von einer
eigentlichen Stadtgruendung, wie die Sage sie annimmt, kann natuerlich
in keinem Fall die Rede sein: Rom ist nicht an einem Tage gebaut
worden. Wohl aber verdient es eine ernstliche Erwaegung, auf welchem
Wege Rom so frueh zu einer hervorragenden politischen Stellung
innerhalb Latiums gelangt sein kann, waehrend man nach den
Bodenverhaeltnissen eher das Gegenteil erwarten sollte. Die Staette,
auf der Rom liegt, ist minder gesund und minder fruchtbar als die der
meisten alten Latinerstaedte. Der Weinstock und der Feigenbaum gedeihen
in Roms naechster Umgebung nicht wohl und es mangelt an ausgiebigen
Quellen- denn weder der sonst treffliche Born der Camenen vor dem
Capenischen Tor noch der spaeter im Tullianum gefasste Kapitolinische
Brunnen sind wasserreich. Dazu kommt das haeufige Austreten des
Flusses, der bei sehr geringem Gefaell die in der Regenzeit reichlich
zustroemenden Bergwasser nicht schnell genug dem Meere zuzufuehren
vermag und daher die zwischen den Huegeln sich oeffnenden Taeler und
Niederungen ueberstaut und versumpft. Fuer den Ansiedler ist die
Oertlichkeit nichts weniger als lockend, und schon in alter Zeit ist es
ausgesprochen worden, dass auf diesen ungesunden und unfruchtbaren
Fleck innerhalb eines gesegneten Landstrichs sich nicht die erste
naturgemaesse Ansiedlung der einwandernden Bauern gelenkt haben koenne,
sondern dass die Not oder vielmehr irgendein besonderer Grund die
Anlage dieser Stadt veranlasst haben muesse. Schon die Legende hat
diese Seltsamkeit empfunden; das Geschichtchen von der Anlage Roms
durch Ausgetretene von Alba unter Fuehrung der albanischen
Fuerstensoehne Romulus und Remus ist nichts als ein naiver Versuch der
aeltesten Quasihistorie, die seltsame Entstehung des Orts an so
unguenstiger Staette zu erklaeren und zugleich den Ursprung Roms an die
allgemeine Metropole Latiums anzuknuepfen. Von solchen Maerchen, die
Geschichte sein wollen und nichts sind als nicht gerade geistreiche
Autoschediasmen, wird die Geschichte vor allen Dingen sich frei zu
machen haben; vielleicht ist es ihr aber auch vergoennt, noch einen
Schritt weiter zu tun und nach Erwaegung der besonderen
Lokalverhaeltnisse nicht ueber die Entstehung des Ortes, aber ueber die
Veranlassung seines raschen und auffallenden Gedeihens und seiner
Sonderstellung in Latium eine positive Vermutung aufzustellen.
Betrachten wir vor allem die aeltesten Grenzen des roemischen Gebietes.
Gegen Osten liegen die Staedte Antemnae, Fidenae, Caenina, Gabii in
naechster Naehe, zum Teil keine deutsche Meile von dem Servianischen
Mauerring entfernt, und muss die Gaugrenze hart vor den Stadttoren
gewesen sein. Gegen Sueden trifft man in einem Abstand von drei
deutschen Meilen auf die maechtigen Gemeinden Tusculum und Alba und es
scheint das roemische Stadtgebiet hier nicht weiter gereicht zu haben
als bis zum cluilischen Graben, eine deutsche Meile von Rom. Ebenso war
in suedwestlicher Richtung die Grenze zwischen Rom und Lavinium bereits
am sechsten Milienstein. Waehrend so landeinwaerts der roemische Gau
ueberall in die moeglichst engen Schranken zurueckgewiesen ist,
erstreckt er sich dagegen seit aeltester Zeit ungehindert an beiden
Ufern des Tiber gegen das Meer hin, ohne dass zwischen Rom und der
Kueste irgendeine als alter Gaumittelpunkt hervortretende Ortschaft,
irgendeine Spur alter Gaugrenze begegnete. Die Sage, die fuer alles
einen Ursprung weiss, weiss freilich auch zu berichten, dass die
roemischen Besitzungen am rechten Tiberufer, die “sieben Weiler”
(septem pagi) und die wichtigen Salinen an der Muendung durch Koenig
Romulus den Veientern entrissen worden sind, und dass Koenig Ancus am
rechten Tiberufer den Brueckenkopf, den Janusberg (Ianiculum)
befestigt, am linken den roemischen Peiraeeus, die Hafenstadt an der
“Muendung” (Ostia) angelegt habe. Aber dafuer, dass die Besitzungen am
etruskischen Ufer vielmehr schon zu der aeltesten roemischen Mark
gehoert haben muessen, legt besseres Zeugnis ab der eben hier, am
vierten Milienstein der spaeteren Hafenstrasse, gelegene Hain der
schaffenden Goettin (dea dia), der uralte Hochsitz des roemischen
Ackerbaufestes und der Ackerbruederschaft; und in der Tat ist seit
unvordenklicher Zeit das Geschlecht der Romilier, wohl einst das
vornehmste unter allen roemischen, eben hier angesessen, das Ianiculum
ein Teil der Stadt selbst, Ostia Buergerkolonie, das heisst Vorstadt
gewesen. Es kann das nicht Zufall sein. Der Tiber ist Latiums
natuerliche Handelsstrasse, seine Muendung an dem hafenarmen Strande
der notwendige Ankerplatz der Seefahrer. Der Tiber ist ferner seit
uralter Zeit die Grenzwehr des latinischen Stammes gegen die
noerdlichen Nachbarn. Zum Entrepôt fuer den latinischen Fluss- und
Seehandel und zur maritimen Grenzfestung Latiums eignete kein Platz
sich besser als Rom, das die Vorteile einer festen Lage und der
unmittelbaren Nachbarschaft des Flusses vereinigte, das ueber beide
Ufer des Flusses bis zur Muendung gebot, das dem den Tiber oder den
Anio herabkommenden Flussschiffer ebenso bequem gelegen war wie bei der
damaligen maessigen Groesse der Fahrzeuge dem Seefahrer, und das gegen
Seeraeuber groesseren Schutz gewaehrte als die unmittelbar an der
Kueste gelegenen Orte. Dass Rom wenn nicht seine Entstehung, doch seine
Bedeutung diesen kommerziellen und strategischen Verhaeltnissen
verdankt, davon begegnen denn auch weiter zahlreiche Spuren, die von
ganz anderem Gewicht sind als die Angaben historisierter Novelletten.
Daher ruehren die uralten Beziehungen zu Caere, das fuer Etrurien war,
was fuer Latium Rom und denn auch dessen naechster Nachbar und
Handelsfreund wurde; daher die ungemeine Bedeutung der Tiberbruecke und
des Brueckenbaues ueberhaupt in dem roemischen Gemeinwesen; daher die
Galeere als staedtisches Wappen. Daher der uralte roemische Hafenzoll,
dem von Haus aus nur unterlag, was zum Feilbieten (promercale), nicht
was zu eigenem Bedarf des Verladers (usuarium) in dem Hafen von Ostia
einging, und der also recht eigentlich eine Auflage auf den Handel war.
Daher, um vorzugreifen, das verhaeltnismaessig fruehe Vorkommen des
gemuenzten Geldes, der Handelsvertraege mit ueberseeischen Staaten in
Rom. In diesem Sinn mag denn Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt,
mehr eine geschaffene als eine gewordene Stadt und unter den
latinischen eher die juengste als die aelteste sein. Ohne Zweifel war
die Landschaft schon einigermassen bebaut und das Albanische Gebirge
sowie manche andere Hoehe der Campagna mit Burgen besetzt, als das
latinische Grenzemporium am Tiber entstand. Ob ein Beschluss der
latinischen Eidgenossenschaft, ob der geniale Blick eines verschollenen
Stadtgruenders oder die natuerliche Entwicklung der
Verkehrsverhaeltnisse die Stadt Rom ins Leben gerufen hat, darueber ist
uns nicht einmal eine Mutmassung gestattet. Wohl aber knuepft sich an
diese Wahrnehmung ueber Roms Emporienstellung in Latium eine andere
Beobachtung an. Wo uns die Geschichte zu daemmern beginnt, steht Rom
dem latinischen Gemeindebund als einheitlich geschlossene Stadt
gegenueber. Die latinische Sitte, in offenen Doerfern zu wohnen und die
gemeinschaftliche Burg nur zu Festen und Versammlungen oder im Notfall
zu benutzen, ist hoechst wahrscheinlich im roemischen Gau weit frueher
beschraenkt worden als irgendwo sonst in Latium. Nicht als ob der
Roemer seinen Bauernhof selbst zu bestellen oder ihn als sein rechtes
Heim zu betrachten aufgehoert haette; aber schon die boese Luft der
Campagna musste es mit sich bringen, dass er, soweit es anging, auf den
luftigeren und gesunderen Stadthuegeln seine Wohnung nahm; und neben
dem Bauer muss eine zahlreiche nicht ackerbauende Bevoelkerung von
Fremden und Einheimischen dort seit uralter Zeit ansaessig gewesen
sein. Die dichte Bevoelkerung des altroemischen Gebietes, das
hoechstens zu 5½ Quadratmeilen zum Teil sumpfigen und sandigen Bodens
angeschlagen werden kann und schon nach der aeltesten Stadtverfassung
eine Buergerwehr von 3300 freien Maennern stellte, also mindestens
10000 freie Einwohner zaehlte, erklaert sich auf diese Art
einigermassen. Aber noch mehr. Wer die Roemer und ihre Geschichte
kennt, der weiss es, dass das Eigentuemliche ihrer oeffentlichen und
Privattaetigkeit auf ihrem staedtischen und kaufmaennischen Wesen ruht,
und dass ihr Gegensatz gegen die uebrigen Latiner und ueberhaupt die
Italiker vor allem der Gegensatz ist des Buergers gegen den Bauer. Zwar
ist Rom keine Kaufstadt wie Korinth oder Karthago; denn Latium ist eine
wesentlich ackerbauende Landschaft und Rom zunaechst und vor allem eine
latinische Stadt gewesen und geblieben. Aber was Rom auszeichnet vor
der Menge der uebrigen latinischen Staedte, muss allerdings
zurueckgefuehrt werden auf seine Handelsstellung und auf den dadurch
bedingten Geist seiner Buergerschaft. Wenn Rom das Emporium der
latinischen Landschaften war, so ist es begreiflich, dass hier neben
und ueber der latinischen Feldwirtschaft sich ein staedtisches Leben
kraeftig und rasch entwickelte und damit der Grund zu seiner
Sonderstellung gelegt ward. Die Verfolgung dieser merkantilen und
strategischen Entwicklung der Stadt Rom ist bei weitem wichtiger und
ausfuehrbarer als das unfruchtbare Geschaeft, unbedeutende und wenig
verschiedene Gemeinden der Urzeit chemisch zu analysieren. Jene
staedtische Entwicklung koennen wir noch einigermassen erkennen in den
Ueberlieferungen ueber die allmaehlich entstandenen Umwallungen und
Verschanzungen Roms, deren Anlage mit der Entwicklung des roemischen
Gemeinwesens zu staedtischer Bedeutung notwendig Hand in Hand gegangen
sein muss.
Die urspruengliche staedtische Anlage, aus welcher im Laufe der
Jahrhunderte Rom erwachsen ist, umfasste nach glaubwuerdigen Zeugnissen
nur den Palatin, in spaeterer Zeit auch das viereckige Rom (Roma
quadrata) genannt von der regelmaessig viereckigen Form des
palatinischen Huegels. Die Tore und Mauern dieses urspruenglichen
Stadtringes blieben bis in die Kaiserzeit sichtbar; zwei von jenen, die
Porta Romana bei S. Giorgio in Velabro und die Porta Mugionis am
Titusbogen sind auch uns noch ihrer Lage nach bekannt, und den
palatinischen Mauerring beschreibt noch Tacitus nach eigener Anschauung
wenigstens an den dem Aventin und dem Caelius zugewendeten Seiten.
Vielfache Spuren deuten darauf hin, dass hier der Mittelpunkt und der
Ursitz der staedtischen Ansiedlung war. Auf dem Palatin befand sich das
heilige Symbol derselben, die sogenannte “Einrichtung” (mundus), darein
die ersten Ansiedler von allem, dessen das Haus bedarf, zur Genuege und
dazu von der lieben heimischen Erde eine Scholle getan hatten. Hier lag
ferner das Gebaeude, in welchem die saemtlichen Kurien jede an ihrem
eigenen Herd zu gottesdienstlichen und anderen Zwecken sich
versammelten (curiae veteres). Hier war das Versammlungshaus der
“Springer” (curia saliorum), zugleich der Aufbewahrungsort der heiligen
Schilde des Mars, das Heiligtum der “Woelfe” (lupercal) und die Wohnung
des Jupiterpriesters. Auf und an diesem Huegel ward die Gruendungssage
der Stadt hauptsaechlich lokalisiert und wurde das strohgedeckte Haus
des Romulus, die Hirtenhuette seines Ziehvaters Faustulus, der heilige
Feigenbaum, daran der Kasten mit den Zwillingen angetrieben war, der
aus dem Speerschaft, welchen der Gruender der Stadt vom Aventin her
ueber das Tal des Circus weg in diesen Mauerring geschleudert hatte,
aufgeschossene Kornelkirschbaum und andere dergleichen Heiligtuemer
mehr den Glaeubigen gewiesen. Eigentliche Tempel kannte diese Zeit noch
nicht, und daher hat solche auch der Palatin nicht aus aelterer Zeit
aufzuweisen. Die Gemeindestaetten aber sind frueh anderswohin verlegt
und deshalb verschollen; nur vermuten laesst sich, dass der freie Platz
um den Mundus, spaeter der Platz des Apollo genannt, die aelteste
Versammlungsstaette der Buergerschaft und des Senats, die ueber dem
Mundus selbst errichtete Buehne die aelteste Mahlstatt der roemischen
Gemeinde gewesen sein moegen.
Dagegen hat sich in dem “Fest der sieben Berge” (septimontium) das
Andenken bewahrt an die erweiterte Ansiedlung, welche allmaehlich um
den Palatin sich gebildet hat, Vorstaedte, eine nach der andern
erwachsen, eine jede durch besondere, wenn auch schwaechere Umwallungen
geschuetzt und an den urspruenglichen Mauerring des Palatin, wie in den
Marschen an den Hauptdeich die Aussendeiche, angelehnt. Die “sieben
Ringe” sind der Palatin selbst; der Cermalus, der Abhang des Palatins
gegen die zwischen diesem und dem Kapitol nach dem Fluss zu sich
ausbreitende Niederung (velabrum); die Velia, der den Palatin mit dem
Esquilin verbindende, spaeter durch die kaiserlichen Bauten fast ganz
verschwundene Huegelruecken; das Fagutal, der Oppius und der Cispius,
die drei Hoehen des Esquilin; endlich die Sucūsa oder Subūra, eine
ausserhalb des Erdwalls, der die Neustadt auf den Carinen schuetzte,
unterhalb S. Pietro in Vincoli in der Einsattlung zwischen dem Esquilin
und dem Quirinal angelegte Festung. In diesen offenbar allmaehlich
erfolgten Anbauten liegt die aelteste Geschichte des palatinischen Rom
bis zu einem gewissen Grade deutlich vor, zumal wenn man die spaeterhin
auf Grund dieser aeltesten Gliederung gebildete Servianische
Bezirkseinteilung damit zusammenhaelt.
Der Palatin war der Ursitz der roemischen Gemeinde, der aelteste und
urspruenglich einzige Mauerring; aber die staedtische Ansiedlung hat in
Rom wie ueberall nicht innerhalb, sondern unterhalb der Burg begonnen
und die aeltesten Ansiedlungen, von denen wir wissen, die, welche
spaeterhin in der Servianischen Stadteinteilung das erste und zweite
Quartier bilden, liegen im Kreise um den Palatin herum. So diejenige
auf dem Abhang des Cermalus mit der Tuskergasse, worin sich wohl eine
Erinnerung bewahrt haben mag an den wohl schon in der palatinischen
Stadt lebhaften Handelsverkehr zwischen Caeriten und Roemern, und die
Niederlassung auf der Velia, die beide spaeter in der Servianischen
Stadt mit dem Burghuegel selbst ein Quartier gebildet haben. Ferner die
Bestandteile des spaeteren zweiten Quartiers: die Vorstadt auf dem
Caelius, welche vermutlich nur dessen aeusserste Spitze ueber dem
Colosseum umfasst hat; die auf den Carinen, derjenigen Hoehe, in welche
der Esquilin gegen den Palatin aus laeuft, endlich das Tal und das
Vorwerk der Subura, von welcher das ganze Quartier den Namen empfing.
Beide Quartiere zusammen bilden die anfaengliche Stadt, und der
suburanische Bezirk derselben, der unterhalb der Burg etwa vom Bogen
des Konstantin bis nach S. Pietro in Vincoli und ueber das darunter
liegende Tal hin sich erstreckte, scheint ansehnlicher, vielleicht auch
aelter gewesen zu sein als die in der Servianischen Ordnung dem
palatinischen Bezirk einverleibten Siedlungen, da jener diesem in der
Rangfolge der Quartiere vorangeht. Eine merkwuerdige Erinnerung an den
Gegensatz dieser beiden Stadtteile hat einer der aeltesten heiligen
Gebraeuche des nachherigen Rom bewahrt, das auf dem Anger des Mars
jaehrlich begangene Opfer des Oktoberrosses: bis in spaete Zeit wurde
bei diesem Feste um das Pferdehaupt gestritten zwischen den Maennern
der Subura und denen von der Heiligen Strasse und je nachdem jene oder
diese siegten, dasselbe entweder an den mamilischen Turm (unbekannter
Lage) in der Subura oder an dem Koenigshaus unter dem Palatin
angenagelt. Es waren die beiden Haelften der Altstadt, die hier in
gleich berechtigtem Wetteifer miteinander rangen. Damals waren also die
Esquiliae - welcher Name eigentlich gebraucht die Carinen ausschliesst
- in der Tat, was sie hiessen, der Aussenbau (ex-quiliae, wie
inquilinus von colere) oder die Vorstadt; sie wurden in der spaeteren
Stadteinteilung das dritte Quartier und es hat dieses stets neben dem
suburanischen und dem palatinischen als minder ansehnlich gegolten.
Auch noch andere benachbarte Anhoehen, wie Kapitol und Aventin, moegen
von der Gemeinde der sieben Berge besetzt gewesen sein; vor allem die
“Pfahlbruecke” (pons sublicius) ueber den natuerlichen Brueckenpfeiler
der Tiberinsel wird - das Pontifikalkollegium allein buergt dafuer
hinreichend - schon damals bestanden und man auch den Brueckenkopf am
etruskischen Ufer, die Hoehe des Ianiculum nicht ausser acht gelassen
haben; aber die Gemeinde hatte beides doch keineswegs in ihren
Befestigungsring gezogen. Die Ordnung, die als Ritualsatz bis in die
spaeteste Zeit festgehalten worden ist, dass die Bruecke ohne Eisen
lediglich aus Holz zusammenzufuegen sei, geht in ihrem urspruenglichen
praktischen Zweck offenbar darauf hinaus, dass sie nur eine fliegende
sein sollte und jederzeit leicht musste abgebrochen oder abgebrannt
werden koennen: man erkennt daraus, wie lange Zeit hindurch die
roemische Gemeinde den Flussuebergang nur unsicher und unterbrochen
beherrscht hat.
Ein Verhaeltnis dieser allmaehlich erwachsenen staedtischen
Ansiedlungen zu den drei Gemeinden, in die die roemische
staatsrechtlich seit unvordenklich frueher Zeit zerfiel, ist nicht zu
ersehen. Da die Ramner, Titier und Lucerer urspruenglich selbstaendige
Gemeinden gewesen zu sein scheinen, muessen sie freilich auch
urspruenglich jede fuer sich gesiedelt haben; aber auf den sieben
Huegeln selbst haben sie sicherlich nicht in getrennten Umwallungen
gewohnt und was der Art in alter oder neuer Zeit erfunden worden ist,
wird der verstaendige Forscher dahin stellen, wo das anmutige Maerchen
von der Tarpeia und die Schlacht am Palatin ihren Platz finden.
Vielmehr werden schon die beiden Quartiere der aeltesten Stadt, Subura
und Palatin und ebenso das vorstaedtische jedes in die drei Teile der
Ramner, Titier und Lucerer zerfallen sein; womit es zusammenhaengen
kann, dass spaeterhin sowohl in dem suburanischen und palatinischen wie
in jedem der nachher hinzugefuegten Stadtteile es drei Paare
Argeerkapellen gab. Eine Geschichte hat die palatinische
Siebenhuegelstadt vielleicht gehabt; uns ist keine andere
Ueberlieferung von derselben geblieben als die des blossen
Dagewesenseins. Aber wie die Blaetter des Waldes fuer den neuen Lenz
zuschicken, auch wenn sie ungesehen von Menschenaugen niederfallen,
also hat diese verschollene Stadt der sieben Berge dem geschichtlichen
Rom die Staette bereitet.
Aber die palatinische Stadt ist nicht die einzige gewesen, die in dem
spaeterhin von den Servianischen Mauern eingeschlossenen Kreise vor
alters bestanden hat; vielmehr lag ihr in unmittelbarer Nachbarschaft
gegenueber eine zweite auf dem Quirinal. Die “alte Burg” (Capitolium
vetus) mit einem Heiligtum des Jupiter, der Juno und der Minerva und
einem Tempel der Goettin des Treuworts, in welchem Staatsvertraege
oeffentlich aufgestellt wurden, ist das deutliche Gegenbild des
spaeteren Kapitols mit seinem Jupiter-, Juno- und Minervatempel und mit
dem ebenfalls gleichsam zum voelkerrechtlichen Archiv bestimmten Tempel
der roemischen Treue, und ein sicherer Beweis dafuer, dass auch der
Quirinal einstmals der Mittelpunkt eines selbstaendigen Gemeinwesens
gewesen ist. Dasselbe geht hervor aus dem zwiefachen Marskult auf dem
Palatin und dem Quirinal: denn Mars ist das Vorbild des Wehrmanns und
der aelteste Hauptgott der italischen Buergergemeinden. Damit haengt
weiter zusammen, dass dessen Dienerschaft, die beiden uralten
Genossenschaften der Springer (salii) und der Woelfe (luperci), in dem
spaeteren Rom gedoppelt vorhanden gewesen sind und neben der
palatinischen auch eine Springerschaft vom Quirinal bestanden hat,
neben den Quinctischen Woelfen von Palatin eine Fabische Wolfsgilde,
die ihr Heiligtum hoechst wahrscheinlich auf dem Quirinal gehabt hat
^5. Alle diese Anzeichen, schon an sich von grossem Gewicht, gewinnen
um so hoehere Bedeutung, wenn man sich erinnert, dass der genau
bekannte Umkreis der palatinischen Siebenhuegelstadt den Quirinal
ausschloss und dass spaeterhin in dem Servianischen Rom, waehrend die
drei ersten Bezirke der ehemaligen palatinischen Stadt entsprechen, aus
dem Quirinal nebst dem benachbarten Viminal das vierte Quartier
gebildet wurde. So erklaert sich auch, zu welchem Zweck ausserhalb der
Stadtmauer das feste Vorwerk der Subura in dem Talgrunde zwischen
Esquilin und Quirinal angelegt ward - hier beruehrten sich ja die
beiderseitigen Marken und musste von den Palatinern, nachdem sie die
Niederung in Besitz genommen hatten, zum Schutz gegen die vom Quirinal
eine Burg aufgefuehrt werden.
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^5 Dass die Quinctischen Luperker den Fabischen im Rang vorgingen, geht
daraus hervor, dass die Fabulisten dem Romulus die Quinctier, dem Remus
die Fabier beilegen (Ov. fast. 2, 373f.; Ps. Aur. Vict. orig. 22). Dass
die Fabier zu den Huegelroemern gehoerten, beweist ihr Geschlechtsopfer
auf dem Quirinal (Liv. 5, 46, 52), mag dies nun mit den Luperkalien
zusammenhaengen oder nicht.
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Uebrigens heisst der Lupercus jenes Kollegiums auf Inschriften (Orelli
2253) Lupercus Quinctialis vetus, und der hoechst wahrscheinlich mit
dem Luperkalkult zusammenhaengende Vorname Kaeso (siehe Roemische
Forschungen, Bd. 1, S. 17) findet sich ausschliesslich bei den
Quinctiern und den Fabiern; die bei den Schriftstellern gangbare Form
Lupercus Quinctilius und Quinctilianus ist also entstellt und das
Kollegium nicht den verhaeltnismaessig jungen Quinctiliern, sondern den
weit aelteren Quinctiern eigen. Wenn dagegen die Quinctier (Liv. 1, 30)
oder Quinctilier (Dion. Hal. 3, 29) unter den albanischen Geschlechtern
genannt werden, so duerfte hier die letztere Lesung vorzuziehen und das
Quinctische vielmehr als altroemisch zu betrachten sein.
Endlich ist auch der Name nicht untergegangen, mit dem sich die Maenner
vom Quirinal von ihren palatinischen Nachbarn unterschieden. Wie die
palatinische Stadt sich die “der sieben Berge”, ihre Buerger “die von
den Bergen” montani) sich nennen, die Bezeichnung “Berg” wie an den
uebrigen ihr angehoerigen Hoehen, so vor allem an dem Palatin haftet,
so heisst die quirinalische Spitze, obwohl nicht niedriger, im
Gegenteil etwas hoeher als jene, und ebenso die dazu gehoerige
viminalische im genauen Sprachgebrauch nie anders als “Huegel”
(collis); ja in den sakralen Urkunden wird nicht selten der Quirinal
als der “Huegel” ohne weiteren Beisatz bezeichnet. Ebenso heisst das
von dieser Hoehe ausfuehrende Tor gewoehnlich das Huegeltor (porta
collina), die daselbst ansaessige Marspriesterschaft die vom Huegel
(salii collini) im Gegensatz zu der vom Palatium (salii Palatini), das
aus diesem Bezirk gebildete vierte Servianische das Huegelquartier
(tribus collina) ^6. Den zunaechst wohl an der Gegend haftenden Namen
der “Roemer” moegen dabei die Huegelmaenner ebenso wie die von den
Bergen sich beigelegt und etwa Huegelroemer (Romani collini) sich
genannt haben. Dass in dem Gegensatz der beiden Nachbarstaedte zugleich
eine Stammverschiedenheit obgewaltet hat, ist moeglich, aber an
Beweisen, welche ausreichten, um eine auf latinischem Boden gegruendete
Gemeinde fuer stammfremd zu erklaeren, fehlt es auch fuer die
quirinalische Gemeinde durchaus ^7.
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^6 Wenn spaeterhin fuer die Hoehe, wo die Huegelroemer ihren Sitz
hatten, der Name des Quirinushuegels gebraeuchlich gewesen ist, so darf
darum doch keineswegs der Name der Quiriten als urspruenglich der
Buergerschaft auf dem Quirinal vorbehalten angesehen werden. Denn
einerseits fuehren, wie gezeigt ist, alle aeltesten Spuren fuer diese
auf den Namen Collini; andrerseits ist es unbestreitbar gewiss, dass
der Name der Quiriten von Haus aus wie nachher lediglich den
Vollbuerger bezeichnet und mit dem Gegensatz der montani und collini
durchaus nichts gemein hat (vgl. unten 5. Kap.). Die spaetere Benennung
des Quirinalis beruht darauf, dass zwar urspruenglich der Mars
quirinus, der speertragende Todesgott, sowohl auf dem Palatin wie auf
dem Quirinal verehrt wurde, wie denn noch die aeltesten, bei dem
nachher so genannten Quirinustempel gefundenen Inschriften diese
Gottheit geradezu Mars heissen, spaeterhin aber der Unterscheidung
wegen der Gott der Bergroemer vorzugsweise Mars, der der Huegelroemer
vorzugsweise Quirinus genannt ward. Wenn der Quirinal auch wohl collis
agonalis, Opferhuegel, genannt wird, so wird er damit nur bezeichnet
als der sakrale Mittelpunkt der Huegelroemer.
^7 Was man dafuer ausgibt (vgl. z. B. Schwegler, Roemische Geschichte.
Bd. 1, S. 480), geht im wesentlichen auf eine von Varro aufgestellte
und von den Spaeteren wie gewoehnlich einstimmig nachgesprochene
etymologisch-historische Hypothese, dass das lateinische quiris
quirinus mit dem sabinischen Stadtnamen Cures verwandt und demnach des
Quirinalhuegel von Cures aus bevoelkert worden sei. Auch wenn die
sprachliche Verwandtschaft jener Waerter sicher staende, duerfte daraus
der geschichtliche Folgesatz nicht hergeleitet werden. Dass die alten
Heiligtuemer auf diesem Berge - wo es uebrigens auch einen
“latiarischen Huegel” gab - sabinisch sind, hat man wohl behauptet,
aber nicht erwiesen. Mars quirinus, Sol, Salus, Flora, Semo Sancus oder
Deus fidius sind wohl sabinische, aber auch latinische Gottheiten,
gebildet offenbar in der Epoche, wo Latiner und Sabiner noch
ungeschieden beisammen waren. Wenn an den heiligen Staetten des
spaeterhin zuruecktretenden Quirinal ein Name wie der des Semo Sancus
vorzugsweise haftet (vgl. die davon benannte porta sanqualis), der
uebrigens auch auf der Tiberinsel begegnet, so wird jeder unbefangene
Forscher darin nur einen Beweis fuer das hohe Alter dieser Kulte, nicht
fuer ihre Entlehnung aus dem Nachbarland erblicken. Die Moeglichkeit,
dass alte Stammgegensaetze dennoch hier mitgewirkt, soll damit nicht
geleugnet werden; aber wenn dies der Fall war, so sind sie fuer uns
verschollen und die unseren Zeitgenossen gelaeufigen Betrachtungen
ueber das sabinische Element im Roemerrum nur geeignet, vor dergleichen
aus dem Leeren in das Leere fuehrenden Studien ernstlich zu warnen.
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So standen an der Staette des roemischen Gemeinwesens zu dieser Zeit
noch die Bergroemer vom Palatin und die Huegelroemer vom Quirinal als
zwei gesonderte und ohne Zweifel vielfach sich befehdende Gemeinwesen
einander gegenueber, einigermassen wie im heutigen Rom die Montigiani
und die Trasteverini. Dass die Gemeinde der sieben Berge schon frueh
die quirinalische bei weitem ueberwog, ist mit Sicherheit zu schliessen
sowohl aus der groesseren Ausdehnung ihrer Neu- und Vorstaedte als auch
aus der Zuruecksetzung, die die ehemaligen Huegelroemer in der
spaeteren Servianischen Ordnung sich durchaus haben muessen gefallen
lassen. Aber auch innerhalb der palatinischen Stadt ist es schwerlich
zu einer rechten und vollstaendigen Verschmelzung der verschiedenen
Bestandteile der Ansiedlung gekommen. Wie Subura und Palatin
miteinander jaehrlich um das Pferdehaupt stritten, ist schon erzaehlt
worden; aber auch die einzelnen Berge, ja die einzelnen Kurien - es gab
noch keinen gemeinschaftlichen Stadtherd, sondern die verschiedenen
Kurienherde standen, obwohl in derselben Lokalitaet, doch noch
nebeneinander - moegen sich mehr gesondert als geeinigt gefuehlt haben
und das ganze Rom eher ein Inbegriff staedtischer Ansiedlungen als eine
einheitliche Stadt gewesen sein. Manchen Spuren zufolge waren auch die
Haeuser der alten und maechtigen Familien gleichsam festungsartig
angelegt und der Verteidigung faehig, also auch wohl beduerftig. Erst
der grossartige Wallbau, der dem Koenig Servius Tullius zugeschrieben
wird, hat nicht bloss jene beiden Staedte vom Palatin und Quirinal,
sondern auch noch die nicht in ihren Ringen einbegriffenen Anhoehen des
Kapitol und des Aventin mit einem einzigen grossen Mauerring umzogen
und somit das neue Rom, das Rom der Weltgeschichte, geschaffen. Aber
ehe dieses gewaltige Werk angegriffen ward, war Roms Stellung zu der
umliegenden Landschaft ohne Zweifel gaenzlich umgewandelt. Wie die
Periode, in der der Ackersmann auf den sieben Huegeln von Rom nicht
anders als auf den andern latinischen den Pflug fuehrte, und nur die in
gewoehnlichen Zeiten leerstehenden Zufluchtsstaetten auf einzelnen
Spitzen einen Anfang festerer Ansiedlung darboten, der aeltesten
handel- und tatenlosen Epoche des latinischen Stammes entspricht, wie
dann spaeter die aufbluehende Ansiedlung auf dem Palatin und in den
“sieben Ringen” zusammenfaellt mit der Besetzung der Tibermuendungen
durch die roemische Gemeinde und ueberhaupt mit dem Fortschritt der
Latiner zu regerem und freierem Verkehr, zu staedtischer Gesittung vor
allem in Rom und wohl auch zu festerer politischer Einigung in den
Einzelstaaten wie in der Eidgenossenschaft, so haengt die Gruendung
einer einheitlichen Grossstadt, der Servianische Wall, zusammen mit
jener Epoche, in der die Stadt Rom um die Herrschaft ueber die
latinische Eidgenossenschaft zu ringen und endlich sie zu erringen
vermochte.
KAPITEL V.
Die ursprüngliche Verfassung Roms
Vater und Mutter, Soehne und Toechter, Hof und Wohnung, Knechte und
Geraet - das sind die natuerlichen Elemente, aus denen ueberall, wo
nicht durch die Polygamie die Mutter als solche verschwindet, das
Hauswesen besteht. Darin aber gehen die Voelker hoeherer
Kulturfaehigkeit auseinander, dass diese natuerlichen Gegensaetze
flacher oder tiefer, mehr sittlich oder mehr rechtlich aufgefasst und
durchgearbeitet werden. Keines kommt dem roemischen gleich an
schlichter, aber unerbittlicher Durchfuehrung der von der Natur selbst
vorgezeichneten Rechtsverhaeltnisse.
Die Familie, das heisst der durch den Tod seines Vaters in eigene
Gewalt gelangte freie Mann mit der feierlich ihm von den Priestern zu
Gemeinschaft des Wassers und des Feuers durch das heilige Salzmehl
(durch Confarreatio) angetrauten Ehefrau, mit ihren Soehnen und
Sohnessoehnen und deren rechten Frauen und ihren unverheirateten
Toechtern und Sohnestoechtern nebst allem, einem von diesen zukommenden
Hab und Gut ist eine Einheit, von der dagegen die Kinder der Toechter
ausgeschlossen sind, da sie entweder, wenn sie ehelich sind, der
Familie des Mannes angehoeren, oder, wenn ausser der Ehe erzeugt, in
gar keiner Familie stehen. Eigenes Haus und Kindersegen erscheinen dem
roemischen Buerger als das Ziel und der Kern des Lebens. Der Tod ist
kein Uebel, denn er ist notwendig; aber das Aussterben des Hauses oder
gar des Geschlechts ist ein Unheil, selbst fuer die Gemeinde, welche
darum in fruehester Zeit dem Kinderlosen einen Rechtsweg eroeffnete,
durch Annahme fremder Kinder anstatt eigener diesem Verhaengnis
auszuweichen. Von vornherein trug die roemische Familie die Bedingungen
hoeherer Kultur in sich in der sittlich geordneten Stellung der
Familienglieder zueinander. Familienhaupt kann nur der Mann sein; die
Frau ist zwar im Erwerb von Gut und Geld nicht hinter dem Manne
zurueckgesetzt, sondern es nimmt die Tochter gleichen Erbteil mit dem
Bruder, die Mutter gleichen Erbteil mit den Kindern, aber immer und
notwendig gehoert die Frau dem Hause, nicht der Gemeinde an, und ist
auch im Hause notwendig hausuntertaenig, die Tochter dem Vater, das
Weib dem Manne ^1, die vaterlose unverheiratete Frau ihren naechsten
maennlichen Verwandten; diese sind es und nicht der Koenig, von denen
erforderlichenfalls die Frau verrechtfertigt wird. Aber innerhalb des
Hauses ist die Frau nicht Dienerin, sondern Herrin. Befreit von den
nach roemischen Vorstellungen dem Gesinde zukommenden Arbeiten des
Getreidemahlens und des Kochens, widmet die roemische Hausmutter sich
wesentlich nur der Beaufsichtigung der Maegde und daneben der Spindel,
die fuer die Frau ist, was fuer den Mann der Pflug ^2. Ebenso wurde die
sittliche Verpflichtung der Eltern gegen die Kinder von der roemischen
Nation voll und tief empfunden, und es galt als arger Frevel, wenn der
Vater das Kind vernachlaessigte oder verdarb oder auch nur zum Nachteil
desselben sein Vermoegen vergeudete. Aber rechtlich wird die Familie
unbedingt geleitet und gelenkt durch den einen allmaechtigen Willen des
Hausvaters (pater familias). Ihm gegenueber ist alles rechtlos, was
innerhalb des Hauses steht, der Stier und der Sklave, aber nicht minder
Weib und Kind. Wie die Jungfrau durch die freie Wahl des Mannes zu
seiner Ehefrau wird, so steht auch das Kind, das sie ihm geboren,
aufzuziehen oder nicht, in seinem freien Willen. Es ist nicht
Gleichgueltigkeit gegen die Familie, welche diese Satzung eingegeben
hat, vielmehr wohnte die Ueberzeugung, dass Hausbegruendung und
Kinderzeugung sittliche Notwendigkeit und Buergerpflicht sei, tief und
ernst im Bewusstsein des roemischen Volkes. Vielleicht das einzige
Beispiel einer in Rom von Gemeinde wegen gewaehrten Unterstuetzung ist
die Bestimmung, dass dem Vater, welchem Drillinge geboren werden, eine
Beihilfe gegeben werden soll; und wie man ueber die Aussetzung dachte,
zeigt die Untersagung derselben hinsichtlich aller Soehne - mit
Ausnahme der Missgeburten - und wenigstens der ersten Tochter. Aber wie
gemeinschaedlich auch die Aussetzung erscheinen mochte, die Untersagung
derselben verwandelte sich bald aus der rechtlichen Ahndung in
religioese Verwuenschung; denn vor allen Dingen war der Vater in seinem
Hause durchaus unbeschraenkt Herr. Der Hausvater haelt die Seinigen
nicht bloss in strengster Zucht, sondern er hat auch das Recht und die
Pflicht, ueber sie die richterliche Gewalt auszuueben und sie nach
Ermessen an Leib und Leben zu strafen. Der erwachsene Sohn kann einen
gesonderten Hausstand begruenden oder, wie die Roemer dies ausdruecken,
sein “eigenes Vieh” (peculium) vom Vater angewiesen erhalten; aber
rechtlich bleibt aller Erwerb der Seinigen, mag er durch eigene Arbeit
oder durch fremde Gabe, im vaeterlichen oder im eigenen Haushalte
gewonnen sein, Eigentum des Vaters, und es kann, so lange der Vater
lebt, die untertaenige Person niemals eigenes Vermoegen haben, daher
auch nicht anders als im Auftrag des Vaters veraeussern und nie
vererben. In dieser Beziehung stehen Weib und Kind voellig auf gleicher
Linie mit dem Sklaven, dem die Fuehrung einer eigenen Haushaltung auch
nicht selten verstattet ward, und der mit Auftrag des Herrn gleichfalls
befugt war zu veraeussern. Ja, der Vater kann wie den Sklaven so auch
den Sohn einem Dritten zum Eigentum uebertragen; ist der Kaeufer ein
Fremder, so wird der Sohn sein Knecht; ist er ein Roemer, so wird der
Sohn, da er als Roemer nicht Knecht eines Roemers werden kann, seinem
Kaeufer wenigstens an Knechtes Statt. Die vaeterliche und eheherrliche
Gewalt unterlag insofern einer Rechtsbeschraenkung ausser der schon
erwaehnten des Aussetzungsrechts, als einige der aergsten Missbraeuche
mit rechtlicher Ahndung wie mit dem religioesen Bannfluch belegt
wurden; so trafen diese den, der seine Ehefrau oder den verheirateten
Sohn verkauft; und durch die Familiensitte ward es durchgesetzt, dass
bei der Ausuebung der haeuslichen Gerichtsbarkeit der Vater und mehr
noch der Ehemann den Spruch ueber Kind und Frau nicht faellte, ohne
vorher die naechsten Blutsverwandten, sowohl die seinigen wie die der
Frau, zugezogen zu haben. Aber eine rechtliche Minderung der Gewalt lag
in der letzteren Einrichtung nicht; denn die bei dem Hausgericht
zugezogenen Blutsverwandten hatten nicht zu richten, sondern nur den
richtenden Hausvater zu beraten. Es ist die hausherrliche Macht aber
nicht bloss wesentlich unbeschraenkt und keinem auf der Erde
verantwortlich, sondern auch, so lange der Hausherr lebt,
unabaenderlich und unzerstoerlich. Nach den griechischen wie nach den
deutschen Rechten ist der erwachsene, tatsaechlich selbstaendige Sohn
auch rechtlich von dem Vater frei; die Macht des roemischen Hausvaters
vermag bei dessen Lebzeiten nicht das Alter, nicht der Wahnsinn
desselben, ja nicht einmal sein eigener freier Wille aufzuheben, nur
dass die Person des Gewalthabers wechseln kann: denn allerdings kann
das Kind im Wege der Adoption in eines andern Vaters Gewalt kommen, die
Tochter durch eine rechte Ehe aus der Hand des Vaters uebergehen in die
Hand des Mannes und, aus ihrem Geschlecht und Gottesschutz in das
Geschlecht und den Gottesschutz des Mannes eintretend, ihm nun untertan
werden, wie sie bisher es ihrem Vater war. Nach roemischem Recht ist es
dem Knechte leichter gemacht, sich von dem Herrn, als dem Sohne, sich
von dem Vater zu loesen; die Freilassung des ersteren ward frueh und in
einfachen Formen gestattet, die Freigebung des letzteren wurde erst
viel spaeter und auf weiten Umwegen moeglich gemacht. Ja, wenn der Herr
den Knecht und der Vater den Sohn verkauft und der Kaeufer beide
freigibt, so erlangt der Knecht die Freiheit, der Sohn aber faellt
durch die Freilassung vielmehr zurueck in die fruehere vaeterliche
Gewalt. So ward durch die unerbittliche Konsequenz, mit der die
vaeterliche und eheherrliche Gewalt von den Roemern aufgefasst wurde,
dieselbe in wahres Eigentumsrecht umgewandelt. Indes, bei aller
Annaeherung der hausherrlichen Gewalt ueber Weib und Kind an die
Eigentumsgewalt ueber Sklaven und Vieh blieben dennoch die Glieder der
Familie von der Familienhabe nicht bloss tatsaechlich, sondern auch
rechtlich aufs schaerfste getrennt. Die hausherrliche Gewalt, auch
abgesehen davon, dass sie nur innerhalb des Hauses sich wirksam
erzeigt, ist voruebergehender und gewissermassen stellvertretender Art.
Weib und Kind sind nicht bloss um des Hausvaters willen da, wie das
Eigentum nur fuer den Eigentuemer, wie in dem absoluten Staat die
Untertanen nur fuer den Koenig vorhanden sind; sie sind wohl auch
Gegenstand des Rechts, aber doch zugleich eigenberechtigt, nicht
Sachen, sondern Personen. Ihre Rechte ruhen nur der Ausuebung nach,
weil die Einheit des Hauses im Regiment einen einheitlichen
Repraesentanten erfordert; wenn aber der Hausherr stirbt, so treten die
Soehne von selbst als Hausherren ein und erlangen nun ihrerseits ueber
die Frauen und Kinder und das Vermoegen die bisher vom Vater ueber sie
geuebten Rechte, wogegen durch den Tod des Herrn die rechtliche
Stellung des Knechtes in nichts sich aendert.
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^1 Es gilt dies nicht bloss von der alten religioesen Ehe (matrimonium
confarreatione), sondern auch die Zivilehe (matrimonium consensu) gab
zwar nicht an sich dem Manne Eigentumsgewalt ueber die Frau, aber es
wurden doch die Rechtsbegriffe der foermlichen Tradition (coemptio) und
der Verjaehrung (usus) ohne weiteres auf dieselbe angewandt und dadurch
dem Ehemann der Weg geoeffnet, Eigentumsgewalt ueber die Frau zu
gewinnen. Bis er sie gewann, also namentlich in der bis zur Vollendung
der Verjaehrung verfliessenden Zeit, war das Weib, ganz wie bei der
spaeteren Ehe mit causae probatio bis zu dieser, nicht uxor, sondern
pro uxore; bis in die Zeit der ausgebildeten Rechtswissenschaft erhielt
sich dieser Satz, dass die nicht in der Gewalt des Mannes stehende Frau
nicht Ehefrau sei, sondern nur dafuer gelte (uxor tantummodo habetur.
Cic. top. 3, 14).
^2 Die folgende Grabschrift, obwohl einer viel spaeteren Zeit
angehoerig, ist nicht unwert, hier zu stehen. Es ist der Stein, der
spricht.
Kurz, Wandrer ist mein Spruch: halt’ an und lies ihn durch.
Es deckt der schlechte Grabstein eine schoene Frau.
Mit Namen nannten Claudia die Eltern sie;
Mit eigner Liebe liebte sie den eignen Mann;
Zwei Soehne gebar sie; einen liess auf Erden sie
Zurueck, den andern barg sie in der Erde Schoss.
Sie war von artiger Rede und von edlem Gang,
Versah ihr Haus und spann. Ich bin zu Ende, geh.
Vielleicht noch bezeichnender ist die Auffuehrung des Wollspinnens
unter lauter sittlichen Eigenschaften, die in roemischen Grabschriften
nicht ganz selten ist. Orelli 4639: optima et pulcherrima, lanifica pia
pudica frugi casta domiseda. Orelli 4860: modestia probitate pudicitia
obsequio lanificzo diligentia fide par similisque cetereis probeis
feminis fuit. Grabschrift der Turia 1, 30: domestica bona pudicitiae,
obsequi, comitatis, facilitatis, lanificiis [tuis adsiduitatis,
religionis] sine superstitione, ornatus non conspiciendi, cultus
modici.
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Indes war die Einheit der Familie so maechtig, dass selbst der Tod des
Hausherrn sie nicht vollstaendig loeste. Die durch denselben
selbstaendig gewordenen Deszendenten betrachten dennoch in mancher
Hinsicht sich noch als eine Einheit, wovon bei der Erbfolge und in
vielen anderen Beziehungen Gebrauch gemacht wird, vor allen Dingen
aber, um die Stellung der Witwe und der unverheirateten Toechter zu
ordnen. Da nach aelterer roemischer Ansicht das Weib nicht faehig ist,
weder ueber andere noch ueber sich die Gewalt zu haben, so bleibt die
Gewalt ueber sie oder, wie sie mit milderem Ausdruck heisst, die Hut
(tutela), bei dem Hause, dem sie angehoert, und wird statt des
verstorbenen Hausherrn jetzt ausgeuebt durch die Gesamtheit der
naechsten maennlichen Familienglieder, regelmaessig also ueber die
Muetter durch die Soehne, ueber die Schwestern durch die Brueder. In
diesem Sinne dauerte die einmal gegruendete Familie unveraendert fort,
bis der Mannesstamm ihres Urhebers ausstarb; nur musste freilich von
Generation zu Generation faktisch das Band sich lockern und zuletzt
selbst die Moeglichkeit des Nachweises der urspruenglichen Einheit
verschwinden. Hierauf, und hierauf allein, beruht der Unterschied der
Familie und des Geschlechts, oder, nach roemischem Ausdruck, der
Agnaten und der Gentilen. Beide bezeichnen den Mannesstamm; die Familie
aber umfasst nur diejenigen Individuen, welche von Generation zu
Generation aufsteigend den Grad ihrer Abstammung von einem
gemeinschaftlichen Stammherrn dartun koennen, das Geschlecht dagegen
auch diejenigen, welche bloss die Abstammung selbst von einem
gemeinschaftlichen Ahnherrn, aber nicht mehr vollstaendig die
Zwischenglieder, also nicht den Grad, nachzuweisen vermoegen. Sehr klar
spricht sich das in den roemischen Namen aus, wenn es heisst: “Quintus,
Sohn des Quintus, Enkel des Quintus und so weiter, der Quintier”, so
reicht die Familie so weit, als die Aszendenten individuell bezeichnet
werden, und wo sie endlich aufhoert, tritt ergaenzend ein das
Geschlecht, die Abstammung von dem gemeinschaftlichen Urahn, der auf
alle seine Nachkommen den Namen der Quintuskinder vererbt hat.
Diesen streng geschlossenen, unter der Gewalt eines lebenden Herrn
vereinigten oder aus der Aufloesung solcher Haeuser hervorgegangenen
Familien- und Geschlechtseinheiten gehoerten ausserdem noch an zwar
nicht die Gaeste, das sind die Glieder anderer gleichartiger Kreise,
welche voruebergehend in einem fremden Hause verweilen, und ebensowenig
die Sklaven, welche rechtlich nur als Habe, nicht als Glieder des
Hauses angesehen werden, aber wohl die Hoerigen (clientes, von cluere),
das heisst diejenigen Individuen, die, ohne freie Buerger irgendeines
Gemeinwesens zu sein, doch in einem solchen im Zustande geschuetzter
Freiheit sich befanden. Dahin gehoerten teils die landfluechtigen
Leute, die bei einem fremden Schutzherrn Aufnahme gefunden hatten,
teils diejenigen Knechte, denen gegenueber der Herr auf den Gebrauch
seiner Herrenrechte vorlaeufig verzichtet, ihnen die tatsaechliche
Freiheit geschenkt hatte. Es war dies Verhaeltnis in seiner
Eigentuemlichkeit nicht ein streng rechtliches wie das zu dem Gast; der
Hoerige blieb ein unfreier Mann, fuer den Treuwort und Herkommen die
Unfreiheit milderte. Darum bilden die “Hoerigen” (clientes) des Hauses
in Verbindung mit den eigentlichen Knechten die von dem Willen des
“Buergers” (patronus, wie patricius) abhaengige “Knechtschaft”
(familia); darum ist nach urspruenglichem Recht der Buerger befugt, das
Vermoegen des Klienten teilweise oder ganz wieder an sich zu ziehen,
ihn vorkommenden Falls in die Sklaverei zurueckzuversetzen, ja ihn am
Leben zu strafen; und es sind nur tatsaechliche Verschiedenheiten, wenn
gegen den Klienten nicht so leicht wie gegen den wirklichen Knecht die
volle Schaerfe dieses hausherrlichen Rechtes hervorgekehrt wird und
wenn auf der andern Seite die sittliche Verpflichtung des Herrn, fuer
seine eigenen Leute zu sorgen und sie zu vertreten, bei dem
tatsaechlich freier gestellten Klienten groessere Bedeutung gewinnt als
bei dem Sklaven. Ganz besonders musste die faktische Freiheit des
Klienten der rechtlichen da sich naehern, wo das Verhaeltnis durch
mehrere Generationen hindurchgegangen war: wenn der Freilasser und der
Freigelassene selber gestorben waren, konnte das Herrenrecht ueber die
Nachkommen des Freigelassenen von den Rechtsnachfolgern des Freilassers
nicht ohne schreiende Impietaet in Anspruch genommen werden. Also
bildete schon in dem Hause selbst sich ein Kreis abhaengig freier
Leute, die von den Knechten sich ebenso unterschieden wie von den
gleichberechtigten Geschlechtsgenossen.
Auf diesem roemischen Hause beruht der roemische Staat sowohl den
Elementen als der Form nach. Die Volksgemeinde entstand aus der wie
immer erfolgten Zusammenfuegung jener alten Geschlechtsgenossenschaften
der Romilier, Voltinier, Fabier und so ferner, das roemische Gebiet aus
den vereinigten Marken dieser Geschlechter; roemischer Buerger war, wer
einem jener Geschlechter angehoerte. Jede innerhalb des Kreises in den
ueblichen Formen abgeschlossene Ehe galt als echte roemische und
begruendete fuer die Kinder das Buergerrecht; wer in unrechter oder
ausser der Ehe erzeugt war, war aus dem Gemeindeverband ausgeschlossen.
Deshalb nannten die roemischen Buerger sich die “Vaterkinder”
(patricii), insofern nur sie rechtlich einen Vater hatten. Die
Geschlechter wurden mit allen in ihnen zusammengeschobenen Familien dem
Staat, wie sie bestanden, einverleibt. Die haeuslichen und
Geschlechterkreise blieben innerhalb des Staates bestehen; allein dem
Staate gegenueber galt die Stellung in denselben nicht, so dass der
Haussohn im Hause unter, aber in politischen Pflichten und Rechten
neben dem Vater stand. Die Stellung der Schutzbefohlenen aenderte sich
natuerlich dahin, dass die Freigelassenen und die Klienten eines jeden
Schutzherrn um seinetwillen in der ganzen Gemeinde geduldet wurden;
zwar blieben sie zunaechst angewiesen auf den Schutz derjenigen
Familie, der sie angehoerten, aber es lag doch auch in der Sache, dass
von dem Gottesdienst und den Festlichkeiten der Gemeinde die
Schutzbefohlenen der Gemeindeglieder nicht gaenzlich ausgeschlossen
werden konnten, wenn auch die eigentlichen buergerlichen Rechte wie die
eigentlichen buergerlichen Lasten selbstverstaendlich dieselben nicht
trafen. Um so mehr galt dies von den Schutzbefohlenen der Gesamtschaft.
So bestand der Staat wie das Haus aus den eigenen und den zugewandten
Leuten, den Buergern und den Insassen.
Wie die Elemente des Staates die auf der Familie ruhenden Geschlechter
sind, so ist auch die Form der Staatsgemeinschaft im einzelnen wie im
ganzen der Familie nachgebildet. Dem Hause gibt die Natur selbst den
Vater, mit dem dasselbe entsteht und vergeht. In der Volksgemeinde
aber, die unvergaenglich bestehen soll, findet sich kein natuerlicher
Herr, wenigstens in der roemischen nicht, die aus freien und gleichen
Bauern bestand und keines Adels von Gottes Gnaden sich zu ruehmen
vermochte. Darum wird einer aus ihrer Mitte ihr Leiter (rex) und Herr
im Hause der roemischen Gemeinde, wie denn auch in spaeterer Zeit in
oder neben seiner Wohnung der ewig flammende Herd und die
wohlversperrte Vorratskammer der Gemeinde, die roemische Vesta und die
roemischen Penaten zu finden sind - sie alle die sichtbare Einheit des
obersten Hauses darstellend, das ganz Rom einschloss. Das Koenigsamt
beginnt, wenn das Amt erledigt und der Nachfolger bezeichnet ist,
sofort und von Rechts wegen; aber vollen Gehorsam ist die Gemeinde dem
Koenig erst schuldig, wenn er die Versammlung der waffenfaehigen Freien
zusammenberufen und sie foermlich in Pflicht genommen hat. Alsdann hat
er ganz die Macht in der Gemeinde, die im Hause dem Hausvater zukommt,
und herrscht wie dieser auf Lebenszeit. Er verkehrt mit den Goettern
der Gemeinde, die er befragt und befriedigt (auspicia publica), und
ernennt alle Priester und Priesterinnen. Die Vertraege, die er
abschliesst im Namen der Gemeinde mit Fremden, sind verpflichtend fuer
das ganze Volk, obwohl sonst kein Gemeindeglied durch einen Vertrag mit
dem Nichtmitglied der Gemeinschaft gebunden wird. Sein Gebot (imperium)
ist allmaechtig im Frieden wie im Kriege, weshalb die Boten (lictores,
von licere laden) mit Beilen und Ruten ihm ueberall voranschreiten, wo
er in amtlicher Funktion auftritt. Er allein hat das Recht, oeffentlich
zu den Buergern zu reden, und er ist es, der die Schluessel zu dem
Gemeindeschatz fuehrt. Ihm steht wie dem Vater das Zuechtigungsrecht
und die Gerichtsbarkeit zu. Er erkennt Ordnungsstrafen, namentlich
Stockschlaege wegen Versehen im Kriegsdienst. Er sitzt zu Gericht in
allen privaten und kriminellen Rechtshaendeln und entscheidet unbedingt
ueber Leben und Tod wie ueber die Freiheit, so dass er dem Buerger den
Mitbuerger an Knechtes Statt zusprechen oder auch den Verkauf desselben
in die wirkliche Sklaverei, also ins Ausland anordnen kann; der
Berufung an das Volk um Begnadigung nach gefaelltem Bluturteil
stattzugeben, ist er berechtigt, jedoch nicht verpflichtet. Er bietet
das Volk zum Kriege auf und er befehligt das Heer; nicht minder aber
muss er bei Feuerlaerm persoenlich auf der Brandstelle erscheinen. Wie
der Hausherr im Hause nicht der Maechtigste ist, sondern der allein
Maechtige, so ist auch der Koenig nicht der erste, sondern der einzige
Machthaber im Staate; er mag aus den der heiligen oder der
Gemeindesatzungen besonders kundigen Maennern Sachverstaendigenvereine
bilden und deren Rat einfordern; er mag, um sich die Uebung der Gewalt
zu erleichtern, einzelne Befugnisse andern uebertragen, die
Mitteilungen an die Buergerschaft, den Befehl im Kriege, die
Entscheidung der minder wichtigen Prozesse, die Aufspuerung der
Verbrechen; er mag namentlich, wenn er den Stadtbezirk zu verlassen
genoetigt ist, einen Stadtvogt (praefectus urbi) mit der vollen Gewalt
eines Stellvertreters daselbst zuruecklassen; aber jede Amtsgewalt
neben der koeniglichen ist aus dieser abgeleitet und jeder Beamte nur
durch den Koenig und so lange dieser will im Amt. Alle Beamten der
aeltesten Zeit, der ausserordentliche Stadtvogt sowohl wie die
Abteilungsfuehrer (tribuni, von tribus Teil) des Fussvolks (milites)
und der Reiterei (celeres), sind nichts als Beauftragte des Koenigs und
keineswegs Magistrate im spaeteren Sinn. Eine aeussere rechtliche
Schranke hat die Koenigsgewalt nicht und kann sie nicht haben; fuer den
Herrn der Gemeinde gibt es so wenig einen Richter innerhalb der
Gemeinde wie fuer den Hausherrn innerhalb des Hauses. Nur der Tod
beendigt seine Macht. Die Wahl des neuen Koenigs steht bei dem Rat der
Alten, auf den im Fall der Vakanz das “Zwischenkoenigtum” (interregnum)
uebergeht. Eine formelle Mitwirkung bei der Koenigswahl kommt der
Buergerschaft erst nach der Ernennung zu; rechtlich ruht das Koenigtum
auf dem dauernden Kollegium der Vaeter (patres), das durch den
interimistischen Traeger der Gewalt den neuen Koenig auf Lebenszeit
einsetzt. Also wird “der hohe Goettersegen, unter dem die beruehmte
Roma gegruendet ist”, von dem ersten koeniglichen Empfaenger in
stetiger Folge auf die Nachfolger uebertragen und die Einheit des
Staats trotz des Personenwechsels der Machthaber unveraenderlich
bewahrt. Diese Einheit des roemischen Volkes, die im religioesen Gebiet
der roemische Diovis darstellt, repraesentiert rechtlich der Fuerst,
und darum ist auch seine Tracht die des hoechsten Gottes; der Wagen
selbst in der Stadt, wo sonst jedermann zu Fuss geht, der Elfenbeinstab
mit dem Adler, die rote Gesichtsschminke, der goldene Eichenkranz
kommen dem roemischen Gott wie dem roemischen Koenig in gleicher Weise
zu. Aber man wuerde sehr irren, darum aus der roemischen Verfassung
eine Theokratie zu machen; nie sind den Italienern die Begriffe Gott
und Koenig in aegyptischer und orientalischer Weise ineinander
verschwommen. Nicht der Gott des Volkes ist der Koenig, sondern viel
eher der Eigentuemer des Staats. Darum weiss man auch nichts von
besonderer goettlicher Begnadigung eines Geschlechts oder von
irgendeinem geheimnisvollen Zauber, danach der Koenig von anderem Stoff
waere als andere Menschen; die edle Abkunft, die Verwandtschaft mit
frueheren Regenten ist eine Empfehlung, aber keine Bedingung; vielmehr
kann rechtlich jeder zu seinen Jahren gekommene und an Geist und Leib
gesunde roemische Mann zum Koenigtum gelangen ^3. Der Koenig ist also
eben nur ein gewoehnlicher Buerger, den Verdienst oder Glueck, vor
allem aber die Notwendigkeit, dass einer Herr sein muesse in jedem
Hause, zum Herrn gesetzt haben ueber seinesgleichen, den Bauer ueber
Bauern, den Krieger ueber Krieger. Wie der Sohn dem Vater unbedingt
gehorcht und doch sich nicht geringer achtet als den Vater, so
unterwirft sich der Buerger dem Gebieter, ohne ihn gerade fuer seinen
Besseren zu halten. Darin liegt die sittliche und faktische Begrenzung
der Koenigsgewalt. Der Koenig konnte zwar, auch ohne gerade das
Landrecht zu brechen, viel Unbilliges tun; er konnte den Mitstreitern
ihren Anteil an der Beute schmaelern, er konnte uebermaessige Fronden
auflegen oder sonst durch Auflagen unbillig eingreifen in das Eigentum
des Buergers; aber wenn er es tat, so vergass er, dass seine
Machtfuelle nicht von Gott kam, sondern unter Gottes Zustimmung von dem
Volke, das er vertrat, und wer schuetzte ihn, wenn dieses wieder des
Eides vergass, den es ihm geschworen? Die rechtliche Beschraenkung aber
der Koenigsgewalt lag darin, dass er das Gesetz nur zu ueben, nicht zu
aendern befugt war, jede Abweichung vom Gesetze vielmehr entweder von
der Volksversammlung und dem Rat der Alten zuvor gutgeheissen sein
musste oder ein nichtiger und tyrannischer Akt war, dem rechtliche
Folgen nicht entsprangen. So ist sittlich und rechtlich die roemische
Koenigsgewalt im tiefsten Grunde verschieden von der heutigen
Souveraenitaet und ueberhaupt im modernen Leben so wenig vom roemischen
Hause wie vom roemischen Staat ein entsprechendes Abbild vorhanden.
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^3 Dass Lahmheit vom hoechsten Amte ausschloss, sagt Dionys. Dass das
roemische Buergertum Bedingung wie des Konsuls so auch des Koenigtums
war, versteht sich so sehr von selbst, dass es kaum der Muehe wert ist,
die Fabeleien ueber den Buerger von Cures noch ausdruecklich
abzuweisen.
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Die Einteilung der Buergerschaft ruht auf der Pflegschaft, der curia
(wohl mit curare = coerare, κοίρανος verwandt); zehn Pflegschaften
bilden die Gemeinde; jede Pflegschaft stellt hundert Mann zum Fussheer
(daher mil-es, wie equ-es, der Tausendgaenger), zehn Reiter und zehn
Ratmaenner. Bei kombinierten Gemeinden erscheint eine jede derselben
natuerlich als Teil (tribus) der ganzen Gemeinde (tota umbrisch und
oskisch) und vervielfaeltigt sich die Grundzahl mit der Zahl der Teile.
Diese Einteilung bezog sich zwar zunaechst auf den Personalbestand der
Buergerschaft, ward aber ebenso auch angewandt auf die Feldmark, soweit
diese ueberhaupt aufgeteilt war. Dass es nicht bloss Teil-, sondern
auch Kurienmarken gab, kann um so weniger bezweifelt werden, als unter
den wenigen ueberlieferten roemischen Kuriennamen neben anscheinend
gentilizischen, wie zum Beispiel Faucia, auch sicher oertliche, zum
Beispiel Veliensis, vorkommen; eine jede derselben umfasste in dieser
aeltesten Zeit der Feldgemeinschaft eine Anzahl der Geschlechtsmarken,
von denen schon die Rede war.
In ihrer einfachsten Gestalt ^4 begegnet diese Verfassung in dem Schema
der spaeterhin unter roemischem Einfluss entstandenen latinischen oder
Buergergemeinden; durchgaengig zaehlten dieselben hundert Ratmaenner
(centumviri). Aber auch in der aeltesten Tradition ueber das
dreiteilige Rom, welche demselben dreissig Kurien, dreihundert Reiter,
dreihundert Senatoren; dreitausend Fusssoldaten beilegt, treten
durchgaengig dieselben Normalzahlen hervor.
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^4 Selbst in Rom, wo die einfache Zehnkurienverfassung sonst frueh
verschwunden ist, findet sich noch eine praktische Anwendung derselben,
und merkwuerdig genug eben bei demjenigen Formalakt, den wir auch sonst
Grund haben, unter allen deren unsere Rechtsueberlieferung gedenkt fuer
den aeltesten zuhalten, bei der Confarreatio. Es scheint kaum
zweifelhaft, dass deren zehn Zeugen dasselbe in der Zehnkurien-, was
die dreissig Liktoren in der Dreissigkurienverfassung sind.
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Nichts ist gewisser, als dass dieses aelteste Verfassungsschema nicht
in Rom entstanden, sondern uraltes, allen Latinern gemeinsames Recht
ist, vielleicht sogar ueber die Trennung der Staemme zurueckreicht. Die
in solchen Dingen sehr glaubwuerdige roemische Verfassungstradition,
die fuer alle uebrigen Einteilungen der Buergerschaft eine Geschichte
hat, laesst einzig die Kurieneinteilung entstehen mit der Entstehung
der Stadt; und damit im vollsten Einklang erscheint die
Kurienverfassung nicht bloss in Rom, sondern tritt in dem neuerlich
aufgefundenen Schema der latinischen Gemeindeordnungen auf als
wesentlicher Teil des latinischen Stadtrechts ueberhaupt.
Der Kern dieses Schemas war und blieb die Gliederung in Kurien. Die
“Teile” koennen schon deshalb kein wesentliches Moment gewesen sein,
weil ihr Vorkommen ueberhaupt wie nicht minder ihre Zahl zufaellig ist;
wo es deren gab, kam ihnen sicher keine andere Bedeutung zu, als dass
das Andenken an eine Epoche, wo diese Teile selber Ganze gewesen waren,
sich in ihnen bewahrte ^5. Es ist nirgends ueberliefert, dass der
einzelne Teil einen Sondervorstand und Sonderzusammenkuenfte gehabt
habe; und die grosse Wahrscheinlichkeit spricht dafuer, dass im
Interesse der Einheit des Gemeinwesens den Teilen, aus denen es
zusammengeschmolzen war, dergleichen in der Tat nie verstattet worden
sind. Selbst im Heere zaehlte das Fussvolk zwar soviel Anfuehrerpaare,
als es Teile gab; aber es befehligte nicht jedes dieser
Kriegstribunenpaare das Kontingent einer Tribus, sondern sowohl jeder
einzelne Kriegstribun wie alle zusammen geboten ueber das gesamte
Fussheer. Die Geschlechter sind unter die einzelnen Kurien verteilt,
die Grenzen derselben wie die des Hauses durch die Natur gegeben.
Darauf, dass die gesetzgebende Gewalt modifizierend in diese Kreise
eingegriffen hat, das grosse Geschlecht in Zweige gespalten und es als
doppeltes gezaehlt oder mehrere schwache zusammengeschlagen, fuehrt in
der roemischen Ueberlieferung schlechterdings keine Spur; auf jeden
Fall ist dies nur in so beschraenkter Weise geschehen, dass der
verwandtschaftliche Grundcharakter des Geschlechtes dadurch nicht
veraendert worden ist. Es wird darum weder die Zahl der Geschlechter,
noch viel weniger die der Haeuser gedacht werden duerfen als rechtlich
fixiert; wenn die Kurie hundert Mann zu Fuss und zehn Reiter zu stellen
hatte, so ist es weder ueberliefert noch glaublich, dass man aus jedem
Geschlecht einen Reiter und aus jedem Hause einen Fussgaenger genommen
hat. Das einzig funktionierende Glied in dem aeltesten
Verfassungsorganismus ist die Kurie, deren es zehn, oder wo mehrere
Teile waren, je zehn auf jeden Teil gab. Eine solche Pflegschaft war
eine wirkliche korporative Einheit, deren Mitglieder wenigstens zu
gemeinsamen Festen sich versammelten, die auch jede unter einem
besonderen Pfleger (curio) standen und einen eigenen Priester (flamen
curialis) hatten; ohne Zweifel wurde auch nach Kurien ausgehoben und
geschaetzt, und im Ding trat die Buergerschaft nach Kurien zusammen und
stimmte nach Kurien ab. Indes kann diese Ordnung nicht zunaechst der
Abstimmung wegen eingefuehrt sein, da man sonst sicherlich die Zahl der
Abteilungen ungerade gemacht haben wuerde.
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^5 Es liegt dies schon im Namen. Der “Teil” ist, wie der Jurist weiss,
nichts als ein ehemaliges oder auch ein kuenftiges Ganze, also in der
Gegenwart ohne alle Realitaet.
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So schroff der Buerger dem Nichtbuerger gegenueberstand, so vollkommen
war innerhalb der Buergerschaft die Rechtsgleichheit. Vielleicht gibt
es kein Volk, das in unerbittlich strenger Durchfuehrung des einen wie
des andern Satzes es den Roemern jemals gleichgetan hat. Die Schaerfe
des Gegensatzes zwischen Buergern und Nichtbuergern bei den Roemern
tritt vielleicht nirgends mit solcher Deutlichkeit hervor wie in der
Behandlung der uralten Institution des Ehrenbuergerrechts, welches
urspruenglich bestimmt war, diesen Gegensatz zu vermitteln. Wenn ein
Fremder durch Gemeindebeschluss in den Kreis der Buerger hineingenommen
ward, so konnte er zwar sein bisheriges Buergerrecht aufgeben, wo er
dann voellig in die neue Gemeinschaft uebertrat, aber auch jenes mit
dem ihm neu gewaehrten verbinden. So war es aelteste Sitte und so ist
es in Hellas immer geblieben, wo auch spaeterhin nicht selten derselbe
Mann in mehreren Gemeinden gleichzeitig verbuergert war. Allein das
lebendiger entwickelte Gemeindegefuehl Latiums duldete es nicht, dass
man zweien Gemeinden zugleich als Buerger angehoeren koenne, und liess
fuer den Fall, wo der neugewaehlte Buerger nicht die Absicht hatte,
sein bisheriges Gemeinderecht aufzugeben, dem nominellen
Ehrenbuergerrecht nur die Bedeutung der gastrechtlichen Freundschaft
und Schutzverpflichtung, wie sie auch Auslaendern gegenueber von jeher
vorgekommen war.
Aber mit dieser strengen Einhaltung der Schranken gegen aussen ging
Hand in Hand, dass aus dem Kreise der roemischen Buergergemeinde jede
Rechtsverschiedenheit der Glieder unbedingt ferngehalten wurde. Dass
die innerhalb des Hauses bestehenden Unterschiede, welche freilich
nicht beseitigt werden konnten, innerhalb der Gemeinde wenigstens
ignoriert wurden, wurde bereits erwaehnt; derselbe, der als Sohn dem
Vater zu eigen untergeben war, konnte also als Buerger in den Fall
kommen ihm als Herr zu gebieten. Standesvorzuege aber gab es nicht;
dass die Titier den Ramnern, beide den Lucerern in der Reihe
vorangingen, tat ihrer rechtlichen Gleichstellung keinen Eintrag. Die
Buergerreiterei, welche in dieser Zeit zum Einzelgefecht vor der Linie
zu Pferd oder auch zu Fuss verwandt ward und mehr eine Eliten- oder
Reservetruppe als eine Spezialwaffe war, also durchaus die
wohlhabendste, bestgeruestete und bestgeuebte Mannschaft in sich
schloss, war natuerlich angesehener als das Buergerfussvolk; aber auch
dieser Gegensatz war rein tatsaechlicher Art und der Eintritt in die
Reiterei ohne Zweifel jedem Patrizier gestattet. Es war einzig und
allein die verfassungsmaessige Gliederung der Buergerschaft, welche
rechtliche Unterschiede hervorrief; im uebrigen war die rechtliche
Gleichheit aller Gemeindeglieder selbst in der aeusserlichen
Erscheinung durchgefuehrt. Die Tracht zeichnete wohl den Vorsteher der
Gemeinde vor den Gliedern derselben, den erwachsenen dienstpflichtigen
Mann vor dem noch nicht heerbannfaehigen Knaben aus; uebrigens aber
durfte der Reiche und Vornehme wie der Arme und Niedriggeborene
oeffentlich nur erscheinen in dem gleichen einfachen Umwurf (toga) von
weissem Wollenstoff. Diese vollkommene Rechtsgleichheit der Buerger ist
ohne Zweifel urspruenglich begruendet in der indogermanischen
Gemeindeverfassung, aber in dieser Schaerfe der Auffassung und
Durchfuehrung doch eine der bezeichnendsten und der folgenreichsten
Eigentuemlichkeiten der latinischen Nation; und wohl mag man dabei sich
erinnern, dass in Italien keine den latinischen Einwanderern botmaessig
gewordene Rasse aelterer Ansiedlung und geringerer Kulturfaehigkeit
begegnet und damit die hauptsaechliche Gelegenheit mangelte, woran das
indische Kastenwesen, der spartanische und thessalische und wohl
ueberhaupt der hellenische Adel und vermutlich auch die deutsche
Staendescheidung angeknuepft hat.
Dass der Staatshaushalt auf der Buergerschaft ruht, versteht sich von
selbst. Die wichtigste Buergerleistung war der Heerdienst; denn nur die
Buergerschaft hatte das Recht und die Pflicht die Waffen zu tragen. Die
Buerger sind zugleich die “Kriegerschaft” (populus, verwandt mit
populari verheeren); in den alten Litaneien ist es die “speerbewehrte
Kriegsmannschaft” (pilumnus poplus), auf die der Segen des Mars
herabgefleht wird und selbst die Benennung, mit welcher der Koenig sie
anredet, der Quiriten ^6, wird als Bezeichnung des Wehrmanns gefasst.
In welcher Art das Angriffsheer, die “Lese” (legio) gebildet ward, ist
schon gesagt worden; in der dreiteiligen roemischen Gemeinde bestand
sie aus drei Hundertschaften (centuriae) der Reiter (celeres, die
Schnellen oder flexuntes, die Schwenker) unter den drei
Abteilungsfuehrern der Reiter (tribuni celerum) ^7 und drei
Tausendschaften der Fussgaenger (milites) unter den drei
Abteilungsfuehrern des Fussvolks (tribuni militum); letzteres war
vermutlich von Haus aus der Kern des Gemeindeaufgebots. Dazu moegen
etwa noch eine Anzahl ausser Reihe und Glied fechtende
Leichtbewaffnete, besonders Bogenschuetzen gekommen sein ^8. Der
Feldherr war regelmaessig der Koenig selbst. Ausser dem Kriegsdienst
konnten noch andere persoenliche Lasten den Buerger treffen, wie die
Pflicht zur Uebernahme der koeniglichen Auftraege im Kriege wie im
Frieden (I, 78) und die Fronden zur Bestellung der Aecker oder zur
Anlage oeffentlicher Bauten; wie schwer namentlich der Bau der
Stadtmauer auf der Gemeinde lastete, zeigt, dass der Name der “Fronden”
(moenia) den Ringwaellen verblieb. Eine regelmaessige direkte
Besteuerung dagegen kam ebensowenig vor wie direkte regelmaessige
Staatsausgaben. Zur Bestreitung der Gemeindelasten bedurfte es
derselben nicht, da der Staat fuer Heerfolge, Fronde und ueberhaupt
oeffentliche Dienste keine Entschaedigung gewaehrte, sondern, soweit
eine solche ueberhaupt vorkam, sie dem Dienenden entweder von dem
Bezirk geleistet ward, den zunaechst die Auflage traf, oder auch von
dem, der selber nicht dienen konnte oder wollte. Die fuer den
oeffentlichen Gottesdienst noetigen Opfertiere wurden durch eine
Prozesssteuer beschafft, indem, wer im ordentlichen Prozess unterlag,
eine nach dem Werte des Streitgegenstandes abgemessene Viehbusse
(sacramentum) an den Staat erlegte. Von stehenden Geschenken der
Gemeindebuerger an den Koenig wird nichts berichtet. Dagegen flossen
dem Koenig die Hafenzoelle zu (I, 62), sowie die Einnahme von den
Domaenen, namentlich der Weidezins (scriptura) von dem auf die
Gemeinweide aufgetriebenen Vieh und die Fruchtquote (vectigalia), die
die Nutzniesser der Staatsaecker an Zinses Statt abzugeben hatten.
Hierzu kam der Ertrag der Viehbussen und Konfiskationen und der
Kriegsgewinn. In Notfaellen endlich wurde eine Umlage (tributum)
ausgeschrieben, welche indes als gezwungene Anleihe betrachtet und in
besseren Zeitlaeuften zurueckgezahlt ward; ob dieselbe die Buerger
ueberhaupt traf, oder nur die Ansaessigen, laesst sich nicht
entscheiden, doch ist die letztere Annahme wahrscheinlicher. Der Koenig
leitete die Finanzen; mit dem koeniglichen Privatvermoegen indes, das,
nach den Angaben ueber den ausgedehnten Grundbesitz des letzten
roemischen Koenigsgeschlechts der Tarquinier zu schliessen,
regelmaessig bedeutend gewesen sein muss, fiel das Staatsvermoegen
nicht zusammen und namentlich der durch die Waffen gewonnene Acker
scheint stets als Staatseigentum gegolten zu haben. Ob und wie weit der
Koenig in der Verwaltung des oeffentlichen Vermoegens durch Herkommen
beschraenkt war, ist nicht mehr auszumachen; nur zeigt die spaetere
Entwicklung, dass die Buergerschaft hierbei nie gefragt worden sein
kann, wogegen es Sitte sein mochte, die Auflage des Tributum und die
Verteilung des im Kriege gewonnenen Ackerlandes mit dem Senat zu
beraten.
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^6 Quĭris quirītis oder quirinus wird von den Alten gedeutet als der
Lanzentraeger, von quĭris oder cŭris = Lanze und ire, und faellt ihnen
insofern zusammen mit samnis, samnitis und săbinus, das auch bei den
Alten von σαύνιον, Speer, hergeleitet wird. Mag diese Etymologie, die
sich anschliesst an arquites, milites, pedites, equites, velites, die
mit dem Bogen, die im Tausend, die zu Fuss, die zu Pferde, die ohne
Ruestung im blossen Oberwurf gehen, auch unrichtig sein, sie ist mit
der roemischen Auffassung des Buergerbegriffs verwachsen. Ebenso werden
die Juno quiritis, der (Mars) quirinus, der Janus quirinus als
speerschwingende Gottheiten gedacht; und von Menschen gebraucht ist
quiris der Wehrmann, das ist der Vollbuerger. Damit stimmt der
Sprachgebrauch ueberein. Wo die Oertlichkeit bezeichnet werden soll,
wird nie von Quiriten gesprochen, sondern stets von Rom und Roemern
(urbs Roma, populus, civis, ager Romanus), weil die Benennung quiris so
wenig eine lokale Bedeutung hat wie civis oder miles. Eben darum
koennen auch diese Bezeichnungen nicht miteinander verbunden werden:
man sagt nicht civis quiris, weil beides, wenngleich von verschiedenen
Standpunkten aus, denselben Rechtsbegriff bezeichnet. Dagegen lautet
die feierliche Ankuendigung der Buergerleiche darauf, dass “dieser
Wehrmann mit Tode abgegangen” (ollus quiris leto datus), und ebenso
redet der Koenig die versammelte Gemeinde mit diesem Namen an und
spricht, wenn er zu Gericht sitzt, nach dem Rechte der wehrhaften
Freien (ex iure quiritium, ganz gleich dem juengeren ex iure civili).
Populus Romanus, quirites ( populus Romanus quiritium ist nicht
genuegend beglaubigt) heisst also “die Gemeinde und die einzelnen
Buerger” und werden darum in einer alten Formel (Liv. 1, 31) dem
populus Romanus die prisci Latini, den quirites die homines prisci
Latini entgegengesetzt (Becker, Handbuch, Bd. 2, S. 20f.). Diesen
Tatsachen gegenueber kann nur sprachliche und sachliche Unkende noch
festhalten an der Vorstellung, als habe der roemischen Gemeinde einst
eine gleichartige quiritische gegenuebergestanden und nach deren
Inkorporierung der Name der neu aufgenommenen Gemeinde den der
aufnehmenden im sakralen und rechtlichen Sprachgebrauch verdraengt.
Vgl. 1, 68 A.
^7 Unter den acht sakralen Institutionen des Numa fuehrt Dionysios (2,
64) nach den Kurionen und den Flamines als dritte auf die Fuehrer der
Reiter (οι ηγεμόνες τών Κελερίων). Nach dem praenestinischen Kalender
wird am 19. Maerz ein Fest auf dem Comitium begangen [adstantibus
pon]tificibus et trib(unis) celer(um). Valerius Antias (bei Dion. Hal.
1, 13 vgl. 3, 41) gibt der aeltesten roemischen Reiterei einen Fuehrer
Celer und drei Centurionen, wogegen in der Schrift ‘De viris
illustribus’ 1 Celer selbst centurio genannt wird. Ferner soll Brutus
bei Vertreibung der Koenige tribunus celerum gewesen sein (Liv. 1, 59),
nach Dionysios (4, 71) sogar kraft dieses Amtes die Verbannung der
Tarquinier beantragt haben. Endlich identifizieren Pomponius (dig. 1,
2, 2, 15; 19) und aehnlich, zum Teil wohl aus ihm schoepfend, Lydus
(mag. 1, 14; 37) den tribunus celerum mit dem Celer des Antias, dem
magister equitum des republikanischen Diktators, dem Praefectus
Praetorio der Kaiserzeit.
Von diesen Angaben, den einzigen, die ueber die tribuni celerum
vorhanden sind, ruehrt die letzte nicht bloss von spaeten und gaenzlich
unzuverlaessigen Gewaehrsmaennern her, sondern widerspricht auch der
Bedeutung des Namens, welcher nur “Teilfuehrer der Reiter” heissen
kann; vor allen Dingen aber kann der immer nur ausserordentlich und
spaeterhin gar nicht mehr ernannte Reiterfuehrer der republikanischen
Zeit unmoeglich identisch gewesen sein mit der fuer das Jahrfest des
19. Maerz erforderlichen, also stehenden Magistratur. Sieht man, wie
man notwendig muss, ab von der Nachricht des Pomponius, die offenbar
lediglich hervorgegangen ist aus der mit immer steigender Unwissenheit
historisierten Brutusanekdote, so ergibt sich einfach, dass die tribuni
celerum den tribuni militum in Zahl und Wesen durchaus entsprechen und
die Abteilungsfuehrer der Reiter gewesen sind, also voellig verschieden
von dem Reiterfeldherrn.
^8 Darauf deuten die offenbar uralten Wortbildungen velites und
arquites und die spaetere Organisation der Legion.
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Indes nicht bloss leistend und dienend erscheint die roemische
Buergerschaft, sondern auch beteiligt an dem oeffentlichen Regimente.
Es traten hierzu die Gemeindeglieder alle, mit Ausnahme der Weiber und
der noch nicht waffenfaehigen Kinder, also, wie die Anrede lautet, die
“Lanzenmaenner” (quirites) auf der Dingstaette zusammen, wenn der
Koenig sie berief, um ihnen eine Mitteilung zu machen (conventio,
contio) oder auch sie foermlich auf die dritte Woche (in trinum
noundinum) zusammentreten hiess (comitia), um sie nach Kurien zu
befragen. Ordnungsmaessig setzte derselbe zweimal im Jahr, zum 24.
Maerz und zum 24. Mai, dergleichen foermliche Gemeindeversammlungen an
und ausserdem, so oft es ihm erforderlich schien; immer aber lud er die
Buerger nicht zum Reden, sondern zum Hoeren, nicht zum Fragen, sondern
zum Antworten. Niemand spricht in der Versammlung als der Koenig oder
wem er das Wort zu gestatten fuer gut findet; die Rede der
Buergerschaft ist einfache Antwort auf die Frage des Koenigs, ohne
Eroerterung, ohne Begruendung, ohne Bedingung, ohne Fragteilung.
Nichtsdestoweniger ist die roemische Buergergemeinde eben wie die
deutsche und vermutlich die aelteste indogermanische ueberhaupt die
eigentliche und letzte Traegerin der Idee des souveraenen Staats;
allein diese Souveraenitaet ruht im ordentlichen Lauf der Dinge oder
aeussert sich doch hier nur darin, dass die Buergerschaft sich zum
Gehorsam gegen den Vorsteher freiwillig verpflichtet. Zu diesem Ende
richtet der Koenig, nachdem er sein Amt angetreten hat, an die
versammelten Kurien die Frage, ob sie ihm treu und botmaessig sein und
ihn selbst wie seine Boten (lictores) in hergebrachter Weise anerkennen
wollen; eine Frage, die ohne Zweifel ebensowenig verneint werden
durfte, als die ihr ganz aehnliche Huldigung in der Erbmonarchie
verweigert werden darf. Es war durchaus folgerichtig, dass die
Buergerschaft, eben als der Souveraen, ordentlicher Weise an dem Gang
der oeffentlichen Geschaefte sich nicht beteiligte. Solange die
oeffentliche Taetigkeit sich beschraenkt auf die Ausuebung der
bestehenden Rechtsordnungen, kann und darf die eigentlich souveraene
Staatsgewalt nicht eingreifen: es regieren die Gesetze, nicht der
Gesetzgeber. Aber anders ist es, wo eine Aenderung der bestehenden
Rechtsordnung oder auch nur eine Abweichung von derselben in einem
einzelnen Fall notwendig wird; und hier tritt denn auch in der
roemischen Verfassung ohne Ausnahme die Buergerschaft handelnd auf, so
dass ein solcher Akt der souveraenen Staatsgewalt vollzogen wird durch
das Zusammenwirken der Buergerschaft und des Koenigs oder
Zwischenkoenigs. Wie das Rechtsverhaeltnis zwischen Regent und
Regierten selbst durch muendliche Frage und Antwort kontraktmaessig
sanktioniert wird, so wird auch jeder Oberherrlichkeitsakt der Gemeinde
zustande gebracht durch eine Anfrage (rogatio), welche der Koenig an
die Buerger gerichtet und welcher die Mehrzahl der Kurien zugestimmt
hat; in welchem Fall die Zustimmung ohne Zweifel auch verweigert werden
durfte. Darum ist den Roemern das Gesetz nicht zunaechst, wie wir es
fassen, der von dem Souveraen an die saemtlichen Gemeindeglieder
gerichtete Befehl, sondern zunaechst der zwischen den konstitutiven
Gewalten des Staates durch Rede und Gegenrede abgeschlossene Vertrag
^9. Einer solchen Gesetzvertragung bedurfte es rechtlich in allen
Faellen, die der ordentlichen Rechtskonsequenz zuwiderliefen. Im
gewoehnlichen Rechtslauf kann jeder unbeschraenkt sein Eigentum
weggeben an wen er will, allein nur in der Art, dass er dasselbe sofort
aufgibt; dass das Eigentum vorlaeufig dem Eigentuemer bleibe und bei
seinem Tode auf einen andern uebergehe, ist rechtlich unmoeglich - es
sei denn, dass ihm die Gemeinde solches gestatte; was hier nicht bloss
die auf dem Markt versammelte, sondern auch die zum Kampf sich ordnende
Buergerschaft bewilligen konnte. Dies ist der Ursprung der Testamente.
Im gewoehnlichen Rechtslauf kann der freie Mann das unveraeusserliche
Gut der Freiheit nicht verlieren noch weggeben, darum auch, wer keinem
Hausherrn untertan ist, sich nicht einem andern an Sohnes Statt
unterwerfen - es sei denn, dass ihm die Gemeinde solches gestatte. Dies
ist die Adrogation. Im gewoehnlichen Rechtslauf kann das Buergerrecht
nur gewonnen werden durch die Geburt und nicht verloren werden - es sei
denn, dass die Gemeinde das Patriziat verleihe oder dessen Aufgeben
gestatte, was beides unzweifelhaft urspruenglich ohne Kurienbeschluss
nicht in gueltiger Weise geschehen konnte. Im gewoehnlichen Rechtslauf
trifft den todeswuerdigen Verbrecher, nachdem der Koenig oder sein
Stellvertreter nach Urteil und Recht den Spruch getan, unerbittlich die
Todesstrafe, da der Koenig nur richten, nicht begnadigen kann - es sei
denn, dass der zum Tode verurteilte Buerger die Gnade der Gemeinde
anrufe und der Richter ihm die Betretung des Gnadenwegs freigebe. Dies
ist der Anfang der Provokation, die darum auch vorzugsweise nicht dem
leugnenden Verbrecher gestattet wird, der ueberwiesen ist, sondern dem
gestaendigen, der Milderungsgruende geltend macht. Im gewoehnlichen
Rechtslauf darf der mit einem Nachbarstaat geschlossene ewige Vertrag
nicht gebrochen werden - es sei denn, dass wegen zugefuegter Unbill die
Buergerschaft sich desselben entbunden erachtet. Daher musste sie
notwendig befragt werden, wenn ein Angriffskrieg beabsichtigt wird,
nicht aber bei dem Verteidigungskrieg, wo der andere Staat den Vertrag
bricht, noch auch beim Abschluss des Friedens; doch richtete sich jene
Frage, wie es scheint, nicht an die gewoehnliche Versammlung der
Buerger, sondern an das Heer. So wird endlich ueberhaupt, wenn der
Koenig eine Neuerung beabsichtigt, eine Aenderung des bestehenden
gemeinen Rechtes, es notwendig, die Buerger zu befragen; und insofern
ist das Recht der Gesetzgebung von alters her nicht ein Recht des
Koenigs, sondern ein Recht des Koenigs und der Gemeinde. In diesen und
in allen aehnlichen Faellen konnte der Koenig ohne Mitwirkung der
Gemeinde nicht mit rechtlicher Wirkung handeln; der vom Koenig allein
zum Patrizier erklaerte Mann blieb nach wie vor Nichtbuerger, und es
konnte der nichtige Akt nur etwa faktische Folgen erzeugen. Insofern
war also die Gemeindeversammlung, wie beschraenkt und gebunden sie auch
auftrat, doch von alters her ein konstitutives Element des roemischen
Gemeinwesens und stand dem Rechte nach mehr ueber als neben dem Koenig.
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^9 Lēx, die Bindung (verwandt mit lēgare, zu etwas verbinden)
bezeichnet bekanntlich ueberhaupt den Vertrag, jedoch mit der
Nebenbedeutung eines Vertrages, dessen Bedingungen der Proponent
diktiert und der andere Teil einfach annimmt oder ablehnt; wie dies z.
B. bei oeffentlichen Lizitationen der Fall zu sein pflegt. Bei der lex
publica populi Romani ist der Proponent der Koenig, der Akzeptant das
Volk; die beschraenkte Mitwirkung des letzteren ist also auch
sprachlich praegnant bezeichnet.
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Aber neben dem Koenig und neben der Buergerversammlung erscheint in der
aeltesten Gemeindeverfassung noch eine dritte Grundgewalt, nicht zum
Handeln bestimmt wie jener noch zum Beschliessen wie diese, und dennoch
neben beide und innerhalb ihres Rechtskreises ueber beide gesetzt. Dies
ist der Rat der Alten oder der senatus. Unzweifelhaft ist derselbe
hervorgegangen aus der Geschlechtsverfassung: die alte Ueberlieferung,
dass in dem urspruenglichen Rom die saemtlichen Hausvaeter den Senat
gebildet haetten, ist staatsrechtlich insofern richtig, als jedes der
nicht erst nachher zugewanderten Geschlechter des spaeteren Rom seinen
Ursprung zurueckfuehrte auf einen jener Hausvaeter der aeltesten Stadt
als auf seinen Stammvater und Patriarchen. Wenn, wie dies
wahrscheinlich ist, es in Rom oder doch in Latium einmal eine Zeit
gegeben hat, wo wie der Staat selbst, so auch jedes seiner letzten
Bestandteile, das heisst jedes Geschlecht gleichsam monarchisch
organisiert war und unter einem, sei es durch Wahl der
Geschlechtsgenossen oder des Vorgaengers, sei es durch Erbfolge
bestimmten Aeltesten stand, so ist in derselben Epoche auch der Senat
nichts gewesen als die Gesamtheit dieser Gechlechtsaeltesten und
demnach eine vom Koenig wie von der Buergerversammlung unabhaengige
Institution, gegenueber der letzteren, unmittelbar durch die Gesamtheit
der Buerger gebildeten gewissermassen eine repraesentative Versammlung
von Volksvertretern. Allerdings ist jene gleichsam staatliche
Selbstaendigkeit der Geschlechter bei dem latinischen Stamm in
unvordenklich frueher Zeit ueberwunden und der erste und vielleicht
schwerste Schritt, um aus der Geschlechtsordnung die Gemeinde zu
entwickeln, die Beseitigung der Geschlechtsaeltesten, moeglicherweise
in Latium lange vor der Gruendung Roms getan worden; wie wir das
roemische Geschlecht kennen, ist es durchaus ohne ein sichtbares Haupt
und zur Vertretung des gemeinsamen Patriarchen, von dem alle
Geschlechtsmaenner abstammen oder abzustammen behaupten, von den
lebenden Geschlechtsgenossen kein einzelner vorzugsweise berufen, so
dass selbst Erbschaft und Vormundschaft, wenn sie dem Geschlecht
ansterben, von den Geschlechtsgenossen insgesamt geltend gemacht
werden. Aber nichtsdestoweniger sind von dem urspruenglichen Wesen des
Rates der Aeltesten auch auf den roemischen Senat noch viele und
wichtige Rechtsfolgen uebergegangen; um es mit einem Worte zu sagen,
die Stellung des Senats, wonach er etwas anderes und mehr ist als ein
blosser Staatsrat, als die Versammlung einer Anzahl vertrauter Maenner,
deren Ratschlaege der Koenig einzuholen zweckmaessig findet, beruht
lediglich darauf, dass er einst eine Versammlung gewesen war gleich
jener, die Homer schildert, der um den Koenig im Kreise herum zu Rate
sitzenden Fuersten und Herren des Volkes. Solange der Senat durch die
Gesamtheit der Geschlechtshaeupter gebildet ward, kann die Zahl der
Mitglieder eine feste nicht gewesen sein, da die der Geschlechter es
auch nicht war; aber in fruehester, vielleicht schon in vorroemischer
Zeit ist die Zahl der Mitglieder des Rats der Aeltesten fuer die
Gemeinde ohne Ruecksicht auf die Zahl der zur Zeit vorhandenen
Geschlechter auf hundert festgestellt worden, sodass von der
Verschmelzung der drei Urgemeinden die Vermehrung der Senatssitze auf
die seitdem feststehende Normalzahl von dreihundert die staatsrechtlich
notwendige Folge war. Auf Lebenszeit ferner sind die Ratsherren zu
allen Zeiten berufen worden; und wenn in spaeterer Zeit dies
lebenslaengliche Verbleiben mehr tatsaechlich als von Rechts wegen
eintrat und die von Zeit zu Zeit stattfindenden Revisionen der
Senatsliste eine Gelegenheit darboten, den unwuerdigen oder auch nur
missliebigen Ratsherrn zu beseitigen, so hat diese Einrichtung sich
nachweislich erst im Laufe der Zeit entwickelt. Die Wahl der Senatoren
hat allerdings, seit es Geschlechtshaeupter nicht mehr gab, bei dem
Koenig gestanden; wohl aber mag bei dieser Wahl in aelterer Zeit,
solange noch die Individualitaet der Geschlechter im Volke lebendig
war, als Regel, wenn ein Senator starb, der Koenig einen anderen
erfahrenen und bejahrten Mann derselben Geschlechtsgenossenschaft an
seine Stelle berufen haben. Vermutlich ist erst mit der steigenden
Verschmelzung und inneren Einigung der Volksgemeinde hiervon abgegangen
worden und die Auswahl der Ratsherren ganz in das freie Ermessen des
Koenigs uebergegangen, so dass nur das noch als Missbrauch erschien,
wenn er erledigte Stellen unbesetzt liess.
Die Befugnis dieses Rates der Aeltesten beruht auf der Anschauung, dass
die Herrschaft ueber die aus den Geschlechtern gebildete Gemeinde von
Rechts wegen den saemtlichen Geschlechtsaeltesten zusteht, wenn sie
auch, nach der schon in dem Hause so scharf sich auspraegenden
monarchischen Grundanschauung der Roemer, zur Zeit immer nur von einem
dieser Aeltesten, das ist von dem Koenig, ausgeuebt werden kann. Ein
jedes Mitglied des Senats ist also als solches, nicht der Ausuebung,
aber der Befugnis nach, ebenfalls Koenig der Gemeinde; weshalb auch
seine Abzeichen zwar geringer als die koeniglichen, aber denselben
gleichartig sind: er traegt den roten Schuh gleich dem Koenig, nur dass
der des Koenigs hoeher und ansehnlicher ist als der des Senators.
Hierauf beruht es ferner, dass, wie bereits erwaehnt ward, die
koenigliche Gewalt in der roemischen Gemeinde ueberhaupt nicht erledigt
werden kann. Stirbt der Koenig, so treten ohne weiteres die Aeltesten
an seine Stelle und ueben die Befugnisse der koeniglichen Gewalt.
Jedoch nach dem unwandelbaren Grundsatz, dass nur einer zur Zeit Herr
sein kann, herrscht auch jetzt immer nur einer von ihnen und es
unterscheidet sich ein solcher “Zwischenkoenig” (interrex) von dem auf
Lebenszeit ernannten zwar in der Dauer, nicht aber in der Fuelle der
Gewalt. Die Dauer des Zwischenkoenigtums ist fuer die einzelnen Inhaber
festgesetzt auf hoechstens fuenf Tage; es geht dasselbe demnach unter
den Senatoren in der Art um, dass, bis das Koenigtum auf die Dauer
wieder besetzt ist, der zeitige Inhaber bei Ablauf jener Frist gemaess
der durch das Los festgesetzten Reihenfolge es dem Nachfolger ebenfalls
auf fuenf Tage uebergibt. Ein Treuwort wird dem Zwischenkoenig
begreiflicherweise von der Gemeinde nicht geleistet. Im uebrigen aber
ist der Zwischenkoenig berechtigt und verpflichtet, nicht bloss alle
dem Koenig sonst zustehenden Amtshandlungen vorzunehmen, sondern selbst
einen Koenig auf Lebenszeit zu ernennen - nur dem erstbestellten von
ihnen fehlt ausnahmsweise das letztere Recht, vermutlich weil dieser
angesehen wird als mangelhaft eingesetzt, da er nicht von seinem
Vorgaenger ernannt ist. Also ist diese Aeltestenversammlung am letzten
Ende die Traegerin der Herrschermacht (imperium) und des Gottesschutzes
(auspicia) des roemischen Gemeinwesens und in ihr die Buergschaft
gegeben fuer die ununterbrochene Dauer desselben und seiner
monarchischen, nicht aber erblich monarchischen Ordnung. Wenn also
dieser Senat spaeter den Griechen eine Versammlung von Koenigen zu sein
duenkte, so ist das nur in der Ordnung: urspruenglich ist er in der Tat
eine solche gewesen.
Aber nicht bloss insofern der Begriff des ewigen Koenigtums in dieser
Versammlung seinen lebendigen Ausdruck fand, ist sie ein wesentliches
Glied der roemischen Gemeindeverfassung. Zwar hat der Rat der Aeltesten
sich nicht in die Amtstaetigkeit des Koenigs einzumischen. Seine
Stellvertreter freilich hat dieser, falls er nicht imstande war, selbst
das Heer zu fuehren oder den Rechtsstreit zu entscheiden, wohl von
jeher aus dem Senat genommen - weshalb auch spaeter noch die hoechsten
Befehlshaberstellen regelmaessig nur an Senatoren vergeben und ebenso
als Geschworene vorzugsweise Senatoren verwendet werden. Aber weder bei
der Heerleitung noch bei der Rechtsprechung ist der Senat in seiner
Gesamtheit je zugezogen worden; weshalb es auch in dem spaeteren Rom
nie ein militaerisches Befehlsrecht und keine Gerichtsbarkeit des
Senats gegeben hat. Aber wohl galt der Rat der Alten als der berufene
Wahrer der bestehenden Verfassung, selbst gegenueber dem Koenig und der
Buergerschaft. Es lag deshalb ihm ob, jeden auf Antrag des Koenigs von
dieser gefassten Beschluss zu pruefen und, wenn derselbe die
bestehenden Rechte zu verletzen schien, demselben die Bestaetigung zu
versagen; oder, was dasselbe ist, in allen Faellen, wo
verfassungsmaessig ein Gemeindebeschluss erforderlich war, also bei
jeder Verfassungsaenderung, bei der Aufnahme neuer Buerger, bei der
Erklaerung eines Angriffskrieges, kam dem Rat der Alten ein Veto zu.
Allerdings darf man dies wohl nicht so auffassen, als habe die
Gesetzgebung der Buergerschaft und dem Rat gemeinschaftlich
zugestanden, etwa wie den beiden Haeusern in dem heutigen
konstitutionellen Staat: der Senat war nicht sowohl Gesetzgeber als
Gesetzwaechter und konnte den Beschluss nur dann kassieren, wenn die
Gemeinde ihre Befugnisse ueberschritten, also bestehende
Verpflichtungen gegen die Goetter oder gegen auswaertige Staaten oder
auch organische Einrichtungen der Gemeinde durch ihren Beschluss
verletzt zu haben schien. Immer aber bleibt es vom groessten Gewichte,
dass zum Beispiel, wenn der roemische Koenig die Kriegserklaerung
beantragt und die Buergerschaft dieselbe zum Beschluss erhoben hatte,
auch die Suehne, welche die auswaertige Gemeinde zu erlegen
verpflichtet schien, von derselben umsonst gefordert worden war, der
roemische Sendbote die Goetter zu Zeugen der Unbill anrief, und mit den
Worten schloss: “darueber aber wollen wir Alten Rat pflegen daheim, wie
wir zu unsrem Rechte kommen”; erst wenn der Rat der Alten sich
einverstanden erklaert hatte, war der nun von der Buergerschaft
beschlossene, vom Senat gebilligte Krieg foermlich erklaert. Gewiss war
es weder die Absicht noch die Folge dieser Satzung, ein stetiges
Eingreifen des Senats in die Beschluesse der Buergerschaft
hervorzurufen und durch solche Bevormundung die Buergerschaft ihrer
souveraenen Gewalt zu entkleiden; aber wie im Fall der Vakanz des
hoechsten Amtes der Senat die Dauer der Gemeindeverfassung verbuergte,
finden wir auch hier ihn als den Hort der gesetzlichen Ordnung
gegenueber selbst der hoechsten Gewalt, der Gemeinde.
Hieran wahrscheinlich knuepft endlich auch die allem Anschein nach
uralte Uebung an, dass der Koenig die an die Volksgemeinde zu
bringenden Antraege vorher dem Rat der Alten vorlegte und dessen
saemtliche Mitglieder eines nach dem anderen darueber ihr Gutachten
abgeben liess. Da dem Senat das Recht zustand, den gefassten Beschluss
zu kassieren, so lag es dem Koenig nahe, sich vorher die Ueberzeugung
zu verschaffen, dass Widerspruch hier nicht zu befuerchten sei; wie
denn ueberhaupt einerseits die roemische Sitte es mit sich brachte, in
wichtigen Faellen sich nicht zu entscheiden, ohne anderer Maenner Rat
vernommen zu haben, anderseits der Senat seiner ganzen Zusammensetzung
nach dazu berufen war, dem Herrscher der Gemeinde als Staatsrat zur
Seite zu stehen. Aus diesem Raterteilen ist, weit mehr als aus der
bisher bezeichneten Kompetenz, die spaetere Machtfuelle des Senats
hervorgegangen; die Anfaenge indes sind unscheinbar und gehen
eigentlich auf in die Befugnis der Senatoren, dann zu antworten, wenn
sie gefragt werden. Es mag ueblich gewesen sein, bei Angelegenheiten
von Wichtigkeit, die weder richterliche noch feldherrliche waren, also
zum Beispiel, abgesehen von den an die Volksversammlung zu bringender
Antraegen, auch bei der Auflage von Fronden und Steuern, bei der
Einberufung der Buerger zum Wehrdienst und bei Verfuegungen ueber das
eroberte Gebiet, den Senat vorher zu fragen; aber wenn auch ueblich,
rechtlich notwendig war eine solche vorherige Befragung nicht. Der
Koenig beruft den Rat, wenn es ihm beliebt und legt die Fragen ihm vor;
ungefragt darf kein Ratsherr seine Meinung sagen, noch weniger der Rat
sich ungeladen versammeln, abgesehen von dem einen Fall, wo er in der
Vakanz zusammentritt, um die Reihenfolge der Zwischenkoenige
festzustellen. Dass es ferner dem Koenig zusteht, neben den Senatoren
und gleichzeitig mit ihnen auch andere Maenner seines Vertrauens zu
berufen und zu befragen, ist in hohem Grade wahrscheinlich. Der
Ratschlag sodann ist kein Befehl; der Koenig kann es unterlassen, ihm
zu folgen, ohne dass dem Senat ein anderes Mittel zustaende, seiner
Ansicht praktische Geltung zu schaffen als jenes frueher erwaehnte
keineswegs allgemein anwendbare Kassationsrecht. “Ich habe euch
gewaehlt, nicht dass ihr mich leitet, sondern um euch zu gebieten”:
diese Worte, die ein spaeterer Schriftsteller dem Koenig Romulus in den
Mund legt, bezeichnen nach dieser Seite hin die Stellung des Senats
gewiss im wesentlichen richtig.
Fassen wir die Ergebnisse zusammen. Es war die roemische
Buergergemeinde, an welcher der Begriff der Souveraenitaet haftete;
aber allein zu handeln war sie nie, mitzuhandeln nur dann befugt, wenn
von der bestehenden Ordnung abgegangen werden sollte. Neben ihr stand
die Versammlung der lebenslaenglich bestellten Gemeindeaeltesten,
gleichsam ein Beamtenkollegium mit koeniglicher Gewalt, berufen im Fall
der Erledigung des Koenigsamtes, dasselbe bis zur definitiven
Wiederbesetzung durch ihre Mitglieder zu verwalten, und befugt, den
rechtswidrigen Beschluss der Gemeinde umzustossen. Die koenigliche
Gewalt selber war, wie Sallust sagt, zugleich unbeschraenkt und durch
die Gesetze gebunden (imperium legitimum); unbeschraenkt, insofern des
Koenigs Gebot, gerecht oder nicht, zunaechst unbedingt vollzogen werden
musste, gebunden, insofern ein dem Herkommen zuwiderlaufendes und nicht
von dem wahren Souveraen, dem Volke, gutgeheissenes Gebot auf die Dauer
keine rechtlichen Folgen erzeugte. Also war die aelteste roemische
Verfassung gewissermassen die umgekehrte konstitutionelle Monarchie.
Wie in dieser der Koenig als Inhaber und Traeger der Machtfuelle des
Staates gilt und darum zum Beispiel die Gnadenakte lediglich von ihm
ausgehen, den Vertretern des Volkes aber und den ihnen verantwortlichen
Beamten die Staatsverwaltung zukommt, so war die roemische
Volksgemeinde ungefaehr, was in England der Koenig ist und das
Begnadigungsrecht, wie in England ein Reservatrecht der Krone, so in
Rom ein Reservatrecht der Volksgemeinde, waehrend alles Regiment bei
dem Vorsteher der Gemeinde stand.
Fragen wir endlich nach dem Verhaeltnis des Staates selbst zu dessen
einzelnen Gliedern, so finden wir den roemischen Staat gleich weit
entfernt von der Lockerheit des blossen Schutzverbandes und von der
modernen Idee einer unbedingten Staatsallmacht. Die Gemeinde verfuegte
wohl ueber die Person des Buergers durch Auflegung von Gemeindelasten
und Bestrafung der Vergehen und Verbrechen; aber ein Spezialgesetz, das
einen einzelnen Mann wegen nicht allgemein verpoenter Handlungen mit
Strafe belegte oder bedrohte, ist, selbst wenn in den Formen nicht
gefehlt war, doch den Roemern stets als Willkuer und Unrecht
erschienen. Bei weitem beschraenkter noch war die Gemeinde hinsichtlich
der Eigentums- und, was damit mehr zusammenfiel als zusammenhing, der
Familienrechte; in Rom wurde nicht, wie in dem lykurgischen
Polizeistaat, das Haus geradezu vernichtet und die Gemeinde auf dessen
Kosten gross gemacht. Es ist einer der unleugbarsten wie einer der
merkwuerdigsten Saetze der aeltesten roemischen Verfassung, dass der
Staat den Buerger wohl fesseln und hinrichten, aber nicht ihm seinen
Sohn oder seinen Acker wegnehmen oder auch nur ihn mit bleibender
Wirkung besteuern durfte. In diesen und aehnlichen Dingen war selbst
die Gemeinde dem Buerger gegenueber beschraenkt, und diese
Rechtsschranke bestand nicht bloss im Begriff, sondern fand ihren
Ausdruck und ihre praktische Anwendung in dem verfassungsmaessigen Veto
des Senats, der gewiss befugt und verpflichtet war, jeden einem solchen
Grundrecht zuwiderlaufenden Gemeindebeschluss zu vernichten. Keine
Gemeinde war innerhalb ihres Kreises so wie die roemische allmaechtig;
aber in keiner Gemeinde auch lebte der unstraeflich sich fuehrende
Buerger in gleich unbedingter Rechtssicherheit gegenueber seinen
Mitbuergern wie gegenueber dem Staat selbst.
So regierte sich die roemische Gemeinde, ein freies Volk, das zu
gehorchen verstand, in klarer Absagung von allem mystischen
Priesterschwindel, in unbedingter Gleichheit vor dem Gesetz und unter
sich, in scharfer Auspraegung der eigenen Nationalitaet, waehrend
zugleich - es wird dies nachher dargestellt werden - dem Verkehr mit
dem Auslande so grossherzig wie verstaendig die Tore weit aufgetan
wurden. Diese Verfassung ist weder gemacht noch erborgt, sondern
erwachsen in und mit dem roemischen Volke. Es versteht sich, dass sie
auf der aelteren italischen, graecoitalischen und indogermanischen
Verfassung beruht; aber es liegt doch eine unuebersehbar lange Kette
staatlicher Entwicklungsphasen zwischen den Verfassungen, wie die
Homerischen Gedichte oder Tacitus’ Bericht ueber Deutschland sie
schildern, und der aeltesten Ordnung der roemischen Gemeinde. In dem
Zuruf des hellenischen, in dem Schildschlagen des deutschen Umstandes
lag wohl auch eine Aeusserung der souveraenen Gewalt der Gemeinde; aber
es war weit von da bis zu der geordneten Kompetenz und der geregelten
Erklaerung der latinischen Kurienversammlung. Es mag ferner sein, dass,
wie das roemische Koenigtum den Purpurmantel und den Elfenbeinstab
sicher den Griechen - nicht den Etruskern - entlehnt hat, so auch die
zwoelf Liktoren und andere Aeusserlichkeiten mehr vom Ausland
heruebergenommen worden sind. Aber wie entschieden die Entwicklung des
roemischen Staatsrechts nach Rom oder doch nach Latium gehoert, und wie
wenig und wie unbedeutend das Geborgte darin ist, beweist die
durchgaengige Bezeichnung aller seiner Begriffe mit Woertern
latinischer Praegung.
Diese Verfassung ist es, die die Grundgedanken des roemischen Staats
fuer alle Zeiten tatsaechlich festgestellt hat; denn trotz der
wandelnden Formen steht es fest, solange es eine roemische Gemeinde
gibt, dass der Beamte unbedingt befiehlt, dass der Rat der Alten die
hoechste Autoritaet im Staate ist und dass jede Ausnahmebestimmung der
Sanktionierung des Souveraens bedarf, das heisst der Volksgemeinde.
KAPITEL VI.
Die Nichtbürger und die reformierte Verfassung
Die Geschichte einer jeden Nation, der italischen aber vor allen, ist
ein grosser Synoekismus: schon das aelteste Rom, von dem wir Kunde
haben, ist ein dreieiniges, und erst mit der voelligen Erstarrung des
Roemerrums endigen die aehnlichen Inkorporationen. Abgesehen von jenem
aeltesten Verschmelzungsprozess der Ramner, Titier und Lucerer, von dem
fast nur die nackte Tatsache bekannt ist, ist der frueheste derartige
Inkorporationsakt derjenige, durch den die Huegelbuergerschaft aufging
in dem palatinischen Rom. Die Ordnung der beiden Gemeinden wird, als
sie verschmolzen werden sollten, im wesentlichen gleichartig und die
durch die Vereinigung gestellte Aufgabe in der Art gedacht werden
duerfen, dass man zu waehlen hatte zwischen dem Festhalten der
Doppelinstitution oder, unter Aufhebung der einen, der Beziehung der
uebrigbleibenden auf die ganze vereinigte Gemeinde. Hinsichtlich der
Heiligtuemer und Priesterschaften hielt man im ganzen den ersten Weg
ein. Die roemische Gemeinde besass fortan zwei Springer- und zwei
Wolfsgilden und wie einen zwiefachen Mars, so auch einen zwiefachen
Marspriester, von denen sich spaeterhin der palatinische den Priester
des Mars, der collinische den des Quirinus zu nennen pflegte. Es ist
glaublich, wenngleich nicht mehr nachzuweisen, dass die gesamten
altlatinischen Priesterschaften Roms, der Augurn, Pontifices, Vestalen,
Fetialen in gleichartiger Weise aus den kombinierten Priesterkollegien
der beiden Gemeinden vom Palatin und vom Quirinal hervorgegangen sind.
Ferner trat in der oertlichen Einteilung zu den drei Quartieren der
palatinischen Stadt, Subura, Palatin und Vorstadt, die Huegelstadt auf
dem Quirinal als viertes hinzu. Wenn dagegen bei dem urspruenglichen
Synoekismus die beitretende Gemeinde auch nach der Vereinigung
wenigstens als Teil der neuen Buergerschaft gegolten und somit
gewissermassen politisch fortbestanden hatte, so ist dies weder in
Beziehung auf die Huegelroemer noch ueberhaupt bei einem der spaeteren
Annexionsprozesse wieder vorgekommen. Auch nach der Vereinigung zerfiel
die roemische Gemeinde in die bisherigen drei Teile zu je zehn
Pflegschaften, und die Huegelroemer, moegen sie nun ihrerseits
mehrteilig gewesen sein oder nicht, muessen in die bestehenden Teile
und Pflegschaften eingeordnet worden sein. Wahrscheinlich ist dies in
der Art geschehen, dass jeder Teil und jede Pflegschaft eine Quote der
Neubuerger zugewiesen erhielt, in diesen Abteilungen aber die Neu- mit
den Altbuergern nicht vollstaendig verschmolzen; vielmehr treten fortan
jene Teile doppelgliedrig auf und scheiden sich die Titier, ebenso die
Ramner und die Lucerer in sich wieder in erste und zweite (priores,
posteriores). Eben damit haengt wahrscheinlich die in den organischen
Institutionen der Gemeinde ueberall hervortretende paarweise Anordnung
zusammen. So werden die drei Paare der heiligen Jungfrauen
ausdruecklich als die Vertreterinnen der drei Teile erster und zweiter
Ordnung bezeichnet; auch das in jeder Gasse verehrte Larenpaar ist
vermutlich aehnlich aufzufassen. Vor allem erscheint diese Anordnung im
Heerwesen: nach der Vereinigung stellt jeder Halbteil der dreiteiligen
Gemeinde hundert Berittene, und es steigt dadurch die roemische
Buergerreiterei auf sechs Hundertschaften, die Zahl der Reiterfuehrer
wahrscheinlich auch von drei auf sechs. Von einer entsprechenden
Vermehrung des Fussvolks ist nichts ueberliefert; wohl aber wird man
den nachherigen Gebrauch, dass die Legionen regelmaessig je zwei und
zwei einberufen wurden, hierauf zurueckfuehren duerfen, und
wahrscheinlich ruehrt von dieser Verdoppelung des Aufgebotes ebenfalls
her, dass nicht, wie wohl urspruenglich, drei, sondern sechs
Abteilungsfuehrer die Legion befehligen. Eine entsprechende Vermehrung
der Senatsstellen hat entschieden nicht stattgefunden, sondern die
uralte Zahl von dreihundert Ratsherren ist bis in das siebente
Jahrhundert hinein die normale geblieben; womit sich sehr wohl
vertraegt, dass eine Anzahl der angesehensten Maenner der neu
hinzutretenden Gemeinde in den Senat der palatinischen Stadt
aufgenommen sein mag. Ebenso verfuhr man mit den Magistraturen: auch
der vereinigten Gemeinde stand nur ein Koenig vor, und von seinen
hauptsaechlichsten Stellvertretern, namentlich dem Stadtvorsteher, gilt
dasselbe. Man sieht, dass die sakralen Institutionen der Huegelstadt
fortbestanden und in militaerischer Hinsicht man nicht unterliess, der
verdoppelten Buergerschaft die doppelte Mannszahl abzufordern, im
uebrigen aber die Einordnung der quirinalischen Stadt in die
palatinische eine wahre Unterordnung der ersteren gewesen ist. Wenn wir
mit Recht angenommen haben, dass der Gegensatz zwischen den
palatinischen Alt- und den quirinalischen Neubuergern zusammenfiel mit
dem zwischen den ersten und zweiten Titiern, Ramnern und Lucerern, so
sind die Geschlechter der Quirinalstadt die “zweiten” oder die
“minderen” gewesen. Indes war der Unterschied sicherlich mehr ein
Ehren- als ein Rechtsvorzug. Bei den Abstimmungen im Rat wurden die aus
den alten Geschlechtern genommenen Ratsherren vor denen der “minderen”
gefragt. In gleicher Weise steht das collinische Quartier im Range
zurueck selbst hinter dem vorstaedtischen der palatinischen Stadt, der
Priester des quirinalischen Mars hinter dem des palatinischen, die
quirinalischen Springer und Woelfe hinter denen vom Palatin. Sonach
bezeichnet der Synoekismus, durch den die palatinische Gemeinde die
quirinalische in sich aufnahm, eine Mittelstufe zwischen dem aeltesten,
durch den die Titier, Ramner und Lucerer miteinander verwuchsen, und
allen spaeteren: einen eigenen Teil zwar durfte die zutretende Gemeinde
in dem neuen Ganzen nicht mehr bilden, wohl aber noch wenigstens einen
Teil in jedem Teile, und ihre sakralen Institutionen liess man nicht
bloss bestehen, was auch nachher noch, zum Beispiel nach der Einnahme
von Alba, geschah, sondern erhob sie zu Institutionen der vereinigten
Gemeinde, was spaeterhin in dieser Weise nicht wieder vorkam.
Diese Verschmelzung zweier im wesentlichen gleichartiger Gemeinwesen
war mehr eine quantitative Steigerung als eine innerliche Umgestaltung
der bestehenden Gemeinde. Von einem zweiten Inkorporationsprozess, der
weit allmaehlicher durchgefuehrt ward und weit tiefere Folgen gehabt
hat, reichen die ersten Anfaenge gleichfalls bis in diese Epoche
zurueck: es ist dies die Verschmelzung der Buergerschaft und der
Insassen. Von jeher standen in der roemischen Gemeinde neben der
Buergerschaft die Schutzleute, die “Hoerigen” (clientes), wie man sie
nannte, als die Zugewandten der einzelnen Buergerhaeuser, oder die
“Menge” (plebes, von pleo, plenus), wie sie negativ hiessen mit
Hinblick auf die mangelnden politischen Rechte ^1. Die Elemente zu
dieser Mittelstufe zwischen Freien und Unfreien waren, wie gezeigt
ward, bereits in dem roemischen Hause vorhanden; aber in der Gemeinde
musste diese Klasse aus einem zwiefachen Grunde tatsaechlich und
rechtlich zu groesserer Bedeutung erwachsen. Einmal konnte die Gemeinde
selbst wie Knechte, so auch halbfreie Hoerige besitzen; besonders
mochte nach Ueberwindung einer Stadt und Aufloesung ihres Gemeinwesens
es oft der siegenden Gemeinde zweckmaessig erscheinen, die Masse der
Buergerschaft nicht foermlich als Sklaven zu verkaufen, sondern ihnen
den faktischen Fortbesitz der Freiheit zu gestatten, so dass sie
gleichsam als Freigelassene der Gemeinde, sei es zu den Geschlechtern,
sei es zu dem Koenig in Klientelverhaeltnis traten. Zweitens aber war
durch die Gemeinde und deren Macht ueber die einzelnen Buerger die
Moeglichkeit gegeben, auch deren Klienten gegen missbraeuchliche
Handhabung des rechtlich fortbestehenden Herrenrechts zu schuetzen.
Bereits in unvordenklich frueher Zeit ist in das roemische Landrecht
der Grundsatz eingefuehrt worden, von dem die gesamte Rechtsstellung
der Insassenschaft ihren Ausgang genommen hat: dass, wenn der Herr bei
Gelegenheit eines oeffentlichen Rechtsakts - Testament, Prozess,
Schatzung - sein Herrenrecht ausdruecklich oder stillschweigend
aufgegeben habe, weder er selbst noch seine Rechtsnachfolger diesen
Verzicht gegen die Person des Freigelassenen selbst oder gar seiner
Deszendenten jemals wieder sollten willkuerlich rueckgaengig machen
koennen. Die Hoerigen und ihre Nachkommen besassen nun zwar weder
Buerger- noch Gastrecht; denn zu jenem bedurfte es foermlicher
Erteilung von seiten der Gemeinde, dieser aber setzte das Buergerrecht
des Gastes in einer mit der roemischen in Vertrag stehenden Gemeinde
voraus. Was ihnen zuteil ward, war ein gesetzlich geschuetzter
Freiheitsbesitz bei rechtlich fortdauernder Unfreiheit; und darum
scheinen laengere Zeit hindurch ihre vermoegensrechtlichen Beziehungen
gleich denen der Sklaven als Rechtsverhaeltnisse des Patrons gegolten
und dieser prozessualisch sie notwendig vertreten zu haben, womit denn
auch zusammenhaengen wird, dass der Patron im Notfall Beisteuern von
ihnen einheben und sie vor sich zu krimineller Verantwortung ziehen
konnte. Aber allmaehlich entwuchs die Insassenschaft diesen Fesseln;
sie fingen an, in eigenem Namen zu erwerben und zu veraeussern und ohne
die formelle Vermittlung ihres Patrons von den roemischen
Buergergerichten Recht anzusprechen und zu erhalten. In Ehe und
Erbrecht ward die Rechtsgleichheit mit den Buergern zwar weit eher den
Auslaendern gestattet als diesen keiner Gemeinde angehoerigen,
eigentlich unfreien Leuten; aber es konnte denselben doch nicht wohl
gewehrt werden, in ihrem eigenen Kreise Ehen einzugehen und die daran
sich knuepfenden Rechtsverhaeltnisse der eheherrlichen und vaeterlichen
Gewalt, der Agnation und des Geschlechts, der Erbschaft und der
Vormundschaft, nach Art der buergerrechtlichen zu gestalten.
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^1 Habuit plebem in clientelas principum descriptam (Cic. rep. 2, 2).
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Teilweise zu aehnlichen Folgen fuehrte die Ausuebung des Gastrechts,
insofern auf Grund desselben Auslaender sich auf die Dauer in Rom
niederliessen und dort eine Haeuslichkeit begruendeten. In dieser
Hinsicht muessen seit uralter Zeit die liberalsten Grundsaetze in Rom
bestanden haben. Das roemische Recht weiss weder von Erbgutsqualitaet
noch von Geschlossenheit der Liegenschaften und gestattet einesteils
jedem dispositionsfaehigen Mann bei seinen Lebzeiten vollkommen
unbeschraenkte Verfuegung ueber sein Vermoegen, anderseits, soviel wir
wissen, jedem, der ueberhaupt zum Verkehr mit roemischen Buergern
befugt war, selbst dem Fremden und dem Klienten, das unbeschraenkte
Recht bewegliches und, seitdem Immobilien ueberhaupt im Privateigentum
stehen konnten, in gewissen Schranken auch unbewegliches Gut in Rom zu
erwerben. Es ist eben Rom eine Handelsstadt gewesen, die, wie sie den
Anfang ihrer Bedeutung dem internationalen Verkehr verdankte, so auch
das Niederlassungsrecht mit grossartiger Freisinnigkeit jedem Kinde
ungleicher Ehe, jedem freigelassenen Knecht, jedem nach Rom unter
Aufgebung seines Heimatrechts uebersiedelnden Fremden gewaehrt hat.
Anfaenglich waren also die Buerger in der Tat die Schutzherren, die
Nichtbuerger die Geschuetzten; allein wie in allen Gemeinden, die die
Ansiedlung freigeben und das Buergerrecht schliessen, ward es auch in
Rom bald schwer und wurde immer schwerer, dieses rechtliche Verhaeltnis
mit dem faktischen Zustand in Harmonie zu erhalten. Das Aufbluehen des
Verkehrs, die durch das latinische Buendnis allen Latinern
gewaehrleistete volle privatrechtliche Gleichstellung mit Einschluss
selbst der Erwerbung von Grundbesitz, die mit dem Wohlstand steigende
Haeufigkeit der Freilassungen mussten schon im Frieden die Zahl der
Insassen unverhaeltnismaessig vermehren. Es kam dazu der groessere Teil
der Bevoelkerung der mit den Waffen bezwungenen und Rom inkorporierten
Nachbarstaedte, welcher, mochte er nun nach Rom uebersiedeln oder in
seiner alten, zum Dorf herabgesetzten Heimat verbleiben, in der Regel
wohl sein eigenes Buergerrecht mit roemischem Metoekenrecht
vertauschte. Dazu lastete der Krieg ausschliesslich auf den Altbuergern
und lichtete bestaendig die Reihen der patrizischen Nachkommenschaft,
waehrend die Insassen an dem Erfolg der Siege Anteil hatten, ohne mit
ihrem Blute dafuer zu bezahlen.
Unter solchen Verhaeltnissen ist es nur befremdlich, dass das roemische
Patriziat nicht noch viel schneller zusammenschwand, als es in der Tat
der Fall war. Dass er noch laengere Zeit eine zahlreiche Gemeinde
blieb, davon ist der Grund schwerlich zu suchen in der Verleihung des
roemischen Buergerrechts an einzelne ansehnliche auswaertige
Geschlechter, die nach dem Austritt aus ihrer Heimat oder nach der
Ueberwindung ihrer Stadt das roemische Buergerrecht empfingen - denn
diese Verleihungen scheinen von Anfang an sparsam erfolgt und immer
seltener geworden zu sein, je mehr das roemische Buergerrecht im Preise
stieg. Von groesserer Bedeutung war vermutlich die Einfuehrung der
Zivilehe, wonach das von patrizischen, als Eheleute wenn auch ohne
Konfarreation zusammenlebenden Eltern erzeugte Kind volles Buergerrecht
erwarb, so gut wie das in konfarreierter Ehe erzeugte; es ist
wenigstens wahrscheinlich, dass die schon vor den Zwoelf Tafeln in Rom
bestehende, aber doch gewiss nicht urspruengliche Zivilehe eben
eingefuehrt ward, um das Zusammenschwinden des Patriziats zu hemmen ^2.
Auch die Massregeln, durch welche bereits in aeltester Zeit auf die
Erhaltung einer zahlreichen Nachkommenschaft in den einzelnen Haeusern
hingewirkt ward, gehoeren in diesen Zusammenhang.
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^2 Die Bestimmungen der Zwoelf Tafeln ueber den Usus zeigen deutlich,
dass dieselben die Zivilehe bereits vorfanden. Ebenso klar geht das
hohe Alter der Zivilehe daraus hervor, dass auch sie so gut wie die
religioese Ehe die eheherrliche Gewalt notwendig in sich schloss und
von der religioesen Ehe hinsichtlich der Gewalterwerbung nur darin
abwich, dass die religioese Ehe selbst als eigentuemliche und rechtlich
notwendige Erwerbsform der Frau galt, wogegen zu der Zivilehe eine der
anderweitigen allgemeinen Formen des Eigentumserwerbs, Uebergabe von
seiten der Berechtigten oder auch Verjaehrung, hinzutreten musste, um
eine gueltige eheherrliche Gewalt zu begruenden.
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Nichtsdestoweniger war notwendigerweise die Zahl der Insassen in
bestaendigem und keiner Minderung unterliegendem Wachsen begriffen,
waehrend die der Buerger sich im besten Fall nicht vermindern mochte;
und infolgedessen erhielten die Insassen unmerklich eine andere und
freiere Stellung. Die Nichtbuerger waren nicht mehr bloss entlassene
Knechte und schutzbeduerftige Fremde; es gehoerten dazu die ehemaligen
Buergerschaften der im Krieg unterlegenen latinischen Gemeinden und vor
allen Dingen die latinischen Ansiedler, die nicht durch Gunst des
Koenigs oder eines anderen Buergers, sondern nach Bundesrecht in Rom
lebten. Vermoegensrechtlich unbeschraenkt gewannen sie Geld und Gut in
der neuen Heimat und vererbten gleich dem Buerger ihren Hof auf Kinder
und Kindeskinder. Auch die drueckende Abhaengigkeit von den einzelnen
Buergerhaeusern lockerte sich allmaehlich. Stand der befreite Knecht,
der eingewanderte Fremde noch ganz isoliert im Staate, so galt dies
schon nicht mehr von seinen Kindern, noch weniger von den Enkeln, und
die Beziehungen zu dem Patron traten damit von selbst immer mehr
zurueck. War in aelterer Zeit der Klient ausschliesslich fuer den
Rechtsschutz angewiesen auf die Vermittlung des Patrons, so musste, je
mehr der Staat sich konsolidierte und folgeweise die Bedeutung der
Geschlechtsvereine und der Haeuser sank, desto haeufiger auch ohne
Vermittlung des Patrons vom Koenig dem einzelnen Klienten Rechtsfolge
und Abhilfe der Unbill gewaehrt werden. Eine grosse Zahl der
Nichtbuerger, namentlich die Mitglieder der aufgeloesten latinischen
Gemeinden, standen ueberhaupt, wie schon gesagt ward, wahrscheinlich
von Haus aus nicht in der Klientel der koeniglichen und der sonstigen
grossen Geschlechter und gehorchten dem Koenig ungefaehr in gleicher
Art wie die Buerger. Dem Koenig, dessen Herrschaft ueber die Buerger
denn doch am Ende abhing von dem guten Willen der Gehorchenden, musste
es willkommen sein, in diesen wesentlich von ihm abhaengigen
Schutzleuten sich eine ihm naeher verpflichtete Genossenschaft zu
bilden.
So erwuchs neben der Buergerschaft eine zweite roemische Gemeinde; aus
den Klienten ging die Plebs hervor. Dieser Namenwechsel ist
charakteristisch; rechtlich ist kein Unterschied zwischen dem Klienten
und dem Plebejer, dem Hoerigen und dem Manne aus dem Volk, faktisch
aber ein sehr bedeutender, indem jene Bezeichnung das Schutzverhaeltnis
zu einem der politisch berechtigten Gemeindeglieder, diese bloss den
Mangel der politischen Rechte hervorhebt. Wie das Gefuehl der
besonderen Abhaengigkeit zuruecktrat, draengte das der politischen
Zuruecksetzung den freien Insassen sich auf; und nur die ueber allen
gleichmaessig waltende Herrschaft des Koenigs verhinderte das
Ausbrechen des politischen Kampfes zwischen der berechtigten und der
rechtlosen Gemeinde.
Der erste Schritt zur Verschmelzung der beiden Volksteile geschah indes
schwerlich auf dem Wege der Revolution, den jener Gegensatz
vorzuzeichnen schien. Die Verfassungsreform, die ihren Namen traegt vom
Koenig Servius Tullius, liegt zwar ihrem geschichtlichen Ursprung nach
in demselben Dunkel, wie alle Ereignisse einer Epoche, von der wir, was
wir wissen, nicht durch historische Ueberlieferung, sondern nur durch
Rueckschluesse aus den spaeteren Institutionen wissen; aber ihr Wesen
zeugt dafuer, dass nicht die Plebejer sie gefordert haben koennen,
denen die neue Verfassung nur Pflichten, nicht Rechte gab. Sie muss
vielmehr entweder der Weisheit eines der roemischen Koenige ihren
Ursprung verdanken oder auch dem Draengen der Buergerschaft auf
Befreiung von der ausschliesslichen Belastung und auf Zuziehung der
Nichtbuerger teils zu der Besteuerung, das heisst zu der Verpflichtung,
dem Staat im Notfall vorzuschiessen (dem Tributum), und zu den Fronden,
teils zu dem Aufgebot. Beides wird in der Servianischen Verfassung
zusammengefasst, ist aber schwerlich gleichzeitig erfolgt. Ausgegangen
ist die Heranziehung der Nichtbuerger vermutlich von den oekonomischen
Lasten: es wurden diese frueh auch auf die “Begueterten” (locupletes)
oder die “stetigen Leute” (adsidui) erstreckt, und nur die gaenzlich
Vermoegenslosen, die “Kinderzeuger” (proletarii, capite censi) blieben
davon frei. Weiter folgte die politisch wichtigere Heranziehung der
Nichtbuerger zu der Wehrpflicht. Diese wurde fortan, statt auf die
Buergerschaft als solche, gelegt auf die Grundbesitzer, die tribules,
mochten sie Buerger oder bloss Insassen sein; die Heeresfolge wurde aus
einer persoenlichen zu einer Reallast. Im einzelnen war die Ordnung
folgende. Pflichtig zum Dienst war jeder ansaessige Mann vom
achtzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr mit Einschluss der
Hauskinder ansaessiger Vaeter, ohne Unterschied der Geburt; so dass
selbst der entlassene Knecht zu dienen hatte, wenn er ausnahmsweise zu
Grundbesitz gelangt war. Auch die grundbesitzenden Latiner - anderen
Auslaendern war der Erwerb roemischen Bodens nicht gestattet - wurden
zum Dienst herangezogen, sofern sie, was ohne Zweifel bei den meisten
derselben der Fall war, auf roemischem Gebiet ihren Wohnsitz genommen
hatten. Nach der Groesse der Grundstuecke wurde die kriegstuechtige
Mannschaft eingeteilt in die Volldienstpflichtigen oder die
Vollhufener, welche in vollstaendiger Ruestung erscheinen mussten und
insofern vorzugsweise das Kriegsheer (classis) bildeten, waehrend von
den vier folgenden Reihen der kleineren Grundbesitzer, den Besitzern
von Dreivierteln, Haelften, Vierteln und Achteln einer ganzen
Bauernstelle, zwar auch die Erfuellung der Dienstpflicht, nicht aber
die volle Armierung verlangt ward, und sie also unterhalb des
Vollsatzes (infra classem) standen. Nach der damaligen Verteilung des
Bodens waren fast die Haelfte der Bauernstellen Vollhufen, waehrend die
Dreiviertel-, Halb- und Viertelhufener jede knapp, die Achtelhufener
reichlich ein Achtel der Ansaessigen ausmachten; weshalb festgesetzt
ward, dass fuer das Fussvolk auf achtzig Vollhufener je zwanzig der
drei folgenden und achtundzwanzig der letzten Reihe ausgehoben werden
sollten. Aehnlich verfuhr man bei der Reiterei: die Zahl der
Abteilungen wurde in dieser verdreifacht, und nur darin wich man hier
ab, dass die bereits bestehenden sechs Abteilungen mit den alten Namen
(Tities, Ramnes, Luceres primi und secundi) den Patriziern blieben,
waehrend die zwoelf neuen hauptsaechlich aus den Nichtbuergern gebildet
wurden. Der Grund dieser Abweichung ist wohl darin zu suchen, dass man
damals die Fusstruppen fuer jeden Feldzug neu formierte und nach der
Heimkehr entliess, dagegen die Reiter mit ihren Rossen aus
militaerischen Ruecksichten auch im Frieden zusammengehalten wurden und
regelmaessige Uebungen hielten, die als Festlichkeiten der roemischen
Ritterschaft bis in die spaeteste Zeit fortbestanden ^3. So liess man
denn auch bei dieser Reform den einmal bestehenden Schwadronen ihre
hergebrachten Namen. Um auch die Reiterei jedem Buerger zugaenglich zu
machen, wurden die unverheirateten Frauen und die unmuendigen Waisen,
soweit sie Grundbesitz hatten, angehalten, anstatt des eigenen Dienstes
einzelnen Reitern die Pferde - jeder Reiter hatte deren zwei - zu
stellen und zu fuettern. Im ganzen kam auf neun Fusssoldaten ein
Reiter; doch wurden beim effektiven Dienst die Reiter mehr geschont.
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^3 Aus demselben Grund wurde bei der Steigerung des Aufgebots nach dem
Eintritt der Huegelroemer die Ritterschaft verdoppelt, bei der
Fussmannschaft aber statt der einfachen Lese eine Doppellegion
einberufen.
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Die nicht ansaessigen Leute (adcensi, neben dem Verzeichnis der
Wehrpflichtigen stehende Leute) hatten zum Heere die Werk- und
Spielleute zu stellen sowie eine Anzahl Ersatzmaenner, die unbewaffnet
(velati) mit dem Heer zogen und, wenn im Felde Luecken entstanden, mit
den Waffen der Kranken und Gefallenen ausgeruestet in die Reihe
eingestellt wurden.
Zum Behuf der Aushebung des Fussvolks wurde die Stadt eingeteilt in
vier “Teile” (tribus) wodurch die alte Dreiteilung wenigstens in ihrer
lokalen Bedeutung beseitigt ward: den palatinischen, der die Anhoehe
gleiches Namens nebst der Velia in sich schloss; den der Subura, dem
die Strasse dieses Namens, die Carinen und der Caelius angehoerten; den
esquilinischen; und den collinischen, den der Quirinal und Viminal, die
“Huegel” im Gegensatz der “Berge” des Kapitol und Palatin, bildeten.
Von der Bildung dieser Distrikte ist bereits frueher die Rede gewesen
und gezeigt, in welcher Weise dieselben aus der alten palatinischen und
quirinalischen Doppelstadt hervorgegangen sind. In welcher Weise es
herbeigefuehrt worden ist, dass jeder ansaessige Buerger einem dieser
Stadtteile angehoerte, laesst sich nicht sagen; aber es war dies der
Fall, und dass die vier Distrikte ungefaehr gleiche Mannzahl hatten,
ergibt sich aus ihrer gleichmaessigen Anziehung bei der Aushebung.
Ueberhaupt hat diese Einteilung, die zunaechst auf den Boden allein und
nur folgeweise auf die Besitzer sich bezog, einen ganz aeusserlichen
Charakter und namentlich ist ihr niemals eine religioese Bedeutung
zugekommen; denn dass in jedem Stadtdistrikt eine gewisse Zahl der
raetselhaften Argeerkapellen sich befanden, macht dieselben ebensowenig
zu sakralen Bezirken, als es die Gassen dadurch wurden, dass in jeder
ein Larenaltar errichtet ward.
Jeder dieser vier Aushebungsdistrikte hatte annaehernd den vierten Teil
wie der ganzen Mannschaft, so jeder einzelnen militaerischen Abteilung
zu stellen, sodass jede Legion und jede Zenturie gleich viel
Konskribierte aus jedem Bezirk zaehlte, um alle Gegensaetze
gentilizischer und lokaler Natur in dem einen und gemeinsamen
Gemeindeaufgebot aufzuheben und vor allem durch den maechtigen Hebel
des nivellierenden Soldatengeistes Insassen und Buerger zu einem Volke
zu verschmelzen.
Militaerisch wurde die waffenfaehige Mannschaft geschieden in ein
erstes und zweites Aufgebot, von denen jene, die “Juengeren”, vom
laufenden achtzehnten bis zum vollendeten sechsundvierzigsten Jahre,
vorwiegend zum Felddienst verwandt wurden, waehrend die “Aelteren” die
Mauern daheim schirmten. Die militaerische Einheit ward in der
Infanterie die jetzt verdoppelte Legion, eine vollstaendig nach alter
dorischer Art gereihte und geruestete Phalanx von sechstausend Mann,
die sechs Glieder hoch eine Front von tausend Schwergeruesteten
bildete; wozu dann noch 2400 “Ungeruestete” (velites, s. 1, 84, A.)
kamen. Die vier ersten Glieder der Phalanx, die classis, bildeten die
vollgeruesteten Hopliten der Vollhufener, im fuenften und sechsten
standen die minder geruesteten Bauern der zweiten und dritten
Abteilung; die beiden letzten traten als letzte Glieder zu der Phalanx
hinzu oder kaempften daneben als Leichtbewaffnete. Fuer die leichte
Ausfuellung zufaelliger Luecken, die der Phalanx so verderblich sind,
war gesorgt. Es standen also in derselben 84 Zenturien oder 8400 Mann,
davon 6000 Hopliten, 4000 der ersten, je 1000 der beiden folgenden
Abteilungen, ferner 2400 Leichte, davon 1000 der vierten, 1200 der
fuenften Abteilung; ungefaehr stellte jeder Aushebungsbezirk zu der
Phalanx 2100, zu jeder Zenturie 25 Mann. Diese Phalanx war das zum
Ausruecken bestimmte Heer, waehrend die gleiche Truppenmacht auf die
fuer die Stadtverteidigung zurueckbleibenden Aelteren gerechnet wurde;
wodurch also der Normalbestand des Fussvolks auf 16800 Mann kam, 80
Zenturien der ersten, je 20 der drei folgenden, 28 der letzten
Abteilung; ungerechnet die beiden Zenturien Ersatzmannschaft sowie die
der Werk- und die der Spielleute. Zu allen diesen kam die Reiterei,
welche aus 1800 Pferden bestand; dem ausrueckenden Heer ward indes oft
nur der dritte Teil der Gesamtzahl beigegeben. Der Normalbestand des
roemischen Heeres ersten und zweiten Aufgebots stieg sonach auf nahe an
20000 Mann; welche Zahl dem Effektivbestand der roemischen
Waffenfaehigen, wie er war zur Zeit der Einfuehrung dieser neuen
Organisation, unzweifelhaft im allgemeinen entsprochen haben wird. Bei
steigender Bevoelkerung wurde nicht die Zahl der Zenturien vermehrt,
sondern man verstaerkte durch zugegebene Leute die einzelnen
Abteilungen, ohne doch die Grundzahl ganz fallen zu lassen; wie denn
die roemischen der Zahl nach geschlossenen Korporationen ueberhaupt
haeufig durch Aufnahme ueberzaehliger Mitglieder die ihnen gesetzte
Schranke umgingen.
Mit dieser neuen Heeresordnung Hand in Hand ging die sorgfaeltigere
Beaufsichtigung des Grundbesitzes von seiten des Staats. Es wurde
entweder jetzt eingefuehrt oder doch sorgfaeltiger bestimmt, dass ein
Erdbuch angelegt werde, in welchem die einzelnen Grundbesitzer ihre
Aecker mit dem Zubehoer, den Gerechtigkeiten, den Knechten, den Zug-
und Lasttieren verzeichnen lassen sollten. Jede Veraeusserung, die
nicht offenkundig und vor Zeugen geschah, wurde fuer nichtig erklaert
und eine Revision des Grundbesitzregisters, das zugleich
Aushebungsrolle war, in jedem vierten Jahre vorgeschrieben. So sind aus
der servianischen Kriegsordnung die Manzipation und der Zensus
hervorgegangen.
Augenscheinlich ist diese ganze Institution von Haus aus militaerischer
Natur. In dem ganzen weitlaeufigen Schema begegnet auch nicht ein
einziger Zug, der auf eine andere als die rein kriegerische Bestimmung
der Zenturien hinwiese; und dies allein muss fuer jeden, der in solchen
Dingen zu denken gewohnt ist, genuegen, um ihre Verwendung zu
politischen Zwecken fuer spaetere Neuerung zu erklaeren. Wenn, wie
wahrscheinlich, in aeltester Zeit, wer das sechzigste Jahr
ueberschritten hat, von den Zenturien ausgeschlossen ist, so hat dies
keinen Sinn, sofern dieselben von Anfang an bestimmt waren, gleich und
neben den Kurien die Buergergemeinde zu repraesentieren. Indes wenn
auch die Zenturienordnung lediglich eingefuehrt ward, um die
Schlagfertigkeit der Buergschaft durch die Beziehung der Insassen zu
steigern, und insofern nichts verkehrter ist, als die Servianische
Ordnung fuer die Einfuehrung der Timokratie in Rom auszugeben, so
wirkte doch folgeweise die neue Wehrpflichtigkeit der Einwohnerschaft
auch auf ihre politische Stellung wesentlich zurueck. Wer Soldat werden
muss, muss auch Offizier werden koennen, solange der Staat nicht faul
ist; ohne Frage konnten in Rom jetzt auch Plebejer zu Centurionen und
Kriegstribunen ernannt werden. Wenn ferner auch der bisherigen in den
Kurien vertretenen Buergerschaft durch die Zenturieninstitution der
Sonderbesitz der politischen Rechte nicht geschmaelert werden sollte,
so mussten doch unvermeidlich diejenigen Rechte, welche die bisherige
Buergerschaft nicht als Kurienversammlung, sondern als Buergeraufgebot
geuebt hatte, uebergehen auf die neuen Buerger- und Insassenzenturien.
Die Zenturien also sind es fortan, die der Koenig vor dem Beginn eines
Angriffskrieges um ihre Einwilligung zu befragen hat. Es ist wichtig
der spaeteren Entwicklung wegen, diese ersten Ansaetze zu einer
Beteiligung der Zenturien an den oeffentlichen Angelegenheiten zu
bezeichnen; allein zunaechst trat der Erwerb dieser Rechte durch die
Zenturien mehr folgeweise ein, als dass er geradezu beabsichtigt worden
waere, und nach wie vor der Servianischen Reform galt die
Kurienversammlung als die eigentliche Buergergemeinde, deren Huldigung
das ganze Volk dem Koenig verpflichtete. Neben diesen neuen
grundsaessigen Vollbuergern standen die angesessenen Auslaender aus dem
verbuendeten Latium als teilnehmend an den oeffentlichen Lasten, der
Steuer und den Fronden (daher municipes); waehrend die ausser den
Tribus stehenden, nicht ansaessigen und des Wehr- und Stimmrechts
entbehrenden Buerger nur als steuerpflichtig (aerarii) in Betracht
kommen.
Hatte man somit bisher nur zwei Klassen der Gemeindeglieder: Buerger
und Schutzverwandte unterschieden, so stellten jetzt sich diese drei
politischen Klassen fest, die viele Jahrhunderte hindurch das roemische
Staatsrecht beherrscht haben.
Wann und wie diese neue militaerische Organisation der roemischen
Gemeinde ins Leben trat, darueber sind nur Vermutungen moeglich. Sie
setzt die vier Quartiere voraus, das heisst, die Servianische Mauer
musste gezogen sein, bevor die Reform stattfand. Aber auch das
Stadtgebiet musste schon seine urspruengliche Grenze betraechtlich
ueberschritten haben, wenn es 8000 volle ebensoviel Teilhufener oder
Hufenersoehne stellen konnte. Wir kennen zwar den Flaechenraum der
vollen roemischen Bauernstelle nicht, allein es wird nicht moeglich
sein, sie unter 20 Morgen anzusetzen ^4; rechnen wir als Minimum 10000
Vollhufen, so wuerden diese einen Flaechenraum von 9 deutschen
Quadratmeilen Ackerland voraussetzen, wonach, wenn man Weide,
Haeuserraum und nicht kulturfaehigen Boden noch so maessig in Ansatz
bringt, das Gebiet zu der Zeit, wo diese Reform durchgefuehrt ward,
mindestens eine Ausdehnung von 20 Quadratmeilen, wahrscheinlich aber
eine noch betraechtlichere, gehabt haben muss. Folgt man der
Ueberlieferung, so muesste man gar eine Zahl von 84000 ansaessigen und
waffenfaehigen Buergern annehmen; denn so viel soll Servius bei dem
ersten Zensus gezaehlt haben. Indes dass diese Zahl fabelhaft ist,
zeigt ein Blick auf die Karte; auch ist sie nicht wahrhaft
ueberliefert, sondern vermutungsweise berechnet, indem die 16800
Waffenfaehigen des Normalstandes der Infanterie nach einem
durchschnittlichen die Familie zu fuenf Koepfen ansetzenden Ueberschlag
eine Zahl von 84000 Buergern zu ergeben schienen und diese Zahl mit der
der Waffenfaehigen verwechselt ward. Aber auch nach jenen maessigeren
Saetzen ist bei einem Gebiet von etwa 16000 Hufen mit einer
Bevoelkerung von nahe an 20000 Waffenfaehigen und mindestens der
dreifachen Zahl von Frauen, Kindern und Greisen, nicht grundsaessigen
Leuten und Knechten notwendig anzunehmen, dass nicht bloss die Gegend
zwischen Tiber und Anio gewonnen, sondern auch die albanische Mark
erobert war, bevor die Servianische Verfassung festgestellt wurde;
womit denn auch die Sage uebereinstimmt. Wie das Verhaeltnis der
Patrizier und Plebejer im Heere sich der Zahl nach urspruenglich
gestellt hat, ist nicht zu ermitteln.
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^4 Schon um 480 erschienen Landlose von sieben Morgen (Val. Max. 3, 3,
5; Colum. 1 praef. 14, 1, 3, 11; Plin. nat. 18,3,18; vierzehn Morgen:
Ps. Aur. Vict. 33; Plut. apophth. reg. et imp. p. 235 Duebner, wonach
Plut. Crass. 2 zu berichtigen ist) den Empfaengern klein.
Die Vergleichung der deutschen Verhaeltnisse ergibt dasselbe. Jugerum
und Morgen, beide urspruenglich mehr Arbeits- als Flaechenmasse,
koennen angesehen werden als urspruenglich identisch. Wenn die deutsche
Hufe regelmaessig aus 30, nicht selten auch aus 20 oder 40 Morgen
bestand, und die Hofstaette haeufig, wenigstens bei den Angelsachsen,
ein Zehntel der Hufe betrug, so wird bei Beruecksichtigung der
klimatischen Verschiedenheit und des roemischen Heredium von zwei
Morgen die Annahme einer roemischen Hufe von 20 Morgen den
Verhaeltnissen angemessen erscheinen. Freilich bleibt es zu bedauern,
dass die Ueberlieferung uns eben hier im Stich laesst.
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Im allgemeinen aber ist es einleuchtend einerseits, dass diese
Servianische Institution nicht hervorgegangen ist aus dem Staendekampf,
sondern dass sie den Stempel eines reformierenden Gesetzgebers an sich
traegt gleich der Verfassung des Lykurgos, des Solon, des Zaleukos,
anderseits, dass sie entstanden ist unter griechischem Einfluss.
Einzelne Analogien koennen truegen, wie zum Beispiel die schon von den
Alten hervorgehobene, dass auch in Korinth die Ritterpferde auf die
Witwen und Waisen angewiesen wurden; aber die Entlehnung der Ruestung
wie der Gliederstellung von dem griechischen Hoplitensystem ist sicher
kein zufaelliges Zusammentreffen. Erwaegen wir nun, dass eben im
zweiten Jahrhundert der Stadt die griechischen Staaten in Unteritalien
von der reinen Geschlechterverfassung fortschritten zu einer
modifizierten, die das Schwergewicht in die Haende der Besitzenden
legte ^5, so werden wir hierin den Anstoss erkennen, der in Rom die
Servianische Reform hervorrief, eine im wesentlichen auf demselben
Grundgedanken beruhende und nur durch die streng monarchische Form des
roemischen Staats in etwas abweichende Bahnen gelenkte
Verfassungsaenderung.
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^5 Auch die Analogie zwischen der sogenannten Servianischen Verfassung
und der Behandlung der attischen Metoeken verdient hervorgehoben zu
werden. Athen hat eben wie Rom verhaeltnismaessig frueh den Insassen
die Tore geoeffnet und dann auch dieselben zu den Lasten des Staates
mit herangezogen. Je weniger hier ein unmittelbarer Zusammenhang
angenommen werden kann, desto bestimmter zeigt es sich, wie dieselben
Ursachen - staedtische Zentralisierung und staedtische Entwicklung -
ueberall und notwendig die gleichen Folgen herbeifuehren.
KAPITEL VII.
Roms Hegemonie in Latium
An Fehden unter sich und mit den Nachbarn wird es der tapfere und
leidenschaftliche Stamm der Italiker niemals haben fehlen lassen; mit
dem Aufbluehen des Landes und der steigenden Kultur muss die Fehde
allmaehlich in den Krieg, der Raub in die Eroberung uebergegangen sein
und politische Maechte angefangen haben, sich zu gestalten. Indes von
jenen fruehesten Raufhaendeln und Beutezuegen, in denen der Charakter
der Voelker sich bildet und sich aeusserst wie in den Spielen und
Fahrten des Knaben der Sinn des Mannes, hat kein italischer Homer uns
ein Abbild aufbewahrt; und ebensowenig gestattet uns die geschichtliche
Ueberlieferung, die aeussere Entwicklung der Machtverhaeltnisse der
einzelnen latinischen Gaue auch nur mit annaehernder Genauigkeit zu
erkennen. Hoechstens von Rom laesst die Ausdehnung seiner Macht und
seines Gebietes sich einigermassen verfolgen. Die nachweislich
aeltesten Grenzen der vereinigten roemischen Gemeinde sind bereits
angegeben worden; sie waren landeinwaerts durchschnittlich nur etwa
eine deutsche Meile von dem Hauptort des Gaus entfernt und erstreckten
sich einzig gegen die Kueste zu bis an die etwas ueber drei deutsche
Meilen von Rom entfernte Tibermuendung (Ostia). “Groessere und kleinere
Voelkerschaften”, sagt Strabon in der Schilderung des aeltesten Rom,
“umschlossen die neue Stadt, von denen einige in unabhaengigen
Ortschaften wohnten und keinem Stammverband botmaessig waren”. Auf
Kosten zunaechst dieser stammverwandten Nachbarn scheinen die aeltesten
Erweiterungen des roemischen Gebietes erfolgt zu sein.
Die am oberen Tiber und zwischen Tiber und Anio gelegenen latinischen
Gemeinden Antemnae, Crustumerium, Ficulnea, Medullia, Caenina,
Corniculum, Cameria, Collatia drueckten am naechsten und
empfindlichsten auf Rom und scheinen schon in fruehester Zeit durch die
Waffen der Roemer ihre Selbstaendigkeit eingebuesst zu haben. Als
selbstaendige Gemeinde erscheint in diesem Bezirk spaeter nur Nomentum,
das vielleicht durch Buendnis mit Rom seine Freiheit rettete; um den
Besitz von Fidenae, dem Brueckenkopf der Etrusker am linken Ufer des
Tiber, kaempften Latiner und Etrusker, das heisst Roemer und Veienter
mit wechselndem Erfolg. Gegen Gabii, das die Ebene zwischen dem Anio
und den Albaner Bergen innehatte, stand der Kampf lange Zeit im
Gleichgewicht; bis in die spaete Zeit hinab galt das gabinische Gewand
als gleichbedeutend mit dem Kriegskleid und der gabinische Boden als
Prototyp des feindlichen Landes ^1. Durch diese Eroberungen mochte das
roemische Gebiet sich auf etwa 9 Quadratmeilen erweitert haben. Aber
lebendiger als diese verschollenen Kaempfe ist, wenn auch in
sagenhaftem Gewande, der Folgezeit eine andere uralte Waffentat der
Roemer im Andenken geblieben: Alba, die alte heilige Metropole Latiums,
ward von roemischen Scharen erobert und zerstoert. Wie der
Zusammenstoss entstand und wie er entschieden ward, ist nicht
ueberliefert; der Kampf der drei roemischen gegen die drei albanischen
Drillingsbrueder ist nichts als eine personifizierte Bezeichnung des
Kampfes zweier maechtiger und eng verwandter Gaue, von denen wenigstens
der roemische ein dreieiniger war. Wir wissen eben nichts weiter als
die nackte Tatsache der Unterwerfung und Zerstoerung Albas durch Rom
^2.
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^1 Ebenso charakteristisch sind die Verwuenschungsformeln fuer Gabii
und Fidenae (Macr. Sat. 3, 9), waehrend doch eine wirkliche
geschichtliche Verfluchung des Stadtbodens, wie sie bei Veii, Karthago,
Fregellae in der Tat stattgefunden hat, fuer diese Staedte nirgends
nachweisbar und hoechst unwahrscheinlich ist. Vermutlich waren alte
Bannfluchformulare auf diese beiden verhassten Staedte gestellt und
wurden von spaeteren Antiquaren fuer geschichtliche Urkunden gehalten.
^2 Aber zu bezweifeln, dass die Zerstoerung Albas in der Tat von Rom
ausgegangen sei wie es neulich von achtbarer Seite geschehen ist,
scheint kein Grund vorhanden. Es ist wohl richtig, dass der Bericht
ueber Albas Zerstoerung in seinen Einzelheiten eine Kette von
Unwahrscheinlichkeiten und Unmoeglichkeiten ist; aber das gilt eben von
jeder in Sagen eingesponnenen historischen Tatsache. Auf die Frage, wie
sich das uebrige Latium zu dem Kampfe zwischen Alba und Rom verhielt,
haben wir freilich keine Antwort; aber die Frage selbst ist falsch
gestellt, denn es ist unerwiesen, dass die latinische Bundesverfassung
einen Sonderkrieg zweier latinischer Gemeinden schlechterdings
untersagte. Noch weniger widerspricht die Aufnahme einer Anzahl
albischer Familien in den roemischen Buergerverband der Zerstoerung
Albas durch die Roemer; warum soll es nicht in Alba eben wie in Capua
eine roemische Partei gegeben haben? Entscheidend duerfte aber der
Umstand sein, dass Rom in religioeser wie in politischer Hinsicht als
Rechtsnachfolgerin von Alba auftritt; welcher Anspruch nicht auf die
Uebersiedelung einzelner Geschlechter, sondern nur auf die Eroberung
der Stadt sich gruenden konnte und gegruendet ward.
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Dass in der gleichen Zeit, wo Rom sich am Anio und auf dem Albaner
Gebirge festsetzte, auch Praeneste, welches spaeterhin als Herrin von
acht benachbarten Ortschaften erscheint, ferner Tibur und andere
latinische Gemeinden in gleicher Weise ihr Gebiet erweitert und ihre
spaetere verhaeltnismaessig ansehnliche Macht begruendet haben moegen,
laesst sich vollends nur vermuten.
Mehr als die Kriegsgeschichten vermissen wir genaue Berichte ueber den
rechtlichen Charakter und die rechtlichen Folgen dieser aeltesten
latinischen Eroberungen. Im ganzen ist es nicht zu bezweifeln, dass sie
nach demselben Inkorporationssystem behandelt wurden, woraus die
dreiteilige roemische Gemeinde hervorgegangen war; nur dass die durch
die Waffen zum Eintritt gezwungenen Gaue nicht einmal, wie jene
aeltesten drei, als Quartiere der neuen vereinigten Gemeinde eine
gewisse relative Selbstaendigkeit bewahrten, sondern voellig und
spurlos in dem Ganzen verschwanden (I, 99). Soweit die Macht des
latinischen Gaues reichte, duldete er in aeltester Zeit keinen
politischen Mittelpunkt ausser dem eigenen Hauptort, und noch weniger
legte er selbstaendige Ansiedlungen an, wie die Phoeniker und die
Griechen es taten und damit in ihren Kolonien vorlaeufig Klienten und
kuenftige Rivalen der Mutterstadt erschufen. Am merkwuerdigsten in
dieser Hinsicht ist die Behandlung, die Ostia durch Rom erfuhr: Die
faktische Entstehung einer Stadt an dieser Stelle konnte und wollte man
nicht hindern, gestattete aber dem Orte keine politische
Selbstaendigkeit und gab darum den dort Angesiedelten kein
Ortsbuerger-, sondern liess ihnen bloss, wenn sie es bereits besassen,
das allgemeine roemische Buergerrecht ^3. Nach diesem Grundsatz
bestimmte sich auch das Schicksal der schwaecheren Gaue, die durch
Waffengewalt oder auch durch freiwillige Unterwerfung einem staerkeren
untertaenig wurden. Die Festung des Gaues wurde geschleift, seine Mark
zu der Mark der Ueberwinder geschlagen, den Gaugenossen selbst wie
ihren Goettern in dem Hauptort des siegenden Gaues eine neue Heimat
gegruendet. Eine foermliche Uebersiedelung der Besiegten in die neue
Hauptstadt, wie sie bei den Staedtegruendungen im Orient Regel ist,
wird man hierunter freilich nicht unbedingt zu verstehen haben. Die
Staedte Latiums konnten in dieser Zeit wenig mehr sein als die
Festungen und Wochenmaerkte der Bauern; im ganzen genuegte die
Verlegung des Markt- und Dingverkehrs an den neuen Hauptort. Dass
selbst die Tempel oft am alten Platze blieben, laesst sich an dem
Beispiel von Alba und Caenina dartun, welchen Staedten noch nach der
Zerstoerung eine Art religioeser Scheinexistenz geblieben sein muss.
Selbst wo die Festigkeit des geschleiften Ortes eine wirkliche
Verpflanzung der Insassen erforderlich machte, wird man mit Ruecksicht
auf die Ackerbestellung dieselben haeufig in offenen Weilern ihrer
alten Mark angesiedelt haben. Dass indes nicht selten auch die
ueberwundenen alle oder zum Teil genoetigt wurden, sich in ihrem neuen
Hauptort niederzulassen, beweist besser als alle einzelnen Erzaehlungen
aus der Sagenzeit Latiums der Satz des roemischen Staatsrechts, dass
nur, wer die Grenzen des Gebietes erweitert habe, die Stadtmauer (das
Pomerium) vorzuschieben befugt sei. Natuerlich wurde den ueberwundenen,
uebergesiedelt oder nicht, in der Regel das Schutzverwandtenrecht
aufgezwungen ^4; einzelne Geschlechter wurden aber auch wohl mit dem
Buergerrecht, das heisst dem Patriziat, beschenkt. Noch in der
Kaiserzeit kannte man die nach dem Fall ihrer Heimat in die roemische
Buergerschaft eingereihten albischen Geschlechter, darunter die Iulier,
Servilier, Quinctilier, Cloelier, Geganier, Curiatier, Metilier; das
Andenken ihrer Herkunft bewahrten ihre albischen Familienheiligtuemer,
unter denen das Geschlechterheiligtum der Iulier in Bovillae sich in
der Kaiserzeit wieder zu grossem Ansehen erhob.
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^3 Hieraus entwickelte sich der staatsrechtliche Begriff der See- oder
Buergerkolonie (colonia civium Romanorum), das heisst einer faktisch
gesonderten, aber rechtlich unselbstaendigen und willenlosen Gemeinde,
die in der Hauptstadt aufgeht wie im Vermoegen des Vaters das Peculium
des Sohnes und als stehende Besatzung vom Dienst in der Legion befreit
ist.
^4 Darauf geht ohne Zweifel die Bestimmung der Zwoelf Tafeln: Nex[i
mancipiique] forti sanatique idem ius esto, d. h. es soll im
privatrechtlichen Verkehr dem Guten und dem Gebesserten gleiches Recht
zustehen. An die latinischen Bundesgenossen kann hier nicht gedacht
sein, da deren rechtliche Stellung durch die Bundesvertraege bestimmt
wird und das Zwoelftafelgesetz ueberhaupt nur vom Landrecht handelt;
sondern die sanates sind die Latini prisci cives Romani, das heisst die
von den Roemern in das Plebejat genoetigten Gemeinden Latiums.
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Diese Zentralisierung mehrerer kleiner Gemeinden in einer groesseren
war natuerlich nichts weniger als eine spezifisch roemische Idee. Nicht
bloss die Entwicklung Latiums und der sabellischen Staemme bewegt sich
um die Gegensaetze der nationalen Zentralisation und der kantonalen
Selbstaendigkeit, sondern es gilt das gleiche auch von der Entwicklung
der Hellenen. Es war dieselbe Verschmelzung vieler Gaue zu einem Staat,
aus der in Latium Rom und in Attika Athen hervorging; und eben dieselbe
Fusion war es, welche der weise Thales dem bedraengten Bunde der
ionischen Staedte als den einzigen Weg zur Rettung ihrer Nationalitaet
bezeichnete. Wohl aber ist es Rom gewesen, das diesen Einheitsgedanken
folgerichtiger, ernstlicher und gluecklicher festhielt als irgendein
anderer italischer Gau; und eben wie Athens hervorragende Stellung in
Hellas die Folge seiner fruehen Zentralisierung ist, so hat auch Rom
seine Groesse lediglich demselben hier noch weit energischer
durchgefuehrten System zu danken.
Wenn also die Eroberungen Roms in Latium im wesentlichen als
gleichartige, unmittelbare Gebiets- und Gemeindeerweiterungen
betrachtet werden duerfen, so kommt doch derjenigen von Alba noch eine
besondere Bedeutung zu. Es sind nicht bloss die problematische Groesse
und der etwaige Reichtum der Stadt, welche die Sage bestimmt haben, die
Entnahme Albas in so besonderer Weise hervorzuheben. Alba galt als die
Metropole der latinischen Eidgenossenschaft und hatte die
Vorstandschaft unter den dreissig berechtigten Gemeinden. Die
Zerstoerung Albas hob natuerlich den Bund selbst so wenig auf wie die
Zerstoerung Thebens die boeotische Genossenschaft ^5; vielmehr nahm,
dem streng privatrechtlichen Charakter des latinischen Kriegsrechts
vollkommen entsprechend, Rom jetzt als Rechtsnachfolgerin von Alba
dessen Bundesvorstandschaft in Anspruch. Ob und welche Krisen der
Anerkennung dieses Anspruchs vorhergingen oder nachfolgten, vermoegen
wir nicht anzugeben; im ganzen scheint man die roemische Hegemonie
ueber Latium bald und durchgaengig anerkannt zu haben, wenn auch
einzelne Gemeinden, wie zum Beispiel Labici und vor allem Gabii,
zeitweilig sich ihr entzogen haben moegen. Schon damals mochte Rom als
seegewaltig der Landschaft, als Stadt den Dorfschaften, als
Einheitsstaat der Eidgenossenschaft gegenueberstehen, schon damals nur
mit und durch Rom die Latiner ihre Kuesten gegen Karthager, Hellenen
und Etrusker schirmen und ihre Landgrenze gegen die unruhigen Nachbarn
sabellischen Stammes behaupten und erweitern koennen. Ob der materielle
Zuwachs, den Rom durch die Ueberwaeltigung von Alba erhielt, groesser
war als die durch die Einnahme von Antemnae oder Collatia erlangte
Machtvermehrung, laesst sich nicht ausmachen; es ist sehr moeglich,
dass Rom nicht erst durch die Eroberung Albas die maechtigste
latinische Gemeinde ward, sondern schon lange vorher es war; aber was
dadurch gewonnen ward, war die Vorstandschaft bei dem latinischen Feste
und damit die Grundlage der kuenftigen Hegemonie der roemischen
Gemeinde ueber die gesamte latinische Eidgenossenschaft. Es ist
wichtig, diese entscheidenden Verhaeltnisse so bestimmt wie moeglich zu
bezeichnen.
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^5 Es scheint sogar aus einem Teile der albischen Mark die Gemeinde
Bovillae gebildet und diese an Albas Platz unter die autonomen
latinischen Staedte eingetreten zu sein. Ihren albischen Ursprung
bezeugt der Iulierkult und der Name Albani Longani Bovillenses
(Orelli-Henzen 119, 2252, 6019); ihre Autonomie Dionysios (5, 61) und
Cicero (Planc. 9, 23).
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Die Form der roemischen Hegemonie ueber Latium war im ganzen die eines
gleichen Buendnisses zwischen der roemischen Gemeinde einer- und der
latinischen Eidgenossenschaft anderseits, wodurch ein ewiger Landfriede
in der ganzen Mark und ein ewiges Buendnis fuer den Angriff wie fuer
die Verteidigung festgestellt ward. “Friede soll sein zwischen den
Roemern und allen Gemeinden der Latiner, solange Himmel und Erde
bestehen; sie sollen nicht Krieg fuehren untereinander noch Feinde ins
Land rufen noch Feinden den Durchzug gestatten; dem Angegriffenen soll
Hilfe geleistet werden mit gesamter Hand und gleichmaessig verteilt
werden, was gewonnen ist im gemeinschaftlichen Krieg.” Die verbriefte
Rechtsgleichheit im Handel und Wandel, im Kreditverkehr wie im
Erbrecht, verflocht die Interessen der schon durch die gleiche Sprache
und Sitte verbundenen Gemeinden noch durch die tausendfachen
Beziehungen des Geschaeftsverkehrs, und es ward damit etwas aehnliches
erreicht wie in unserer Zeit durch die Beseitigung der Zollschranken.
Allerdings blieb jeder Gemeinde formell ihr eigenes Recht; bis auf den
Bundesgenossenkrieg war das latinische Recht mit dem roemischen nicht
notwendig identisch, und wir finden zum Beispiel, dass die Klagbarkeit
der Verloebnisse, die in Rom frueh abgeschafft ward, in den latinischen
Gemeinden bestehen blieb. Allein die einfache und rein volkstuemliche
Entwicklung des latinischen Rechtes und das Bestreben, die
Rechtsgleichheit moeglichst festzuhalten, fuehrten denn doch dahin,
dass das Privatrecht in Inhalt und Form wesentlich dasselbe war in ganz
Latium. Am schaerfsten tritt diese Rechtsgleichheit hervor in den
Bestimmungen ueber den Verlust und den Wiedergewinn der Freiheit des
einzelnen Buergers. Nach einem alten ehrwuerdigen Rechtssatz des
latinischen Stammes konnte kein Buerger in dem Staat, wo er frei
gewesen war, Knecht werden oder innerhalb dessen das Buergerrecht
einbuessen; sollte er zur Strafe die Freiheit und, was dasselbe war,
das Buergerrecht verlieren, so musste er ausgeschieden werden aus dem
Staat und bei Fremden in die Knechtschaft eintreten. Diesen Rechtssatz
erstreckte man auf das gesamte Bundesgebiet; kein Glied eines der
Bundesstaaten sollte als Knecht leben koennen innerhalb der gesamten
Eidgenossenschaft. Anwendungen davon sind die in die Zwoelf Tafeln
aufgenommene Bestimmung, dass der zahlungsunfaehige Schuldner, wenn der
Glaeubiger ihn verkaufen wolle, verkauft werden muesse jenseits der
Tibergrenze, das heisst ausserhalb des Bundesgebietes, und die Klausel
des zweiten Vertrags zwischen Rom und Karthago, dass der von den
Karthagern gefangene roemische Bundesgenosse frei sein solle, so wie er
einen roemischen Hafen betrete. Wenngleich allgemeine Ehegemeinschaft
innerhalb des Bundes wahrscheinlich nicht bestand, so sind dennoch
Zwischenehen zwischen den verschiedenen Gemeinden, wie dies schon
frueher bemerkt worden ist, haeufig vorgekommen. Die politischen Rechte
konnte zunaechst jeder Latiner nur da ausueben, wo er eingebuergert
war; dagegen lag es im Wesen der privatrechtlichen Gleichheit, dass
jeder Latiner an jedem latinischen Orte sich niederlassen konnte, oder,
nach heutiger Terminologie, es bestand neben den besonderen
Buergerrechten der einzelnen Gemeinden ein allgemeines eidgenoessisches
Niederlassungsrecht; und seitdem der Plebejer in Rom als Buerger
anerkannt war, wandelte sich dieses Recht Rom gegenueber um in volle
Freizuegigkeit. Dass dies wesentlich zum Vorteil der Hauptstadt
ausschlug, die allein in Latium staedtischen Verkehr, staedtischen
Erwerb, staedtische Genuesse darzubieten hatte, und dass die Zahl der
Insassen in Rom sich reissend schnell vermehrte, seit die latinische
Landschaft im ewigen Frieden mit Rom lebte, ist begreiflich.
In Verfassung und Verwaltung blieb nicht bloss die einzelne Gemeinde
selbstaendig und souveraen, soweit nicht die Bundespflichten
eingriffen, sondern, was mehr bedeutet, es blieb dem Bunde der dreissig
Gemeinden als solchem Rom gegenueber die Autonomie. Wenn versichert
wird, dass Albas Stellung zu den Bundesgemeinden eine ueberlegenere
gewesen sei als die Roms, und dass die letzteren durch Albas Sturz die
Autonomie erlangt haetten, so ist dies insofern wohl moeglich, als Alba
wesentlich Bundesglied war, Rom von Haus aus mehr als Sonderstaat dem
Bunde gegenueber als innerhalb desselben stand; aber es mag, eben wie
die Rheinbundstaaten formell souveraen waren, waehrend die deutschen
Reichsstaaten einen Herrn hatten, der Sache nach vielmehr Albas
Vorstandschaft gleich der des deutschen Kaisers ein Ehrenrecht, Roms
Protektorat von Haus aus wie das napoleonische eine Oberherrlichkeit
gewesen sein. In der Tat scheint Alba im Bundesrat den Vorsitz gefuehrt
zu haben, waehrend Rom die latinischen Abgeordneten selbstaendig, unter
Leitung, wie es scheint, eines aus ihrer Mitte gewaehlten Vorsitzenden,
ihre Beratungen abhalten liess und sich begnuegte mit der
Ehrenvorstandschaft bei dem Bundesopferfest fuer Rom und Latium und mit
der Errichtung eines zweiten Bundesheiligtums in Rom, des Dianatempels
auf dem Aventin, so dass von nun an teils auf roemischem Boden fuer Rom
und Latium, teils auf latinischem fuer Latium und Rom geopfert ward.
Nicht minder im Interesse des Bundes war es, dass die Roemer in dem
Vertrag mit Latium sich verpflichteten, mit keiner latinischen Gemeinde
ein Sonderbuendnis einzugehen - eine Bestimmung, aus der die ohne
Zweifel wohlbegruendete Besorgnis der Eidgenossenschaft gegenueber der
maechtigen leitenden Gemeinde sehr klar heraussieht. Am deutlichsten
zeigt sich die Stellung Roms nicht innerhalb, sondern neben Latium in
dem Kriegswesen. Die Bundesstreitmacht ward, wie die spaetere Weise des
Aufgebots unwidersprechlich zeigt, gebildet aus zwei gleich starken
Massen, einer roemischen und einer latinischen. Das Oberkommando stand
ein fuer allemal bei den roemischen Feldherren; Jahr fuer Jahr hatte
der latinische Zuzug vor den Toren Roms sich einzufinden und begruesste
hier den erwaehlten Befehlshaber durch Zuruf als seinen Feldherrn,
nachdem die vom latinischen Bundesrat dazu beauftragten Roemer sich aus
der Beobachtung des Voegelflugs der Zufriedenheit der Goetter mit der
getroffenen Wahl versichert hatten. Was im Bundeskrieg an Land und Gut
gewonnen war, wurde nach dem Ermessen der Roemer unter die
Bundesglieder verteilt. Dass dem Ausland gegenueber die
roemisch-latinische Foederation nur durch Rom vertreten worden ist,
laesst sich nicht mit Sicherheit behaupten. Der Bundesvertrag
untersagte weder Rom noch Latium, auf eigene Hand einen Angriffskrieg
zu beginnen; und wenn, sei es nach Bundesschluss, sei es infolge eines
feindlichen Ueberfalls, ein Bundeskrieg gefuehrt ward, so mag bei der
Fuehrung wie bei der Beendigung desselben auch der latinische Bundesrat
rechtlich beteiligt gewesen sein. Tatsaechlich freilich wird Rom damals
schon die Hegemonie besessen haben, wie denn, wo immer ein
einheitlicher Staat und ein Staatenbund in eine dauernde Verbindung
zueinander treten, das Uebergewicht auf die Seite von jenem zu fallen
pflegt.
Wie nach Albas Fall Rom, jetzt sowohl die Herrin eines
verhaeltnismaessig bedeutenden Gebietes als auch vermutlich die
fuehrende Macht innerhalb der latinischen Eidgenossenschaft, sein
unmittelbares und mittelbares Gebiet weiter ausgedehnt hat, koennen wir
nicht mehr verfolgen. Mit den Etruskern, zunaechst den Veientern,
hoerten die Fehden namentlich um den Besitz von Fidenae nicht auf; es
scheint aber nicht, dass es den Roemern gelang, diesen auf dem
latinischen Ufer des Flusses nur eine starke Meile von Rom gelegenen
etruskischen Vorposten dauernd in ihre Gewalt zu bringen und die
Veienter aus dieser gefaehrlichen Offensivbasis zu verdraengen. Dagegen
behaupten sie sich, wie es scheint, unangefochten im Besitz des
Ianiculum und der beiden Ufer der Tibermuendung. Den Sabinern und
Aequern gegenueber erscheint Rom in einer mehr ueberlegenen Stellung;
von der spaeterhin so engen Verbindung mit den entfernteren Hernikern
werden wenigstens die Anfaenge schon in der Koenigszeit bestanden und
die vereinigten Latiner und Herniker ihre oestlichen Nachbarn von zwei
Seiten umfasst und niedergehalten haben. Der bestaendige
Kriegsschauplatz aber war die Suedgrenze, das Gebiet der Rutuler und
mehr noch das der Volsker. Nach dieser Richtung hat die latinische
Landschaft sich am fruehesten erweitert, und hier begegnen wir zuerst
den von Rom und Latium in dem feindlichen Lande begruendeten und als
autonome Glieder der latinischen Eidgenossenschaft konstituierten
Gemeinden, den sogenannten latinischen Kolonien, von denen die
aeltesten noch in die Koenigszeit hineinzureichen scheinen. Wie weit
indes das roemische Machtgebiet um das Ende der Koenigszeit sich
erstreckte, laesst sich in keiner Weise bestimmen. Von Fehden mit den
benachbarten latinischen und volskischen Gemeinden ist in den
roemischen Jahrbuechern der Koenigszeit genug und nur zuviel die Rede;
aber kaum duerften wenige einzelne Meldungen, wie etwa die der Einnahme
von Suessa in der pomptinischen Ebene, einen geschichtlichen Kern
enthalten. Dass die Koenigszeit nicht bloss die staatlichen Grundlagen
Roms gelegt, sondern auch nach aussen hin Roms Macht begruendet hat,
laesst sich nicht bezweifeln; die Stellung der Stadt Rom mehr
gegenueber als in dem latinischen Staatenbund ist bereits im Beginn der
Republik entschieden gegeben und laesst erkennen, dass in Rom schon in
der Koenigszeit eine energische Machtentfaltung nach aussen hin
stattgefunden haben muss. Gewiss sind grosse Taten, ungemeine Erfolge
hier verschollen; aber der Glanz derselben ruht auf der Koenigszeit
Roms, vor allem auf dem koeniglichen Hause der Tarquinier, wie ein
fernes Abendrot, in dem die Umrisse verschwimmen.
So war der latinische Stamm im Zuge, sich unter der Fuehrung Roms zu
einigen und zugleich sein Gebiet nach Osten und Sueden hin zu
erweitern; Rom selbst aber war durch die Gunst der Geschicke und die
Kraft der Buerger aus einer regsamen Handels- und Landstadt der
maechtige Mittelpunkt einer bluehenden Landschaft geworden. Die
Umgestaltung der roemischen Kriegsverfassung und die darin im Keim
enthaltene politische Reform, welche uns unter dem Namen der
Servianischen Verfassung bekannt ist, steht im engsten Zusammenhang mit
dieser innerlichen Umwandlung des roemischen Gemeindewesens. Aber auch
aeusserlich musste mit den reicher stroemenden Mitteln, mit den
steigenden Anforderungen, mit dem erweiterten politischen Horizont der
Charakter der Stadt sich aendern. Die Verschmelzung der quirinalischen
Nebengemeinde mit der palatinischen muss bereits vollzogen gewesen
sein, als die sogenannte Servianische Reform stattfand; seit in dieser
die Buergerwehr sich in festen und einheitlichen Formen
zusammengenommen hatte, konnte die Buergerschaft nicht dabei beharren,
die einzelnen Huegel, wie sie nacheinander mit Gebaeuden sich gefuellt
hatten, zu verschanzen und etwa noch zur Beherrschung des Tiberlaufes
die Flussinsel und die Hoehe am entgegengesetzten Ufer besetzt zu
halten. Die Hauptstadt von Latium verlangte ein anderes und
abgeschlossenes Verteidigungssystem: man schritt zu dem Bau der
Servianischen Mauer. Der neue, zusammenhaengende Stadtwall begann am
Fluss unterhalb des Aventin und umschloss diesen Huegel, an dem
neuerdings (1855) an zwei Stellen, teils am westlichen Abhang gegen den
Fluss zu, teils an dem entgegengesetzten oestlichen, die kolossalen
Ueberreste dieser uralten Befestigungen zum Vorschein gekommen sind,
Mauerstuecke von der Hoehe derjenigen von Alatri und Ferentino, aus
maechtigen, viereckig behauenen Tuffbloecken unregelmaessig
geschichtet, die wiedererstandenen Zeugen einer gewaltigen Epoche,
deren Bauten in diesen Felswaenden unvergaenglich dastehen und deren
geistige Taten unvergaenglicher als diese in Ewigkeit fortwirken
werden. Weiter umfasste der Mauerring den Caelius und den ganzen Raum
des Esquilin, Viminal und Quirinal, wo ein ebenfalls erst vor kurzem
(1862) wieder in groesseren Resten zu Tage gekommener Bau, nach aussen
von Peperinbloecken aufgesetzt und durch einen vorgezogenen Graben
geschuetzt, nach innen in einen maechtigen, gegen die Stadt zu
abgeboeschten und noch heute imponierenden Erddamm auslaufend, den
Mangel der natuerlichen Verteidigungsmittel ersetzte, lief von da zum
Kapitol, dessen steile Senkung gegen das Marsfeld zu einen Teil des
Stadtwalls ausmachte, und stiess oberhalb der Tiberinsel zum zweitenmal
an den Fluss. Die Tiberinsel nebst der Pfahlbruecke und das Ianiculum
gehoerten nicht zur eigentlichen Stadt, wohl aber war die letztere
Hoehe ein befestigtes Vorwerk. Wenn ferner bisher der Palatin die Burg
gewesen war, so wurde dieser Huegel jetzt dem freien staedtischen Anbau
ueberlassen und dagegen auf dem nach allen Seiten hin freistehenden und
bei seinem maessigen Umfang leicht zu verteidigenden tarpeischen Huegel
die neue “Burg” (arx, capitolium) ^6 angelegt mit dem Burgbrunnen, dem
sorgfaeltig gefassten “Quellhaus” (tullianum), der Schatzkammer
(aerarium), dem Gefaengnis und dem aeltesten Versammlungsplatz der
Buergerschaft (area Capitolina), auf dem auch spaeter immer noch die
regelmaessigen Abkuendigungen der Mondzeiten stattgefunden haben.
Privatwohnungen dauernder Art sind dagegen in frueherer Zeit nicht auf
dem Burghuegel geduldet worden ^7; und der Raum zwischen den beiden
Spitzen des Huegels, das Heiligtum des argen Gottes (Ve-diovis) oder,
wie die spaetere hellenisierende Epoche es nannte, das Asyl war mit
Wald bedeckt und vermutlich bestimmt, die Bauern mit ihren Herden
aufzunehmen, wenn Ueberschwemmung oder Krieg sie von der Ebene
vertrieb. Das Kapitol war dem Namen wie der Sache nach die Akropole
Roms, ein selbstaendiges, auch noch nach dem Fall der Stadt
verteidigungsfaehiges Kastell, dessen Tor wahrscheinlich nach dem
spaeteren Markt zu gelegen hat ^8. In aehnlicher Weise, wenn auch
schwaecher, scheint der Aventin befestigt und der festen Ansiedelung
entzogen worden zu sein. Es haengt damit zusammen, dass fuer eigentlich
staedtische Zwecke, zum Beispiel fuer die Verteilung des zugeleiteten
Wassers, die roemische Stadtbewohnerschaft sich teilte in die
eigentlichen Stadtbewohner (montani) und in die innerhalb der
allgemeinen Ringmauer gelegenen, aber doch nicht zu der eigentlichen
Stadt gerechneten Bezirke (pagani Aventinenses, Ianiculenses, collegia
Capitolinorum et Mercurialium) ^9. Der von der neuen Stadtmauer
umschlossene Raum umfasste also ausser der bisherigen palatinischen und
quirinalischen Stadt noch die beiden Bundesfestungen des Kapitol und
des Aventin, ferner das Ianiculum ^10; der Palatin als die eigentliche
und aelteste Stadt ward von den uebrigen Anhoehen, an denen die Mauer
entlang gefuehrt war, wie im Kranz umschlossen und von den beiden
Kastellen in die Mitte genommen. Aber das Werk war nicht vollstaendig,
solange der mit schwerer Muehe vor dem auswaertigen Feinde geschirmte
Boden nicht auch dem Wasser abgewonnen war, welches das Tal zwischen
dem Palatin und dem Kapitol dauernd fuellte, sodass hier vielleicht
sogar eine Faehre bestand, und das Tal zwischen dem Kapitol und der
Velia sowie das zwischen Palatin und Aventin versumpfte. Die heute noch
stehenden, aus prachtvollen Quadern zusammengefuegten unterirdischen
Abzugsgraeben, welche die Spaeteren als ein Wunderwerk des koeniglichen
Rom anstaunten, duerften eher der folgenden Epoche angehoeren, da
Travertin dabei verwendet ist und vielfach von Neubauten daran in der
republikanischen Zeit erzaehlt wird; allein die Anlage selbst gehoert
ohne Zweifel in die Koenigszeit, wenngleich vermutlich in eine spaetere
Epoche als die Anlage des Mauerrings und der kapitolinischen Burg.
Durch sie wurden an den entsumpften oder trockengelegten Stellen
oeffentliche Plaetze gewonnen, wie die neue Grossstadt sie bedurfte.
Der Versammlungsplatz der Gemeinde, bis dahin der kapitolinische Platz
auf der Burg selbst, ward verlegt auf die Flaeche, die von der Burg
gegen die Stadt sich senkte (comitium), und dehnte von dort zwischen
dem Palatin und den Carinen in der Richtung nach der Velia hin sich
aus. An der der Burg zugekehrten Seite der Dingstaette erhielten auf
der nach Art eines Altanes ueber die Dingstaette sich erhebenden
Burgmauer die Ratsmitglieder und die Gaeste der Stadt bei
Festlichkeiten und Volksversammlungen den Ehrenplatz; und auf dem
Versammlungsplatz selbst wurde das Rathaus errichtet, das spaeter den
Namen der hostilischen Kurie fuehrte. Die Estrade fuer den Richterstuhl
(tribunal) und die Buehne, von wo aus zur Buergerschaft gesprochen ward
(die spaeteren rostra), wurden ebenfalls auf der Dingstaette selbst
errichtet. Ihre Verlaengerung gegen die Velia ward der neue Markt
(forum Romanum). Am Ende desselben, unter dem Palatin, erhob sich das
Gemeindehaus, das die Amtswohnung des Koenigs (regia) und den
gemeinsamen Herd der Stadt, die Rotunde des Vestatempels, einschloss;
nicht weit davon, an der Suedseite des Marktes, ward ein dazu
gehoeriges zweites Rundgebaeude errichtet, die Kammer der Gemeinde oder
der Tempel der Penaten, der heute noch steht als Vorhalle der Kirche
Santi Cosma e Damiano. Es ist bezeichnend fuer die neu und in ganz
anderer Art, als die Ansiedelung der “sieben Berge” es gewesen war,
geeinigte Stadt, dass neben und ueber die dreissig Kurienherde, mit
deren Vereinigung in einem Gebaeude das palatinische Rom sich begnuegt
hatte, in dem Servianischen dieser allgemeine und einheitliche
Stadtherd trat ^11. Laengs der beiden Langseiten des Marktes reihten
sich die Fleischbuden und andere Kauflaeden. In dem Tal zwischen
Aventin und Palatin ward fuer die Rennspiele der “Ring” abgesteckt; das
ward der Circus. Unmittelbar am Flusse ward der Rindermarkt angelegt
und bald entstand hier eines der am dichtesten bevoelkerten Quartiere.
Auf allen Spitzen erhoben sich Tempel und Heiligtuemer, vor allem auf
dem Aventin das Bundesheiligtum der Diana und auf der Hoehe der Burg
der weithin sichtbare Tempel des Vater Diovis, der seinem Volk all
diese Herrlichkeit gewaehrt hatte und nun, wie die Roemer ueber die
umliegenden Nationen, so mit ihnen ueber die unterworfenen Goetter der
Besiegten triumphierte.
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^6 Beide Namen, obwohl spaeter auch als Lokalnamen und zwar capitolium
von der nach dem Fluss, arx von der nach dem Quirinal zu liegenden
Spitze des Burghuegels gebraucht, sind urspruenglich, genau den
griechischen άκρα und κορυφή entsprechend, appellativ, wie denn jede
latinische Stadt ihr capitolium ebenfalls hat. Der Lokalname des
roemischen Burghuegels ist mons Tarpeius.
^7 Die Bestimmung, ne quis patricius in arce aut capitolio habitaret,
untersagte wohl nur die Umwandlung des Bodens in Privateigentum, nicht
die Anlegung der Wohnhaeuser. Vgl. W. A. Becker Topographie der Stadt
Rom (Becker, Handbuch, 1). Leipzig 1843, S. 386.
^8 Denn von hier fuehrte der Hauptweg, die “Heilige Strasse”, auf die
Burg hinauf und in der Wendung, die diese bei dem Severusbogen nach
links macht, ist noch deutlich die Einbiegung auf das Tor zu erkennen.
Dieses selbst wird in den grossen Bauten, die spaeter am Clivus
stattfanden, untergegangen sein. Das sogenannte Tor an der steilsten
Stelle des kapitolinischen Berges, das unter dem Namen des janualischen
oder saturnischen oder auch des offenen vorkommt und in Kriegszeiten
stets offenstehen musste, hatte augenscheinlich nur religioese
Bedeutung und ist nie ein wirkliches Tor gewesen.
^9 Es kommen vier solcher Gilden vor: 1. die Capitolini (Cic. ad Q. fr.
2, 5, 2) mit eigenen magistri (Henzen 6010, 6011) und jaehrlichen
Spielen (Liv. 5, 50); vgl. zu CIL I, 805; 2. die Mercuriales (Liv. 2,
27; Cic. a.a.O.; Preller, Roemische Mythologie. Berlin 1858. Bd. 1, S.
597) ebenfalls mit magistri (Henzen 6010), die Gilde aus dem Circustal,
wo der Mercurtempel sich befand; 3. die pagani Aventinenses ebenfalls
mit magistri (Henzen 6010); 4. die pagani pagi Ianiculensis ebenfalls
mit magistri (CIL I, 801, 802). Es ist gewiss nicht zufaellig, dass
diese vier Gilden, die einzigen derartigen, die in Rom vorkommen, eben
den von den vier oertlichen Tribus aus-, aber von der Servianischen
Mauer eingeschlossenen beiden Huegeln, dem Kapitol und dem Aventin, und
dem zu derselben Befestigung gehoerigen Ianiculum angehoeren; und damit
steht weiter im Zusammenhang, dass als Bezeichnung der gesamten
staedtischen Eingesessenen Roms montani paganive gebraucht wird - vgl.
ausser der bekannten Stelle Cic. dom. 28; 74 besonders das Gesetz ueber
die staedtischen Wasserleitungen bei Festus unter sifus p. 340:
[mon]tani paganive si[fis aquam dividunto]. Die montani, eigentlich die
Bewohner der palatinischen drei Bezirke, scheinen hier a potiori fuer
die ganze eigentliche Stadtbuergerschaft der vier Quartiere gesetzt zu
sein; die pagani sind sicher die ausserhalb der Tribus stehenden
Genossenschaften von Aventin und Ianiculum und die analogen Kollegien
vom Kapitol und dem Circustal.
^10 Die “Siebenhuegelstadt” im eigentlichen und religioesen Sinn ist
und bleibt das engere palatinische Altrom. Allerdings hat auch das
Servianische Rom sich wenigstens schon in der ciceronischen Zeit (vgl.
z. B. Cic. Att. 6, 5, 2; Plut. q. Rom. 69) als Siebenhuegelstadt
betrachtet, wahrscheinlich weil das auch in der Kaiserzeit eifrig
gefeierte Fest des Septimontium anfing, als allgemeines Stadtfest zu
gelten; aber schwerlich ist man je darueber zu fester Einigung gelangt,
welche von den durch den Servianischen Mauerring umfassten Anhoehen zu
den sieben zaehlen. Die uns gelaeufigen sieben Berge Palatinus,
Aventinus, Caelius, Esquilinus, Viminalis, Quirinalis, Capitolinus
zaehlt kein alter Schriftsteller auf. Sie sind zusammengestellt aus der
traditionellen Erzaehlung von der allmaehlichen Entstehung der Stadt
(Jordan, Topographie der Stadt Rom im Altertum. Bd. 2. Berlin 1885, S.
206f.), aber das Ianiculum ist dabei nur uebergangen, weil sonst acht
herauskommen wuerden. Die aelteste Quelle, welche die sieben Berge
(montes) Roms aufzaehlt, die Stadtbeschreibung aus der Zeit Konstantins
des Grossen, nennt als solche Palatin, Aventin, Caelius, Esquilin,
Tarpeius, Vaticanus und Ianiculum - wo also der Quirinal und Viminal,
offenbar als colles, fehlen und dafuer zwei “montes” vom rechten
Tiberufer, darunter sogar der ausserhalb der Servianischen Mauer
liegende Vaticanus mit hineingezogen sind. Andere, noch spaetere Listen
geben Servius (Aen. 6, 783), die Berner Scholien zu Vergils Georgiken
(2, 535) und Lydus (mens. p. 118 Bekker).
^11 Sowohl die Lage der beiden Tempel als das ausdrueckliche Zeugnis
des Dionysios (2, 25), dass der Vestatempel ausserhalb der Roma
quadrata lag, bezeugen es, dass diese Anlagen nicht mit der
palatinischen, sondern mit der zweiten (Servianischen) Stadtgruendung
im Zusammenhang stehen; und wenn den Spaeteren dieses Koenigshaus mit
dem Vestatempel als Anlage Numas gilt, so ist die Ursache dieser
Annahme zu offenbar, um darauf Gewicht zu legen.
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Die Namen der Maenner, auf deren Geheiss diese staedtischen Grossbauten
sich erhoben, sind nicht viel weniger verschollen, als die der Fuehrer
in den aeltesten roemischen Schlachten und Siegen. Die Sage freilich
knuepft die verschiedenen Werke an verschiedene Koenige an, das Rathaus
an Tullus Hostilius, das Ianiculum und die Holzbruecke an Ancus
Marcius, die grosse Kloake, den Circus, den Jupitertempel, an
Tarquinius den Aelteren, den Dianatempel und den Mauerring an Servius
Tullius. Manche dieser Angaben moegen richtig sein, und es scheint
nicht zufaellig, dass der Bau des neuen Mauerrings mit der neuen
Heeresordnung, die ja auf die stetige Verteidigung der Stadtwaelle
wesentliche Ruecksicht nahm, auch der Zeit und dem Urheber nach
zusammengestellt wird. Im ganzen aber wird man sich begnuegen muessen,
aus dieser Ueberlieferung zu entnehmen, was schon an sich einleuchtet,
dass diese zweite Schoepfung Roms mit der Anbahnung der Hegemonie ueber
Latium und mit der Umschaffung des Buergerheeres im engsten
Zusammenhange stand; und dass sie zwar aus einem und demselben grossen
Gedanken hervorgegangen, uebrigens aber weder eines Mannes noch eines
Menschenalters Werk ist. Dass auch in diese Umgestaltung des roemischen
Gemeindewesens die hellenische Anregung maechtig eingegriffen hat, ist
ebenso unzweifelhaft, als es unmoeglich ist, die Art und den Grad
dieser Einwirkung darzutun. Es wurde schon bemerkt, dass die
Servianische Militaerverfassung wesentlich hellenischer Art ist, und
dass die Circusspiele nach hellenischem Muster geordnet wurden, wird
spaeter gezeigt werden. Auch das neue Koenigshaus mit dem Stadtherd ist
vollstaendig ein griechisches Prytaneion und der runde, nach Osten
schauende und nicht einmal von den Auguren eingeweihte Vestatempel in
keinem Stueck nach italischem, sondern durchaus nach hellenischem Ritus
erbaut. Es scheint danach durchaus nicht unglaublich, was die
Ueberlieferung meldet, dass der roemisch-latinischen Eidgenossenschaft
die ionische in Kleinasien gewissermassen als Muster diente und darum
auch das neue Bundesheiligtum auf dem Aventin dem ephesischen
Artemision nachgebildet ward.
KAPITEL VIII.
Die umbrisch-sabellischen Stämme.
Anfänge der Samniten
Spaeter als die der Latiner scheint die Wanderung der umbrischen
Staemme begonnen zu haben, die gleich der latinischen sich suedwaerts
bewegte, jedoch mehr in der Mitte der Halbinsel und gegen die oestliche
Kueste zu sich hielt. Es ist peinlich, davon zu reden, denn die Kunde
davon kommt zu uns wie der Klang der Glocken aus der im Meer
versunkenen Stadt. Das Volk der Umbrer dehnt noch Herodotos bis an die
Alpen aus, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie in aeltester
Zeit ganz Norditalien innehatten, bis wo im Osten die illyrischen
Staemme begannen, im Westen die Ligurer, von deren Kaempfen mit den
Umbrern es Sagen gibt, und auf deren Ausdehnung in aeltester Zeit gegen
Sueden zu einzelne Namen, zum Beispiel der der Insel Ilva (Elba),
verglichen mit den ligurischen Ilvates, vielleicht einen Schluss
gestatten. Dieser Epoche der umbrischen Groesse moegen die offenbar
italischen Namen der aeltesten Ansiedlungen im Potal, Atria
(Schwarzstadt) und Spina (Dornstadt), sowie die zahlreichen umbrischen
Spuren in Suedetrurien (Fluss Umbro, Camars alter Name von Clusium,
Castrum Amerinum) ihren Ursprung verdanken. Ganz besonders begegnen
dergleichen Anzeichen einer der etruskischen voraufgegangenen
italischen Bevoelkerung in dem suedlichen Strich Etruriens zwischen dem
Ciminischen Wald (unterhalb Viterbo) und dem Tiber. In Falerii, der
Grenzstadt Etruriens gegen Umbrien und das Sabinerland, ward nach
Strabons Zeugnis eine andere Sprache geredet als die etruskische, und
neuerdings sind daselbst derartige Inschriften zum Vorschein gekommen,
deren Alphabet und Sprache zwar auch mit dem Etruskischen
Beruehrungspunkte hat, aber doch im allgemeinen dem Latinischen analog
ist ^1. Auch der Lokalkult zeigt sabellische Spuren; in denselben Kreis
gehoeren die uralten, auch sakralen Beziehungen zwischen Caere und Rom.
Wahrscheinlich haben die Etrusker diese suedlichen Striche bedeutend
spaeter als die Landschaft nordwaerts vom Ciminischen Wald den Umbrern
entrissen und hat sogar noch nach der tuskischen Eroberung umbrische
Bevoelkerung sich hier gehalten. Die spaeter nach der roemischen
Eroberung im Vergleich mit dem zaehen Festhalten etruskischer Sprache
und Sitte im noerdlichen Etrurien so auffallend schnell erfolgende
Latinisierung der suedlichen Landschaft findet vermutlich eben hierin
ihren letzten Grund. Dass von Norden und Westen her die Umbrer nach
harten Kaempfen zurueckgedraengt wurden in das enge Bergland zwischen
den beiden Armen des Apennin, das sie spaeter innehaben, bezeichnet
schon ihre geographische Lage ebenso deutlich, wie heutzutage die der
Bewohner Graubuendens und die der Basken ihre aehnlichen Schicksale
andeutet; auch die Sage weiss zu berichten, dass die Tusker den Umbrern
dreihundert Staedte entrissen haben, und, was mehr ist, in den
Nationalgebeten der umbrischen Iguviner, die wir noch besitzen, werden
nebst anderen Staemmen vor allem die Tusker als Landesfeinde
verwuenscht.
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^1 In dem Alphabet ist besonders bemerkenswert, das r von der
lateinischen (R), nicht von der etruskischen Form (D) und das z ( ); es
kann nur aus dem primitiven lateinischen abgeleitet sein und wird dies
sehr getreu darstellen. Die Sprache steht ebenfalls dem aeltesten
Latein nah; Marci Acarcelini he cupa, das ist Marcius Acarcelinius heic
cubat; Menerva A. Cotena La. f. …. zenatuo sentem …. dedet cuando …
cuncaptum, das ist Minervae A(ulus?) Cotena La(rtis) f(ilius) . . de
senatus sententia dedit quando (wohl = olim) conceptum. Zugleich mit
diesen und aehnlichen haben sich einige andere Inschriften gefunden von
abweichender und unzweifelhaft etruskischer Sprache und Schrift.
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Vermutlich infolge dieses von Norden her auf sie geuebten Druckes
dringen die Umbrer vor gegen Sueden, im allgemeinen sich haltend auf
dem Gebirgszug, da sie die Ebenen schon von den latinischen Staemmen
besetzt fanden, jedoch ohne Zweifel das Gebiet ihrer Stammverwandten
oft betretend und beschraenkend und mit ihnen sich um so leichter
vermischend, als der Gegensatz in Sprache und Weise damals noch bei
weitem nicht so scharf ausgepraegt sein konnten, wie wir spaeter ihn
finden. In diesen Kreis gehoert, was die Sage zu erzaehlen weiss von
dem Eindringen der Reatiner und Sabiner in Latium und ihren Kaempfen
mit den Roemern; aehnliche Erscheinungen moegen sich laengs der ganzen
Westkueste wiederholt haben. Im ganzen behaupten die Sabiner sich in
den Bergen, so in der von ihnen seitdem benannten Landschaft neben
Latium und ebenso in dem Volskerland, vermutlich, weil die latinische
Bevoelkerung hier fehlte oder doch minder dicht war; waehrend
anderseits die wohlbevoelkerten Ebenen besser Widerstand zu leisten
vermochten, ohne indes das Eindringen einzelner Genossenschaften, wie
der Titier und spaeter der Claudier in Rom, ganz abwehren zu koennen
oder zu wollen. So mischten sich hier die Staemme hueben und drueben,
woraus sich auch erklaert, weshalb die Volsker mit den Latinern in
zahlreichen Beziehungen stehen und nachher dieser Strich sowie die
Sabina so frueh und so schnell sich latinisieren konnten.
Der Hauptstock des umbrischen Stammes aber warf sich aus der Sabina
oestlich in die Gebirge der Abruzzen und das suedlich an diese sich
anschliessende Huegelland: sie besetzten auch hier wie an der
Westkueste die bergigen Striche, deren duenne Bevoelkerung den
Einwanderern wich oder sich unterwarf, waehrend dagegen in dem ebenen
apulischen Kuestenland die alte einheimische Bevoelkerung der Iapyger,
zwar unter steten Fehden, namentlich an der Nordgrenze um Luceria und
Arpi, doch im ganzen sich behauptete. Wann diese Wanderungen
stattfanden, laesst sich natuerlich nicht bestimmen; vermutlich aber
doch um die Zeit, wo in Rom die Koenige herrschten. Die Sage erzaehlt,
dass die Sabiner, gedraengt von den Umbrern, einen Lenz gelobten, das
heisst schwuren, die in dem Kriegsjahre geborenen Soehne und Toechter,
nachdem sie erwachsen waeren, preiszugeben und ueber die Landesgrenze
zu schaffen, damit die Goetter sie nach ihrem Gefallen verderben oder
auswaerts ihnen neue Sitze bescheren moechten. Den einen Schwarm
fuehrte der Stier des Mars: das wurden die Safiner oder Samniten, die
zuerst sich festsetzten auf den Bergen am Sagrusfluss und in spaeterer
Zeit von da aus die schoene Ebene oestlich vom Matesegebirg an den
Quellen des Tifernus besetzten und im alten wie im neuen Gebiet ihre
Dingstaette, dort bei Agnone, hier bei Bojano gelegen, von dem Stier,
der sie leitete, Bovianum nannten. Einen zweiten Haufen fuehrte der
Specht des Mars: das wurden die Picenter, das Spechtvolk, das die
heutige anconitanische Mark gewann; einen dritten der Wolf (hirpus) in
die Gegend von Benevent: das wurden die Hirpiner. In aehnlicher Weise
zweigten von dem gemeinschaftlichen Stamm sich die uebrigen kleinen
Voelkerschaften ab: die Praetuttier bei Teramo, die Vestiner am Gran
Sasso, die Marruciner bei Chieti, die Frentaner an der apulischen
Grenze, die Paeligner am Majellagebirg, die Marser endlich am Fuciner
See, diese mit den Volskern und den Latinern sich beruehrend. In ihnen
allen blieb das Gefuehl der Verwandtschaft und der Herkunft aus dem
Sabinerlande lebendig, wie es denn in jenen Sagen deutlich sich
ausspricht. Waehrend die Umbrer im ungleichen Kampf erlagen und die
westlichen Auslaeufer des gleichen Stammes mit der latinischen oder
hellenischen Bevoelkerung verschmolzen, gediehen die sabellischen
Staemme in der Abgeschlossenheit des fernen Gebirgslandes, gleich
entrueckt dem Anstoss der Etrusker, der Latiner und der Griechen.
Staedtisches Leben entwickelte bei ihnen sich nicht oder nur in
geringem Grad; von dem Grossverkehr schloss ihre geographische Lage sie
beinahe voellig aus und dem Beduerfnis der Verteidigung genuegten die
Bergspitzen und die Schutzburgen, waehrend die Bauern wohnen blieben in
den offenen Weilern oder auch, wo Quell und Wald oder Wiese einem jeden
gefiel. So blieb denn auch die Verfassung, wie sie war; aehnlich wie
bei den aehnlich gelegenen Arkadern in Hellas kam es hier nicht zur
Inkorporation der Gemeinden, und es bildeten hoechstens mehr oder
minder lockere Eidgenossenschaften sich aus. Vor allem in den Abruzzen
scheint die scharfe Sonderung der Bergtaeler eine strenge
Abgeschlossenheit der einzelnen Kantone hervorgerufen zu haben, sowohl
unter sich wie gegen das Ausland; woher es kommt, dass diese
Bergkantone in geringem Zusammenhang unter sich und in voelliger
Isolierung gegen das uebrige Italien verharrt und trotz der Tapferkeit
ihrer Bewohner weniger als irgendein anderer Teil der italischen Nation
in die Entwicklung der Geschichte der Halbinsel eingegriffen haben.
Dagegen ist das Volk der Samniten in dem oestlichen Stamm der Italiker
ebenso entschieden der Hoehepunkt der politischen Entwicklung wie in
dem westlichen das latinische. Seit frueherer Zeit, vielleicht von der
ersten Einwanderung an, umschloss ein vergleichungsweise festes
politisches Band die samnitische Nation und gab ihr die Kraft, spaeter
mit Rom um den ersten Platz in Italien in ebenbuertigem Kampf zu
ringen. Wann und wie das Band geknuepft ward, wissen wir ebensowenig
als wir die Bundesverfassung kennen; das aber ist klar, dass in Samnium
keine einzelne Gemeinde ueberwog und noch weniger ein staedtischer
Mittelpunkt den samnitischen Stamm zusammenhielt wie Rom den
latinischen, sondern dass die Kraft des Landes in den einzelnen
Bauernschaften, die Gewalt in der aus ihren Vertretern gebildeten
Versammlung lag; sie war es, die erforderlichenfalls den
Bundesfeldherrn ernannte. Damit haengt es zusammen, dass die Politik
dieser Eidgenossenschaft nicht wie die roemische aggressiv ist, sondern
sich beschraenkt auf die Verteidigung der Grenzen; nur im Einheitsstaat
ist die Kraft so konzentriert, die Leidenschaft so maechtig, dass die
Erweiterung des Gebiets planmaessig verfolgt wird. Darum ist denn auch
die ganze Geschichte der beiden Voelker vorgezeichnet in ihrem
diametral auseinandergehenden Kolonisationssystem. Was die Roemer
gewannen, erwarb der Staat; was die Samniten besetzten, das eroberten
freiwillige Scharen, die auf Landraub ausgingen und von der Heimat im
Glueck wie im Unglueck preisgegeben waren. Doch gehoeren die
Eroberungen, welche die Samniten an den Kuesten des Tyrrhenischen und
des Ionischen Meeres machten, erst einer spaeteren Periode an; waehrend
die Koenige in Rom herrschten, scheinen sie selbst erst die Sitze sich
gewonnen zu haben, in denen wir spaeter sie finden. Als ein einzelnes
Ereignis aus dem Kreise der durch diese samnitische Ansiedelung
veranlassten Voelkerbewegungen ist der Ueberfall von Kyme durch
Tyrrhener vom oberen Meer, Umbrer und Daunier im Jahre der Stadt 230
(524) zu erwaehnen; es moegen sich, wenn man den allerdings sehr
romantisch gefaerbten Nachrichten trauen darf, hier, wie das bei
solchen Zuegen zu geschehen pflegt, die Draengenden und die Gedraengten
zu einem Heer vereinigt haben, die Etrusker mit ihren umbrischen
Feinden, mit diesen die von den umbrischen Ansiedlern suedwaerts
gedraengten Iapyger. Indes das Unternehmen scheiterte; fuer diesmal
gelang es noch der ueberlegenen hellenischen Kriegskunst und der
Tapferkeit des Tyrannen Aristodemos, den Sturm der Barbaren von der
schoenen Seestadt abzuschlagen.
KAPITEL IX.
Die Etrusker
Im schaerfsten Gegensatz zu den latinischen und den sabellischen
Italikern wie zu den Griechen steht das Volk der Etrusker oder, wie sie
sich selber nannten, der Rasen ^1. Schon der Koerperbau unterschied die
beiden Nationen; statt des schlanken Ebenmasses der Griechen und
Italiker zeigen die Bildwerke der Etrusker nur kurze staemmige Figuren
mit grossem Kopf und dicken Armen. Was wir wissen von den Sitten und
Gebraeuchen dieser Nation, laesst gleichfalls auf eine tiefe und
urspruengliche Verschiedenheit von den griechisch-italischen Staemmen
schliessen, so namentlich die Religion, die bei den Tuskern einen
trueben phantastischen Charakter traegt und im geheimnisvollen
Zahlenspiel und wuesten und grausamen Anschauungen und Gebraeuchen sich
gefaellt, gleich weit entfernt von dem klaren Rationalismus der Roemer
und dem menschlich heiteren hellenischen Bilderdienst. Was hierdurch
angedeutet wird, das bestaetigt das wichtigste Dokument der
Nationalitaet, die Sprache, deren auf uns gekommene Reste, so zahlreich
sie sind, und so manchen Anhalt sie fuer die Entzifferung darbieten,
dennoch so vollkommen isoliert stehen, dass es bis jetzt nicht einmal
gelungen ist, den Platz des Etruskischen in der Klassifizierung der
Sprachen mit Sicherheit zu bestimmen, geschweige denn die Ueberreste zu
deuten. Deutlich unterscheiden wir zwei Sprachperioden. In der aelteren
ist die Vokalisierung vollstaendig durchgefuehrt und das
Zusammenstossen zweier Konsonanten fast ohne Ausnahme vermieden ^2.
Durch Abwerfen der vokalischen konsonantischen Endungen und durch
Abschwaechen oder Ausstossen der Vokale ward dies weiche und klangvolle
Idiom allmaehlich in eine unertraeglich harte und rauhe Sprache
verwandelt ^3; so machte man zum Beispiel ramθa aus ramuθaf, Tarchnaf
aus Tarquinius, Menrva aus Minerva, Menle, Pultuke, Elchsentre aus
Menelaos, Polydeukes, Alexandros. Wie dumpf und rauh die Aussprache
war, zeigt am deutlichsten, dass o und u, b und p, c und g, d und t den
Etruskern schon in sehr frueher Zeit zusammenfielen. Zugleich wurde wie
im Lateinischen und in den rauheren griechischen Dialekten der Akzent
durchaus auf die Anfangssilbe zurueckgezogen. Aehnlich wurden die
aspirierten Konsonanten behandelt; waehrend die Italiker sie wegwarfen
mit Ausnahme des aspirierten b oder des f, und die Griechen umgekehrt
mit Ausnahme dieses Lautes die uebrigen θ φ χ beibehielten, liessen die
Etrusker den weichsten und lieblichsten, das φ gaenzlich, ausser in
Lehnwoertern fallen und bedienten sich dagegen der uebrigen drei in
ungemeiner Ausdehnung, selbst wo sie nicht hingehoerten, wie zum
Beispiel Thetis ihnen Thethis, Telephus Thelaphe, Odysseus Utuze oder
Uthuze heisst. Von den wenigen Endungen und Woertern, deren Bedeutung
ermittelt ist, entfernen die meisten sich weit von allen
griechisch-italischen Analogien; so die Zahlwoerter alle; so die Endung
al zur Bezeichnung der Abstammung, haeufig als Metronymikon, wie zum
Beispiel Canial auf einer zwiesprachigen Inschrift von Chiusi
uebersetzt wird durch Cainnia natus; die Endung sa bei Frauennamen zur
Bezeichnung des Geschlechts, in das sie eingeheiratet haben, so dass
zum Beispiel die Gattin eines Licinius Lecnesa heisst. So ist cela oder
clan mit dem Kasus clensi Sohn; seχ Tochter; ril Jahr; der Gott Hermes
wird Turms, Aphrodite Turan, Hephaestos Sethlans, Bakchos Fufluns.
Neben diesen fremdartigen Formen und Lauten finden sich allerdings
einzelne Analogien zwischen dem Etruskischen und den italischen
Sprachen. Die Eigennamen sind im wesentlichen nach dem allgemeinen
italischen Schema gebildet: die haeufige gentilizische Endung enas oder
ena ^4 kehrt wieder in der auch in italischen, besonders sabellischen
Geschlechtsnamen haeufigen Endung enus, wie denn die etruskischen Namen
Maecenas und Spurinna den roemischen Maecius und Spurius genau
entsprechen. Eine Reihe von Goetternamen, die auf etruskischen
Denkmaelern oder bei Schriftstellern als etruskische vorkommen, sind
dem Stamme und zum Teil auch der Endung nach so durchaus lateinisch
gebildet, dass, wenn diese Namen wirklich von Haus aus etruskisch sind,
die beiden Sprachen eng verwandt gewesen sein muessen: so Usil (Sonne
und Morgenroete, verwandt mit ausum, aurum, aurora, sol), Minerva
(menervare), Lasa (lascivus), Neptunus, Voltumna. Indes da diese
Analogien erst aus den spaeteren politischen und religioesen
Beziehungen zwischen Etruskern und Latinern und den dadurch
veranlassten Ausgleichungen und Entlehnungen herruehren koennen, so
stossen sie noch nicht das Ergebnis um, zu dem die uebrigen
Wahrnehmungen hinfuehren, dass die tuskische Sprache von den
saemtlichen griechisch-italischen Idiomen mindestens so weit abstand
wie die Sprache der Kelten und der Slaven. So wenigstens klang sie den
Roemern; “tuskisch und gallisch” sind Barbarensprachen, “oskisch und
volskisch” Bauernmundarten. Wenn aber die Etrusker dem
griechisch-italischen Sprachstamm fernstanden, so ist es bis jetzt
ebensowenig gelungen, sie einem andern bekannten Stamme anzuschliessen.
Auf die Stammesverwandtschaft mit dem etruskischen sind die
verschiedenartigsten Idiome, bald mit der einfachen, bald mit der
peinlichen Frage, aber alle ohne Ausnahme vergeblich befragt worden;
selbst mit dem baskischen, an das den geographischen Verhaeltnissen
nach noch am ersten gedacht werden koennte, haben entscheidende
Analogien sich nicht herausgestellt. Ebensowenig deuten die geringen
Reste, die von der liturgischen Sprache in Orts- und Personennamen auf
uns gekommen sind, auf Zusammenhang mit den Tuskern. Nicht einmal die
verschollene Nation, die auf den Inseln des tuskischen Meeres,
namentlich auf Sardinien, jene raetselhaften Grabtuerme, Nurhagen
genannt, zu Tausenden aufgefuehrt hat, kann fueglich mit der
etruskischen in Verbindung gebracht werden, da im etruskischen Gebiet
kein einziges gleichartiges Gebaeude vorkommt. Hoechstens deuten
einzelne, wie es scheint, ziemlich zuverlaessige Spuren darauf hin,
dass die Etrusker im allgemeinen den Indogermanen beizuzaehlen sind. So
ist namentlich mi im Anfang vieler aelterer Inschriften sicher εμί,
ειμί und findet die Genetivform konsonantischer Staemme veneruf,
rafuvuf im Altlateinischen genau sich wieder, entsprechend der alten
sanskritischen Endung as. Ebenso haengt der Name des etruskischen Zeus
Tina oder Tinia wohl mit dem sanskritischen dina = Tag zusammen wie Ζάν
mit dem gleichbedeutenden diwan. Aber selbst dies zugegeben erscheint
das etruskische Volk darum kaum weniger isoliert. “Die Etrusker”, sagt
schon Dionysios, “stehen keinem Volke gleich an Sprache und Sitte”; und
weiter haben auch wir nichts zu sagen.
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^1 Ras-ennae mit der 1, 131 erwaehnten gentilizischen Endung.
^2 Dahin gehoeren z. B. Inschriften caeritischer Tongefaesse wie:
minice θumamimaθumaramlisiaeipurenaieθeeraisieepanamineθunastavhelefu
oder: mi ramuθas kaiufinaia.
^3 Wie die Sprache jetzt klingen mochte, davon kann einen Begriff geben
zum Beispiel der Anfang der grossen Perusiner Inschrift: eulat tanna
larezu amevaχr lautn velθinase stlaafunas sleleθcaru.
^4 So Maecenas, Porsena, Vivenna, Caecina, Spurinna. Der Vokal in der
vorletzten Silbe ist urspruenglich lang, wird aber infolge der
Zurueckziehung des Akzents auf die Anfangssilbe haeufig verkuerzt und
sogar ausgestossen. So finden wir neben Porsēna, auch Porsĕna, neben
Caecina Ceicne.
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Ebensowenig laesst sich bestimmen, von wo die Etrusker nach Italien
eingewandert sind; und hiermit ist nicht viel verloren, da diese
Wanderung auf jeden Fall der Kinderzeit des Volkes angehoert und dessen
geschichtliche Entwicklung in Italien beginnt und endet. Indes ist kaum
eine Frage eifriger verhandelt worden als diese, nach jenem Grundsatz
der Archaeologen, vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder wissbar
noch wissenswert ist, “nach der Mutter der Hekabe”, wie Kaiser Tiberius
meinte. Da die aeltesten und bedeutendsten etruskischen Staedte tief im
Binnenlande liegen, ja unmittelbar am Meer keine einzige namhafte
etruskische Stadt begegnet ausser Populonia, von dem wir aber eben
sicher wissen, dass es zu den alten Zwoelf Staedten nicht gehoert hat;
da ferner in geschichtlicher Zeit die Etrusker von Norden nach Sueden
sich bewegen, so sind sie wahrscheinlich zu Lande nach der Halbinsel
gekommen; wie denn auch die niedere Kulturstufe, auf der wir sie zuerst
finden, mit einer Einwanderung ueber das Meer sich schlecht vertragen
wuerde. Eine Meerenge ueberschritten schon in fruehester Zeit die
Voelker gleich einem Strom; aber eine Landung an der italischen
Westkueste setzt ganz andere Bedingungen voraus. Danach muss die
aeltere Heimat der Etrusker west- oder nordwaerts von Italien gesucht
werden. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass die Etrusker ueber die
raetischen Alpen nach Italien gekommen sind, da die aeltesten in
Graubuenden und Tirol nachweisbaren Ansiedler, die Raeter, bis in die
historische Zeit etruskisch redeten und auch ihr Name auf den der Rasen
anklingt; sie koennen freilich Truemmer der etruskischen Ansiedlungen
am Po, aber wenigstens ebenso gut auch ein in den aelteren Sitzen
zurueckgebliebener Teil des Volks sein.
Mit dieser einfachen und naturgemaessen Auffassung aber tritt in
grellen Widerspruch die Erzaehlung, dass die Etrusker aus Asien
ausgewanderte Lyder seien. Sie ist sehr alt: schon bei Herodot findet
sie sich und kehrt dann in zahllosen Wandlungen und Steigerungen bei
den Spaeteren wieder, wenngleich einzelne verstaendige Forscher, wie
zum Beispiel Dionysios, sich nachdruecklich dagegen erklaerten und
darauf hinwiesen, dass in Religion, Gesetz, Sitte und Sprache zwischen
Lydern und Etruskern auch nicht die mindeste Aehnlichkeit sich zeige.
Es ist moeglich, dass ein vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm
nach Etrurien gelangt ist und an dessen Abenteuer diese Maerchen
anknuepfen; wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzaehlung auf einem
blossen Quiproquo. Die italischen Etrusker oder die Turs-ennae - denn
diese Form scheint die urspruengliche und der griechischen Τυρ-σηνοί,
Τυρρηνοί, der umbrischen Turs-ci, den beiden roemischen Tusci Etrusci
zu Grunde zu liegen - begegneten sich in dem Namen ungefaehr mit dem
lydischen Volke der Τορρηβοί oder auch wohl Τυρρ-ηνοί, so genannt von
der Stadt Τύρρα; und diese offenbar zufaellige Namensvetterschaft
scheint in der Tat die einzige Grundlage jener durch ihr hohes Alter
reicht besser gewordenen Hypothese und des ganzen babylonischen Turmes
darauf aufgefuehrter Geschichtsklitterungen zu sein. Indem man mit dem
lydischen Piratenwesen den alten etruskischen Seeverkehr verknuepfte
und endlich noch - zuerst nachweislich tut es Thukydides - die
torrhebischen Seeraeuber mit Recht oder Unrecht zusammenwarf mit dem
auf allen Meeren pluendernden und hausenden Flibustiervolk der
Pelasger, entstand eine der heillosesten Verwirrungen geschichtlicher
Ueberlieferung. Die Tyrrhener bezeichnen bald die lydischen Torrheber -
so in den aeltesten Quellen, wie in den Homerischen Hymnen; bald als
Tyrrhener-Pelasger oder auch bloss Tyrrhener die pelasgische Nation;
bald endlich die italischen Etrusker, ohne dass die letzteren mit den
Pelasgern oder den Torrhebern je sich nachhaltig beruehrt oder gar die
Abstammung mit ihnen gemein haetten.
Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestimmen, was die
nachweislich aeltesten Sitze der Etrusker waren und wie sie von dort
aus sich weiter bewegten. Dass sie vor der grossen keltischen Invasion
in der Landschaft noerdlich vom Padus sassen, oestlich an der Etsch
grenzend mit den Venetern illyrischen (albanesischen?) Stammes,
westlich mit den Ligurern, ist vielfach beglaubigt; vornehmlich zeugt
dafuer der schon erwaehnte rauhe etruskische Dialekt, den noch in
Livius’ Zeit die Bewohner der raetischen Alpen redeten, sowie das bis
in spaete Zeit tuskisch gebliebene Mantua. Suedlich vom Padus und an
den Muendungen dieses Flusses mischten sich Etrusker und Umbrer, jener
als der herrschende Stamm, dieser als der aeltere, der die alten
Kaufstaedte Atria und Spina gegruendet hatte, waehrend Felsina
(Bologna) und Ravenna tuskische Anlagen scheinen. Es hat lange
gewaehrt, ehe die Kelten den Padus ueberschritten; womit es
zusammenhaengt, dass auf dem rechten Ufer desselben das etruskische und
umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen hat als auf dem frueh
aufgegebenen linken. Doch sind ueberhaupt die Landschaften noerdlich
vom Apennin zu rasch von einer Nation an die andere gelangt, als dass
eine dauerhafte Volksentwicklung sich hier haette gestalten koennen.
Weit wichtiger fuer die Geschichte wurde die grosse Ansiedelung der
Tusker in dem Lande, das heute noch ihren Namen traegt. Moegen auch
Ligurer oder Umbrer hier einstmals gewohnt haben, so sind doch ihre
Spuren durch die etruskische Okkupation und Zivilisation so gut wie
vollstaendig ausgetilgt worden. In diesem Gebiet, das am Meer von Pisae
bis Tarquinii reicht und oestlich vom Apennin abgeschlossen wird, hat
die etruskische Nationalitaet ihre bleibende Staette gefunden und mit
grosser Zaehigkeit bis in die Kaiserzeit hinein sich behauptet. Die
Nordgrenze des eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; das
Gebiet von da nordwaerts bis zur Muendung der Macra und dem Apennin war
streitiges Grenzland, bald ligurisch, bald etruskisch, und groessere
Ansiedlungen gediehen deshalb daselbst nicht. Die Suedgrenze bildete
anfangs wahrscheinlich der Ciminische Wald, eine Huegelkette suedlich
von Viterbo, spaeterhin der Tiberstrom; es ward schon oben angedeutet,
dass das Gebiet zwischen dem Ciminischen Gebirg und dem Tiber mit den
Staedten Sutrium, Nepete, Falerii, Veii, Caere erst geraume Zeit
spaeter als die noerdlicheren Distrikte, moeglicherweise erst im
zweiten Jahrhundert Roms, von den Etruskern eingenommen zu sein scheint
und dass die urspruengliche italische Bevoelkerung sich hier,
namentlich in Falerii, wenn auch in abhaengigem Verhaeltnis behauptet
haben muss.
Seitdem der Tiberstrom die Markscheide Etruriens gegen Umbrien und
Latium bildete, mag hier im ganzen ein friedliches Verhaeltnis
eingetreten sein und eine wesentliche Grenzverschiebung nicht
stattgefunden haben, am wenigsten gegen die Latiner. So lebendig in den
Roemern das Gefuehl lebte, dass der Etrusker ihnen fremd, der Latiner
ihr Landsmann war, so scheinen sie doch vom rechten Ufer her weit
weniger Ueberfall und Gefahr befuerchtet zu haben als zum Beispiel von
den Stammesverwandten in Gabii und Alba; natuerlich, denn dort
schuetzte nicht bloss die Naturgrenze des breiten Stromes, sondern auch
der fuer Roms merkantile und politische Entwicklung folgenreiche
Umstand, dass keine der maechtigeren etruskischen Staedte unmittelbar
am Fluss lag wie am latinischen Ufer Rom. Dem Tiber am naechsten waren
die Veienter, und sie waren es auch, mit denen Rom und Latium am
haeufigsten in ernste Konflikte gerieten, namentlich um den Besitz von
Fidenae, welches den Veientern auf dem linken Tiberufer, aehnlich wie
auf dem rechten den Roemern das Ianiculum, als eine Art Brueckenkopf
diente und bald in den Haenden der Latiner, bald in denen der Etrusker
sich befand. Dagegen mit dem etwas entfernteren Caere war das
Verhaeltnis im ganzen weit friedlicher und freundlicher, als es sonst
unter Nachbarn in solchen Zeiten vorzukommen pflegt. Es gibt wohl
schwankende und in die graueste Fernzeit gerueckte Sagen von Kaempfen
zwischen Latium und Caere, wie denn der caeritische Koenig Mezentius
ueber die Latiner grosse Siege erfochten und denselben einen Weinzins
auferlegt haben soll; aber viel bestimmter als der einstmalige
Fehdestand erhellt aus der Tradition ein vorzugsweise enges Verhaeltnis
zwischen den beiden uralten Mittelpunkten des Handels- und Seeverkehrs
in Latium und in Etrurien. Sichere Spuren von einem Vordringen der
Etrusker ueber den Tiber hinaus auf dem Landweg mangeln ueberhaupt.
Zwar werden in dem grossen Barbarenheer, das Aristodemos im Jahre 230
(524) der Stadt unter den Mauern von Kyme vernichtet, die Etrusker in
erster Reihe genannt; indes selbst wenn man diese Nachricht als bis ins
einzelne glaubwuerdig betrachtet, folgt daraus nur, dass die Etrusker
an einem grossen Pluenderzuge teilnahmen. Weit wichtiger ist es, dass
suedwaerts vom Tiber keine auf dem Landweg gegruendete etruskische
Ansiedlung nachweisbar ist und dass namentlich von einer ernstlichen
Bedraengung der latinischen Nation durch die Etrusker gar nichts
wahrgenommen wird. Der Besitz des Ianiculum und der beiden Ufer der
Tibermuendung blieb den Roemern, soviel wir sehen, unangefochten. Was
die Uebersiedlungen etruskischer Gemeinschaften nach Rom anlangt, so
findet sich ein vereinzelter, aus tuskischen Annalen gezogener Bericht,
dass eine tuskische Schar, welche Caelius Vivenna von Volsinii und nach
dessen Untergang der treue Genosse desselben, Mastarna, angefuehrt
habe, von dem letzteren nach Rom gefuehrt worden sei. Es mag dies
zuverlaessig sein, wenngleich die Herleitung des Namens des caelischen
Berges von diesem Caelius offenbar eine Philologenerfindung ist und nun
gar der Zusatz, dass dieser Mastarna in Rom Koenig geworden sei unter
dem Namen Servius Tullius, gewiss nichts ist als eine unwahrscheinliche
Vermutung solcher Archaeologen, die mit dem Sagenparallelismus sich
abgaben. Auf etruskische Ansiedlungen in Rom deutet weiter das
“Tuskerquartier” unter dem Palatin.
Auch das kann schwerlich bezweifelt werden, dass das letzte
Koenigsgeschlecht, das ueber die Roemer geherrscht hat, das der
Tarquinier, aus Etrurien entsprossen ist, sei es nun aus Tarquinii, wie
die Sage will, sei es aus Caere, wo das Familiengrab der Tarchnas vor
kurzem aufgefunden worden ist; auch der in die Sage verflochtene
Frauenname Tanaquil oder Tanchvil ist unlateinisch, dagegen in Etrurien
gemein. Allein die ueberlieferte Erzaehlung, wonach Tarquinius der Sohn
eines aus Korinth nach Tarquinii uebergesiedelten Griechen war und in
Rom als Metoeke einwanderte, ist weder Geschichte noch Sage und die
geschichtliche Kette der Ereignisse offenbar hier nicht bloss verwirrt,
sondern voellig zerrissen. Wenn aus dieser Ueberlieferung ueberhaupt
etwas mehr entnommen werden kann als die nackte und im Grunde
gleichgueltige Tatsache, dass zuletzt ein Geschlecht tuskischer Abkunft
das koenigliche Szepter in Rom gefuehrt hat, so kann darin nur liegen,
dass diese Herrschaft eines Mannes tuskischer Herkunft ueber Rom weder
als eine Herrschaft der Tusker oder einer tuskischen Gemeinde ueber
Rom, noch umgekehrt als die Herrschaft Roms ueber Suedetrurien gefasst
werden darf. In der Tat ist weder fuer die eine noch fuer die andere
Annahme irgendein ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der
Tarquinier spielt in Latium, nicht in Etrurien, und soweit wir sehen,
hat waehrend der ganzen Koenigszeit Etrurien auf Rom weder in der
Sprache noch in Gebraeuchen einen wesentlichen Einfluss geuebt oder gar
die ebenmaessige Entwicklung des roemischen Staats oder des latinischen
Bundes unterbrochen.
Die Ursache dieser relativen Passivitaet Etruriens gegen das latinische
Nachbarland ist wahrscheinlich teils zu suchen in den Kaempfen der
Etrusker mit den Kelten am Padus, den diese vermutlich erst nach der
Vertreibung der Koenige in Rom ueberschritten, teils in der Richtung
der etruskischen Nation auf Seefahrt und Meer- und Kuestenherrschaft,
womit zum Beispiel die kampanischen Ansiedelungen entschieden
zusammenhaengen und wovon im folgenden Kapitel weiter die Rede sein
wird.
Die tuskische Verfassung beruht gleich der griechischen und latinischen
auf der zur Stadt sich entwickelnden Gemeinde. Die fruehe Richtung der
Nation aber auf Schiffahrt, Handel und Industrie scheint rascher, als
es sonst in Italien der Fall gewesen ist, hier eigentlich staedtische
Gemeinwesen ins Leben gerufen zu haben; zuerst von allen italischen
Staedten wird in den griechischen Berichten Caere genannt. Dagegen
finden wir die Etrusker im ganzen minder kriegstuechtig und
kriegslustig als die Roemer und Sabeller; die unitalische Sitte, mit
Soeldnern zu fechten, begegnet hier sehr frueh. Die aelteste Verfassung
der Gemeinden muss in den allgemeinen Grundzuegen Aehnlichkeit mit der
roemischen gehabt haben; Koenige oder Lucumonen herrschten, die
aehnliche Insignien, also wohl auch aehnliche Machtfuelle besassen wie
die roemischen; Vornehme und Geringe standen sich schroff gegenueber;
fuer die Aehnlichkeit der Geschlechterordnung buergt die Analogie des
Namensystems, nur dass bei den Etruskern die Abstammung von
muetterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als im roemischen Recht.
Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen zu sein. Sie umschloss
nicht die gesamte Nation, sondern es waren die noerdlichen und die
kampanischen Etrusker zu eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso
wie die Gemeinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Buende
bestand aus zwoelf Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich fuer
den Goetterdienst, und ein Bundeshaupt oder vielmehr einen Oberpriester
anerkannten, aber doch im wesentlichen gleichberechtigt gewesen zu sein
scheinen und zum Teil wenigstens so maechtig, dass weder eine Hegemonie
sich bilden noch die Zentralgewalt zur Konsolidierung gelangen konnte.
Im eigentlichen Etrurien war die Metropole Volsinii; von den uebrigen
Zwoelfstaedten desselben kennen wir durch sichere Ueberlieferung nur
Perusia, Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist indes ebenso selten,
dass die Etrusker wirklich gemeinschaftlich handeln, als das Umgekehrte
selten ist bei der latinischen Eidgenossenschaft; die Kriege fuehrt
regelmaessig eine einzelne Gemeinde, die von ihren Nachbarn wen sie
kann ins Interesse zieht, und wenn ausnahmsweise der Bundeskrieg
beschlossen wird, so schliessen sich dennoch sehr haeufig einzelne
Staedte aus - es scheint den etruskischen Konfoederationen mehr noch
als den aehnlichen italischen Stammbuenden von Haus aus an einer festen
und gebietenden Oberleitung gefehlt zu haben.
KAPITEL X.
Die Hellenen in Italien.
Seeherrschaft der Tusker und Karthager
Nicht auf einmal wird es hell in der Voelkergeschichte des Altertums;
und auch hier beginnt der Tag im Osten. Waehrend die italische
Halbinsel noch in tiefes Werdegrauen eingehuellt liegt, ist in den
Landschaften am oestlichen Becken des Mittelmeers bereits eine nach
allen Seiten hin reich entwickelte Kultur ans Licht getreten; und das
Geschick der meisten Voelker, in den ersten Stadien der Entwicklung an
einem ebenbuertigen Bruder zunaechst den Meister und Herrn zu finden,
ist in hervorragendem Masse auch den Voelkern Italiens zuteil geworden.
Indes lag es in den geographischen Verhaeltnissen der Halbinsel, dass
eine solche Einwirkung nicht zu Lande stattfinden konnte. Von der
Benutzung des schwierigen Landwegs zwischen Italien und Griechenland in
aeltester Zeit findet sich nirgends eine Spur. In das transalpinische
Land freilich mochten von Italien aus schon in unvordenklich ferner
Zeit Handelsstrassen fuehren: die aelteste Bernsteinstrasse erreichte
von der Ostsee aus das Mittelmeer an der Pomuendung - weshalb in der
griechischen Sage das Delta des Po als Heimat des Bernsteins erscheint
-, und an diese Strasse schloss sich eine andere quer durch die
Halbinsel ueber den Apennin nach Pisa fuehrende an; aber Elemente der
Zivilisation konnten von dort her den Italikern nicht zukommen. Es sind
die seefahrenden Nationen des Ostens, die nach Italien gebracht haben,
was ueberhaupt in frueher Zeit von auslaendischer Kultur dorthin
gelangt ist.
Das aelteste Kulturvolk am Mittelmeergestade, die Aegypter, fuhren noch
nicht ueber Meer und haben daher auch auf Italien nicht eingewirkt.
Ebensowenig aber kann dies von den Phoenikern behauptet werden.
Allerdings waren sie es, die von ihrer engen Heimat am aeusseren
Ostrand des Mittelmeers aus zuerst unter allen bekannten Staemmen auf
schwimmenden Haeusern in dasselbe, anfangs des Fisch- und Muschelfangs,
bald auch des Handels wegen, sich hinauswagten, die zuerst den
Seeverkehr eroeffneten und in unglaublich frueher Zeit das Mittelmeer
bis zu seinem aeussersten westlichen Ende befuhren. Fast an allen
Gestaden desselben erscheinen vor den hellenischen phoenikische
Seestationen: wie in Hellas selbst, auf Kreta und Kypros, in Aegypten,
Libyen und Spanien, so auch im italischen Westmeer. Um ganz Sizilien
herum, erzaehlt Thukydides, hatten, ehe die Griechen dorthin kamen,
oder wenigstens, ehe sie dort in groesserer Anzahl sich festsetzten,
die Phoeniker auf den Landspitzen und Inselchen ihre Faktoreien
gegruendet, des Handels wegen mit den Eingeborenen, nicht um Land zu
gewinnen. Allein anders verhaelt es sich mit dem italischen Festland.
Von phoenikischen Niederlassungen daselbst ist bis jetzt nur eine
einzige mit einiger Sicherheit nachgewiesen worden, eine punische
Faktorei bei Caere, deren Andenken sich bewahrt hat teils in der
Benennung der kleinen Ortschaft an der caeritischen Kueste Punicum,
teils in dem zweiten Namen der Stadt Caere selbst, Agylla, welcher
nicht, wie man fabelt, von den Pelasgern herruehrt, sondern phoenikisch
ist und die “Rundstadt” bezeichnet, wie eben vom Ufer aus gesehen Caere
sich darstellt. Dass diese Station und was von aehnlichen Gruendungen
es an den Kuesten Italiens noch sonst gegeben haben mag, auf jeden Fall
weder bedeutend noch von langem Bestande gewesen ist, beweist ihr fast
spurloses Verschwinden; aber es liegt auch nicht der mindeste Grund
vor, sie fuer aelter zu halten als die gleichartigen hellenischen
Ansiedlungen an denselben Gestaden. Ein unveraechtliches Anzeichen
davon, dass wenigstens Latium die kanaanitischen Maenner erst durch
Vermittlung der Hellenen kennengelernt hat, ist ihre latinische, der
griechischen entlehnte Benennung der Poener. Vielmehr fuehren alle
aeltesten Beziehungen der Italiker zu der Zivilisation des Ostens
entschieden nach Griechenland; und es laesst sich das Entstehen der
phoenikischen Faktorei bei Caere, ohne auf die vorhellenische Periode
zurueckzugehen, sehr wohl aus den spaeteren wohlbekannten Beziehungen
des caeritischen Handelsstaats zu Karthago erklaeren. In der Tat lag,
wenn man sich erinnert, dass die aelteste Schiffahrt wesentlich
Kuestenfahrt war und blieb, den Phoenikern kaum eine Landschaft am
Mittelmeer so fern wie der italische Kontinent. Sie konnten ihn nur
entweder von der griechischen Westkueste oder von Sizilien aus
erreichen; und es ist sehr glaublich, dass die hellenische Seefahrt
frueh genug aufbluehte, um den Phoenikern in der Befahrung der
Adriatischen wie der Tyrrhenischen See zuvorzukommen. Urspruenglichen
unmittelbaren Einfluss der Phoeniker auf die Italiker anzunehmen, ist
deshalb kein Grund vorhanden; auf die spaeteren Beziehungen der
phoenikischen Seeherrschaft im westlichen Mittelmeer zu den italischen
Anwohnern der Tyrrhenischen See wird die Darstellung zurueckkommen.
Allem Anschein nach sind es also die hellenischen Schiffer gewesen, die
zuerst unter den Anwohnern des oestlichen Beckens des Mittelmeers die
italischen Kuesten befuhren. Von den wichtigen Fragen indes, aus
welcher Gegend und zu welcher Zeit die griechischen Seefahrer dorthin
gelangt sind, laesst nur die erstere sich mit einiger Sicherheit und
Vollstaendigkeit beantworten. Es war das aeolische und ionische Gestade
Kleinasiens, wo zuerst der hellenische Seeverkehr sich grossartig
entfaltete und von wo aus den Griechen wie das Innere des Schwarzen
Meeres so auch die italischen Kuesten sich erschlossen. Der Namen des
Ionischen Meeres, welcher den Gewaessern zwischen Epirus und Sizilien
geblieben ist, und der der Ionischen Bucht, mit welchem Namen die
Griechen frueher das Adriatische Meer bezeichneten, haben das Andenken
an die einstmalige Entdeckung der Sued- und Ostkueste Italiens durch
ionische Seefahrer bewahrt. Die aelteste griechische Ansiedlung in
Italien, Kyme, ist dem Namen wie der Sage nach eine Gruendung der
gleichnamigen Stadt an der anatolischen Kueste. Nach glaubwuerdiger
hellenischer Ueberlieferung waren es die kleinasiatischen Phokaeer, die
zuerst von den Hellenen die entferntere Westsee befuhren. Bald folgten
auf den von den Kleinasiaten gefundenen Wegen andere Griechen nach:
Ionier von Naxos und von Chalkis auf Euboea, Achaeer, Lokrer, Rhodier,
Korinther, Megarer, Messener, Spartaner. Wie nach der Entdeckung
Amerikas die zivilisierten Nationen Europas wetteiferten, dorthin zu
fahren und dort sich niederzulassen; wie die Solidaritaet der
europaeischen Zivilisation den neuen Ansiedlern inmitten der Barbaren
deutlicher zum Bewusstsein kam als in ihrer alten Heimat, so war auch
die Schiffahrt nach dem Westen und die Ansiedelung im Westland kein
Sondergut einer einzelnen Landschaft oder eines einzelnen Stammes der
Griechen, sondern Gemeingut der hellenischen Nation; und wie sich zu
Nordamerikas Schoepfung englische und franzoesische, hollaendische und
deutsche Ansiedlungen gemischt und durchdrungen haben, so ist auch das
griechische Sizilien und “Grossgriechenland” aus den
verschiedenartigsten hellenischen Stammschaften oft ununterscheidbar
zusammengeschmolzen. Doch lassen sich, ausser einigen mehr vereinzelt
stehenden Ansiedlungen, wie die der Lokrer mit ihren Pflanzstaedten
Hipponion und Medama und die erst gegen Ende dieser Periode gegruendete
Niederlassung der Phokaeer Hyele (Velia, Elea) sind, im ganzen drei
Hauptgruppen unterscheiden: die unter dem Namen der chalkidischen
Staedte zusammengefasste urspruenglich ionische, zu der in Italien Kyme
mit den uebrigen griechischen Niederlassungen am Vesuv und Rhegion, in
Sizilien Zankle (spaeter Messana), Naxos, Katane, Leontini, Himera
zaehlen; die achaeische, wozu Sybaris und die Mehrzahl der
grossgriechischen Staedte sich rechneten, und die dorische, welcher
Syrakus, Gela, Akragas, ueberhaupt die Mehrzahl der sizilischen
Kolonien, dagegen in Italien nur Taras (Tarentum) und dessen
Pflanzstadt Herakleia angehoeren. Im ganzen ueberwiegt in der
Einwanderung die aeltere hellenische Schicht der Ionier und der vor der
dorischen Einwanderung im Peloponnes ansaessigen Staemme; von den
Dorern haben sich vorzugsweise nur die Gemeinden gemischter
Bevoelkerung, wie Korinth und Megara, die rein dorischen Landschaften
dagegen nur in untergeordnetem Grade beteiligt; natuerlich, denn die
Ionier waren ein altes Handels- und Schiffervolk, die dorischen Staemme
aber sind erst verhaeltnismaessig spaet von ihren binnenlaendischen
Bergen in die Kuestenlandschaften hinabgestiegen und zu allen Zeiten
dem Seeverkehr ferner geblieben. Sehr bestimmt treten die verschiedenen
Einwanderergruppen auseinander, besonders in ihrem Muenzfuss. Die
phokaeischen Ansiedler praegen nach dem in Asien herrschenden
babylonischen Fuss. Die chalkidischen Staedte folgen in aeltester Zeit
dem aeginaeischen, das heisst dem urspruenglich im ganzen europaeischen
Griechenland vorherrschenden und zwar zunaechst derjenigen Modifikation
desselben, die wir dort auf Euboea wiederfinden. Die achaeischen
Gemeinden muenzen auf korinthische, die dorischen endlich auf diejenige
Waehrung, die Solon im Jahre 160 Roms (594) in Attika eingefuehrt
hatte, nur dass Taras und Herakleia sich in wesentlichen Stuecken
vielmehr nach der Waehrung ihrer achaeischen Nachbarn richten als nach
der der sizilischen Dorer.
Die Zeitbestimmung der frueheren Fahrten und Ansiedlungen wird wohl
fuer immer in tiefes Dunkel eingehuellt bleiben. Zwar eine gewisse
Folge darin tritt auch fuer uns noch unverkennbar hervor. In der
aeltesten Urkunde der Griechen, welche, wie der aelteste Verkehr mit
dem Westen, den kleinasiatischen Ioniern eignet, in den Homerischen
Gesaengen reicht der Horizont noch kaum ueber das oestliche Becken des
Mittelmeers hinaus. Vom Sturm in die westliche See verschlagene
Schiffer mochten von der Existenz eines Westlandes und etwa noch von
dessen Meeresstrudeln und feuerspeienden Inselbergen die Kunde nach
Kleinasien heimgebracht haben; allein zu der Zeit der Homerischen
Dichtung mangelte selbst in derjenigen griechischen Landschaft, welche
am fruehesten mit dem Westland in Verkehr trat, noch jede zuverlaessige
Kunde von Sizilien und Italien; und die Maerchenerzaehler und Dichter
des Ostens konnten, wie seinerzeit die okzidentalischen den fabelhaften
Orient, ungestoert die leeren Raeume des Westens mit ihren luftigen
Gestalten erfuellen. Bestimmter treten schon in den Hesiodischen
Gedichten die Umrisse Italiens und Siziliens hervor; sie kennen aus
beiden einheimische Namen von Voelkerschaften, Bergen und Staedten;
doch ist ihnen Italien noch eine Inselgruppe. Dagegen in der gesamten
nachhesiodischen Literatur erscheint Sizilien und selbst das gesamte
Gestade Italiens als den Hellenen wenigstens im allgemeinen bekannt.
Ebenso laesst die Reihenfolge der griechischen Ansiedlungen mit einiger
Sicherheit sich bestimmen. Als die aelteste namhafte Ansiedlung im
Westland galt offenbar schon dem Thukydides Kyme; und gewiss hat er
nicht geirrt. Allerdings lag dem griechischen Schiffer mancher
Landungsplatz naeher; allein vor den Stuermen wie vor den Barbaren war
keiner so geschuetzt wie die Insel Ischia, auf der die Stadt
urspruenglich lag; und dass solche Ruecksichten vor allem bei dieser
Ansiedlung leiteten, zeigt selbst die Stelle noch, die man spaeter auf
dem Festland dazu ausersah, die steile, aber geschuetzte Felsklippe,
die noch heute den ehrwuerdigen Namen der anatolischen Mutterstadt
traegt. Nirgends in Italien sind denn auch die Oertlichkeiten der
kleinasiatischen Maerchen mit solcher Festigkeit und Lebendigkeit
lokalisiert wie in der kymaeischen Landschaft, wo die fruehesten
Westfahrer, jener Sagen von den Wundern des Westens voll, zuerst das
Fabelland betraten und die Spuren der Maerchenwelt, in der sie zu
wandeln meinten, in den Sirenenfelsen und dem zur Unterwelt fuehrenden
Aornossee zurueckliessen. Wenn ferner in Kyme zuerst die Griechen
Nachbarn der Italiker wurden, so erklaert es sich sehr einfach, weshalb
der Name desjenigen italischen Stammes, der zunaechst um Kyme
angesessen war, der Name der Opiker, von ihnen noch lange Jahrhunderte
nachher fuer saemtliche Italiker gebraucht ward. Es ist ferner
glaublich ueberliefert, dass die massenhafte hellenische Einwanderung
in Unteritalien und Sizilien von der Niederlassung auf Kyme durch einen
betraechtlichen Zwischenraum getrennt war und dass bei jener
Einwanderung wieder die Ionier von Chalkis und von Naxos vorangingen
und Naxos auf Sizilien die aelteste aller durch eigentliche
Kolonisierung in Italien und Sizilien gegruendeten Griechenstaedte ist,
worauf dann die achaeischen und dorischen Kolonisationen erst spaeter
erfolgt sind.
Allein es scheint voellig unmoeglich, fuer diese Reihe von Tatsachen
auch nur annaehernd sichere Jahreszahlen festzustellen. Die Gruendung
der achaeischen Stadt Sybaris im Jahre 33 (721) und die der dorischen
Stadt Taras im Jahre 46 Roms (708) moegen die aeltesten Daten der
italischen Geschichte sein, deren wenigstens ungefaehre Richtigkeit als
ausgemacht angesehen werden kann. Um wieviel aber die Ausfuehrung der
aelteren ionischen Kolonien jenseits dieser Epoche zurueckliege, ist
ebenso ungewiss wie das Zeitalter der Entstehung der Hesiodischen und
gar der Homerischen Gedichte. Wenn Herodot das Zeitalter Homers richtig
bestimmt hat, so war Italien den Griechen ein Jahrhundert vor der
Gruendung Roms (850) noch unbekannt; indes jene Ansetzung ist wie alle
anderen der Lebenszeit Homers kein Zeugnis, sondern ein Schluss, und
wer die Geschichte der italischen Alphabete sowie die merkwuerdige
Tatsache erwaegt, dass den Italikern das Griechenvolk bekannt ward,
bevor der hellenische Stammname aufgekommen war, und die Italiker ihre
Bezeichnung der Hellenen von dem in Hellas frueh verschollenen Stamm
der Grai oder Graeci entlehnten ^1, wird geneigt sein, den fruehesten
Verkehr der Italiker mit den Griechen um ein bedeutendes hoeher
hinaufzuruecken.
—————————————————————-
^1 Ob der Name der Graeker urspruenglich aus dem epirotischen
Binnenland und der Gegend von Dodone haftet oder vielmehr den frueher
vielleicht bis an das Westmeer reichenden Aetolern eigen war, mag
dahingestellt bleiben; er muss in ferner Zeit einem hervorragenden
Stamm oder Komplex von Staemmen des eigentlichen Griechenlands eigen
gewesen und von diesen auf die gesamte Nation uebergegangen sein. In
den Hesiodischen Eoeen erscheint er als aelterer Gesamtname der Nation,
jedoch mit offenbarer Absichtlichkeit beiseite geschoben und dem
hellenischen untergeordnet, welcher letztere bei Homer noch nicht, wohl
aber, ausser bei Hesiod, schon bei Archilochos um das Jahr 50 Roms
(704) auftritt und recht wohl noch bedeutend frueher aufgekommen sein
kann (M. L. Duncker, Geschichte des Altertums. Berlin 1852-57. Bd. 3,
S. 18, 556). Also bereits vor dieser Zeit waren die Italiker mit den
Griechen soweit bekannt, dass jener in Hellas frueh verschollene Name
bei ihnen als Gesamtname der griechischen Nation blieb, auch als diese
selbst andere Wege ging. Es ist dabei nur in der Ordnung, dass den
Auslaendern die Zusammengehoerigkeit der hellenischen Staemme frueher
und deutlicher zum Bewusstsein gekommen ist als diesen selbst, und
daher die Gesamtbenennung hier schaerfer sich fixierte als dort, nicht
minder, dass dieselbe nicht gerade den wohlbekannten naechstwohnenden
Hellenen entnommen ward. Wie man es damit vereinigen will, dass noch
ein Jahrhundert vor der Gruendung Roms Italien den kleinasiatischen
Griechen voellig unbekannt war, ist schwer abzusehen. Von dem Alphabet
wird unten die Rede sein; es ergibt dessen Geschichte vollkommen die
gleichen Resultate. Man wird es vielleicht verwegen nennen, auf solche
Beobachtungen hin die Herodotische Angabe ueber das Zeitalter Homers zu
verwerfen; aber ist es etwa keine Kuehnheit, in Fragen dieser Art der
Ueberlieferung zu folgen?
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Die Geschichte der italischen und sizilischen Griechen ist zwar kein
Teil der italischen; die hellenischen Kolonisten des Westens blieben
stets im engsten Zusammenhang mit der Heimat und hatten teil an den
Nationalfesten und Rechten der Hellenen. Doch ist es auch fuer Italien
wichtig, den verschiedenen Charakter der griechischen Ansiedlungen
daselbst zu bezeichnen und wenigstens gewisse Grundzuege hervorzuheben,
durch die der verschiedenartige Einfluss der griechischen Kolonisierung
auf Italien wesentlich bedingt worden ist.
Unter allen griechischen Ansiedlungen die intensivste und in sich am
meisten geschlossene war diejenige, aus der der Achaeische Staedtebund
hervorging, welchen die Staedte Siris, Pandosia, Metabus oder
Metapontion, Sybaris mit seinen Pflanzstaedten Poseidonia und Laos,
Kroton, Kaulonia, Temesa, Terina und Pyxus bildeten. Diese Kolonisten
gehoerten, im grossen und ganzen genommen, einem griechischen Stamm an,
der an seinem eigentuemlichen, dem dorischen naechst verwandten Dialekt
sowie nicht minder, anstatt des sonst allgemein in Gebrauch gekommenen
juengeren Alphabets, lange Zeit an der altnationalen hellenischen
Schreibweise festhielt, und der seine besondere Nationalitaet den
Barbaren wie den andern Griechen gegenueber in einer festen buendischen
Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achaeer laesst sich
anwenden, was Polybios von der achaeischen Symmachie im Peloponnes
sagt: “nicht allein in eidgenoessischer und freundschaftlicher
Gemeinschaft leben sie, sondern sie bedienen sich auch gleicher
Gesetze, gleicher Gewichte, Masse und Muenzen sowie derselben
Vorsteher, Ratmaenner und Richter”.
Dieser Achaeische Staedtebund war eine eigentliche Kolonisation. Die
Staedte waren ohne Haefen - nur Kroton hatte eine leidliche Reede - und
ohne Eigenhandel; der Sybarite ruehmte sich, zu ergrauen zwischen den
Bruecken seiner Lagunenstadt, und Kauf und Verkauf besorgten ihm
Milesier und Etrusker. Dagegen besassen die Griechen hier nicht bloss
die Kuestensaeume, sondern herrschten von Meer zu Meer in dem “Wein-”
und “Rinderland” (Οινοτρία, Ιταλία) oder der “grossen Hellas”; die
eingeborene ackerbauende Bevoelkerung musste in Klientel oder gar in
Leibeigenschaft ihnen wirtschaften und zinsen. Sybaris - seiner Zeit
die groesste Stadt Italiens - gebot ueber vier barbarische Staemme und
fuenfundzwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer Laos und
Poseidonia gruenden; die ueberschwenglich fruchtbaren Niederungen des
Krathis und Bradanos warfen den Sybariten und Metapontinern
ueberreichen Ertrag ab - vielleicht ist hier zuerst Getreide zur
Ausfuhr gebaut worden. Von der hohen Bluete, zu welcher diese Staaten
in unglaublich kurzer Zeit gediehen, zeugen am lebendigsten die
einzigen auf uns gekommenen Kunstwerke dieser italischen Achaeer: ihre
Muenzen von strenger, altertuemlich schoener Arbeit - ueberhaupt die
fruehesten Denkmaeler von Kunst und Schrift in Italien, deren Praegung
erweislich im Jahre 174 der Stadt (580) bereits begonnen hatte. Diese
Muenzen zeigen, dass die Achaeer des Westens nicht bloss teilnahmen an
der eben um diese Zeit im Mutterlande herrlich sich entwickelnden
Bildnerkunst, sondern in der Technik demselben wohl gar ueberlegen
waren; denn statt der dicken, oft nur einseitig gepraegten und
regelmaessig schriftlosen Silberstuecke, welche um diese Zeit in dem
eigentlichen Griechenland wie bei den italischen Dorern ueblich waren,
schlugen die italischen Achaeer mit grosser und selbstaendiger
Geschicklichkeit aus zwei gleichartigen, teils erhaben teils vertieft
geschnittenen Stempeln grosse duenne, stets mit Aufschrift versehene
Silbermuenzen, deren sorgfaeltig vor der Falschmuenzerei jener Zeit -
Plattierung geringen Metalls mit duennen Silberblaettern - sich
schuetzende Praegweise den wohlgeordneten Kulturstaat verraet.
Dennoch trug diese schnelle Bluete keine Frucht. In der muehelosen,
weder durch kraeftige Gegenwehr der Eingeborenen noch durch eigene
schwere Arbeit auf die Probe gestellten Existenz versagte sogar den
Griechen frueh die Spannkraft des Koerpers und des Geistes. Keiner der
glaenzenden Namen der griechischen Kunst und Literatur verherrlicht die
italischen Achaeer, waehrend Sizilien deren unzaehlige, auch in Italien
das chalkidische Rhegion den Ibykos, das dorische Tarent den Archytas
nennen kann; bei diesem Volk, wo stets sich am Herde der Spiess drehte,
gedieh nichts von Haus aus als der Faustkampf. Tyrannen liess die
strenge Aristokratie nicht aufkommen, die in den einzelnen Gemeinden
frueh ans Ruder gekommen war und im Notfall an der Bundesgewalt einen
sicheren Rueckhalt fand: wohl aber drohte die Verwandlung der
Herrschaft der Besten in eine Herrschaft der Wenigen, vor allem, wenn
die bevorrechteten Geschlechter in den verschiedenen Gemeinden sich
untereinander verbuendeten und gegenseitig sich aushalfen. Solche
Tendenzen beherrschten die durch den Namen des Pythagoras bezeichnete
solidarische Verbindung der “Freunde”, sie gebot, die herrschende
Klasse “gleich den Goettern zu verehren”, die dienende “gleich den
Tieren zu unterwerfen”, und rief durch solche Theorie und Praxis eine
furchtbare Reaktion hervor, welche mit der Vernichtung der
pythagoreischen “Freunde” und mit der Erneuerung der alten
Bundesverfassung endigte. Allein rasende Parteifehden, Massenerhebungen
der Sklaven, soziale Missstaende aller Art, praktische Anwendung
unpraktischer Staatsphilosophie, kurz alle Uebel der entsittlichten
Zivilisation hoerten nicht auf, in den achaeischen Gemeinden zu wueten,
bis ihre politische Macht darueber zusammenbrach.
Es ist danach nicht zu verwundern, dass fuer die Zivilisation Italiens
die daselbst angesiedelten Achaeer minder einflussreich gewesen sind
als die uebrigen griechischen Niederlassungen. ueber die politischen
Grenzen hinaus ihren Einfluss zu erstrecken, lag diesen Ackerbauern
ferner als den Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets verknechteten
sie die Eingeborenen und zertraten die Keime einer nationalen
Entwicklung, ohne doch den Italikern durch vollstaendige Hellenisierung
eine neue Bahn zu eroeffnen. So ist in Sybaris und Metapont, in Kroton
und Poseidonia das griechische Wesen, das sonst allen politischen
Missgeschicken zum Trotz sich lebenskraeftig zu behaupten wusste,
schneller, spur- und ruhmloser verschwunden als in irgendeinem anderen
Gebiet, und die zwiesprachigen Mischvoelker, die spaeterhin aus den
Truemmern der eingeborenen Italiker und der Achaeer und den juengeren
Einwanderern sabellischer Herkunft hervorgingen, sind zu rechtem
Gedeihen ebensowenig gelangt. Indes, diese Katastrophe gehoert der Zeit
nach in die folgende Periode.
Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren die
Niederlassungen der uebrigen Griechen. Auch sie verschmaehten den
Ackerbau und Landgewinn keineswegs; es war nicht die Weise der
Hellenen, wenigstens seit sie zu ihrer Kraft gekommen waren, sich im
Barbarenland nach phoenikischer Art an einer befestigten Faktorei
genuegen zu lassen. Aber wohl waren alle diese Staedte zunaechst und
vor allem des Handels wegen begruendet und darum denn auch, ganz
abweichend von den achaeischen, durchgaengig an den besten Haefen und
Landungsplaetzen angelegt. Die Herkunft, die Veranlassung und die
Epoche dieser Gruendungen waren mannigfach verschieden; dennoch bestand
zwischen ihnen eine gewisse Gemeinschaft - so in dem allen jenen
Staedten gemeinsamen Gebrauch gewisser moderner Formen des Alphabets ^2
und selbst in dem Dorismus der Sprache, der auch in diejenigen Staedte
frueh eindrang, die, wie zum Beispiel Kyme ^3, von Haus aus den weichen
ionischen Dialekt sprachen. Fuer die Entwicklung Italiens sind diese
Niederlassungen in sehr verschiedenem Grade wichtig geworden; es
genuegt hier, derjenigen zu gedenken, welche entscheidend in die
Schicksale der Staemme Italiens eingegriffen haben, des dorischen
Tarent und des ionischen Kyme.
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^2 So sind die drei altorientalischen Formen des i, l und r, fuer die
als leicht zu verwechseln mit den Formen des s, g und p schon frueh die
Zeichen vorgeschlagen worden sind, in den achaeischen Kolonien entweder
ausschliesslich oder doch sehr vorwiegend in Gebrauch geblieben,
waehrend die uebrigen Griechen Italiens und Siziliens ohne Unterschied
des Stammes sich ausschliesslich oder doch sehr vorwiegend der
juengeren Formen bedient haben.
^3 So zum Beispiel heisst es auf einem kymaeischen Tongefaess Ταταίες
εμί λέυqθος. Fόσ δ'άν με κλέφσει θύφλος έσται.
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Den Tarentinern ist unter allen hellenischen Ansiedlungen in Italien
die glaenzendste Rolle zugefallen. Der vortreffliche Hafen, der einzige
gute an der ganzen Suedkueste, machte ihre Stadt zum natuerlichen
Entrepôt fuer den sueditalienischen Handel, ja sogar fuer einen Teil
des Verkehrs auf dem Adriatischen Meer. Der reiche Fischfang in dem
Meerbusen, die Erzeugung und Verarbeitung der vortrefflichen Schafwolle
sowie deren Faerbung mit dem Saft der tarentinischen Purpurschnecke,
die mit der tyrischen wetteifern konnte - beide Industrien hierher
eingebuergert aus dem kleinasiatischen Miletos -, beschaeftigten
Tausende von Haenden und fuegten zu dem Zwischen- noch den
Ausfuhrhandel hinzu. Die in groesserer Menge als irgendwo sonst im
griechischen Italien und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen
Muenzen sind noch heute redende Beweise des ausgebreiteten und
lebhaften tarentinischen Verkehrs. Schon in dieser Epoche, wo Tarent
noch mit Sybaris um den ersten Rang unter den unteritalischen
Griechenstaedten rang, muessen seine ausgedehnten Handelsverbindungen
sich angeknuepft haben; indes auf eine wesentliche Erweiterung ihres
Gebietes nach Art der achaeischen Staedte scheinen die Tarentiner nie
mit dauerndem Erfolg ausgegangen zu sein.
Wenn also die oestlichste der griechischen Ansiedlungen in Italien
rasch und glaenzend sich emporhob, so gediehen die noerdlichsten
derselben am Vesuv zu bescheidnerer Bluete. Hier waren von der
fruchtbaren Insel Aenaria (Ischia) aus die Kymaeer auf das Festland
hinuebergegangen und hatten auf einem Huegel hart am Meere eine zweite
Heimat erbaut, von wo aus der Hafenplatz Dikaearchia (spaeter Puteoli),
und weiter die “Neustadt” Neapolis gegruendet wurden. Sie lebten, wie
ueberhaupt die chalkidischen Staedte in Italien und Sizilien, nach den
Gesetzen, welche Charondas von Katane (um 100 650) festgestellt hatte,
in einer demokratischen, jedoch durch hohen Zensus gemaessigten
Verfassung, welche die Macht in die Haende eines aus den Reichsten
erlesenen Rates von Mitgliedern legte - eine Verfassung, die sich
bewaehrte und im ganzen von diesen Staedten Usurpatoren wie
Poebeltyrannei fern hielt. Wir wissen wenig von den aeusseren
Verhaeltnissen dieser kampanischen Griechen. Sie blieben, sei es aus
Zwang oder aus freier Wahl, mehr noch als die Tarentiner beschraenkt
auf einen engen Bezirk; indem sie von diesem aus nicht erobernd und
unterdrueckend gegen die Eingeborenen auftraten, sondern friedlich mit
ihnen handelten und verkehrten, erschufen sie sich selbst eine
gedeihliche Existenz und nahmen zugleich den ersten Platz unter den
Missionaren der griechischen Zivilisation in Italien ein.
Wenn zu beiden Seiten der rheginischen Meerenge teils auf dem Festlande
die ganze suedliche und die Westkueste bis zum Vesuv, teils die
groessere oestliche Haelfte der sizilischen Insel griechisches Land
war, so gestalteten dagegen auf der italischen Westkueste nordwaerts
vom Vesuv und auf der ganzen Ostkueste die Verhaeltnisse sich
wesentlich anders. An dem dem Adriatischen Meer zugewandten italischen
Gestade entstanden griechische Ansiedlungen nirgends; womit die
verhaeltnismaessig geringere Anzahl und untergeordnete Bedeutung der
griechischen Pflanzstaedte auf dem gegenueberliegenden illyrischen Ufer
und den zahlreichen demselben vorliegenden Inseln augenscheinlich
zusammenhaengt. Zwar wurden auf dem Griechenland naechsten Teil dieser
Kueste zwei ansehnliche Kaufstaedte, Epidamnos oder Dyrrhachion (jetzt
Durazzo; 127 587) und Apollonia (bei Avlona; um 167 627) noch waehrend
der roemischen Koenigsherrschaft gegruendet; aber weiter noerdlich ist,
mit Ausnahme etwa der nicht bedeutenden Niederlassung auf
Schwarzkerkyra (Curzola; um 174? 580) keine alte griechische Ansiedlung
nachzuweisen. Es ist noch nicht hinreichend aufgeklaert, warum die
griechische Kolonisierung so duerftig gerade nach dieser Seite hin
auftrat, wohin doch die Natur selbst die Hellenen zu weisen schien und
wohin in der Tat seit aeltester Zeit von Korinth und mehr noch von der
nicht lange nach Rom (um 44 710) gegruendeten Ansiedlung auf Kerkyra
(Korfu) aus ein Handelszug bestand, dessen Entrepôts auf der italischen
Kueste die Staedte an der Pomuendung, Spina und Atria, waren. Die
Stuerme der Adriatischen See, die Unwirtlichkeit wenigstens der
illyrischen Kuesten, die Wildheit der Eingeborenen reichen offenbar
allein nicht aus, um diese Tatsache zu erklaeren. Aber fuer Italien ist
es von den wichtigsten Folgen gewesen, dass die von Osten kommenden
Elemente der Zivilisation nicht zunaechst auf seine oestlichen
Landschaften einwirkten, sondern erst aus den westlichen in diese
gelangten. Selbst in den Handelsverkehr teilte sich mit Korinth und
Kerkyra die oestlichste Kaufstadt Grossgriechenlands, das dorische
Tarent, das durch den Besitz von Hydrus (Otranto) den Eingang in das
Adriatische Meer auf der italischen Seite beherrschte. Da ausser den
Haefen an der Pomuendung an der ganzen Ostkueste nennenswerte Emporien
in jener Zeit nicht bestanden - Ankons Aufbluehen faellt in weit
spaetere Zeit und noch spaeter das Emporkommen von Brundisium -, ist es
wohl begreiflich, dass die Schiffer von Epidamnos und Apollonia haeufig
in Tarent loeschten. Auch auf dem Landwege verkehrten die Tarentiner
vielfach mit Apulien; auf sie geht zurueck, was sich von griechischer
Zivilisation im Suedosten Italiens vorfindet. Indes fallen in diese
Zeit davon nur die ersten Anfaenge; der Hellenismus Apuliens
entwickelte sich erst in einer spaeteren Epoche.
Dass dagegen die Westkueste Italiens auch noerdlich vom Vesuv in
aeltester Zeit von den Hellenen befahren worden ist und auf den Inseln
und Landspitzen hellenische Faktoreien bestanden, laesst sich nicht
bezweifeln. Wohl das aelteste Zeugnis dieser Fahrten ist die
Lokalisierung der Odysseussage an den Kuesten des Tyrrhenischen Meeres
^4. Wenn man in den Liparischen Inseln die des Aeolos wiederfand, wenn
man am Lacinischen Vorgebirge die Insel der Kalypso, am Misenischen die
der Sirenen, am Circeischen die der Kirke wies, wenn man das ragende
Grab des Elpenor in dem steilen Vorgebirge von Tarracina erkannte, wenn
bei Caieta und Formiae die Laestrygonen hausen, wenn die beiden Soehne
des Odysseus und der Kirke, Agrios, das heisst der Wilde, und Latinos,
im “innersten Winkel der heiligen Inseln” die Tyrrhener beherrschen
oder in einer juengeren Fassung Latinus der Sohn des Odysseus und der
Kirke, Auson der Sohn des Odysseus und der Kalypso heisst, so sind das
alte Schiffmaerchen der ionischen Seefahrer, welche der lieben Heimat
auf der Tyrrhenischen See gedachten, und dieselbe herrliche
Lebendigkeit der Empfindung, wie sie in dem ionischen Gedicht von den
Fahrten des Odysseus waltet, spricht auch noch aus der frischen
Lokalisierung derselben Sage bei Kyme selbst und in dem ganzen
Fahrbezirk der kymaeischen Schiffer.
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^4 Die aeltesten griechischen Schriften, in denen uns diese
tyrrhenische Odysseussage erscheint, sind die Hesiodische ‘Theogonie’
in einem ihrer juengeren Abschnitte und sodann die Schriftsteller aus
der Zeit kurz vor Alexander, Ephoros, aus dem der sogenannte Skymnos
geflossen ist, und der sogenannte Skylax. Die erste dieser Quellen
gehoert einer Zeit an, wo Italien den Griechen noch als Inselgruppe
galt, und ist also sicher sehr alt; und es kann danach die Entstehung
dieser Sagen im ganzen mit Sicherheit in die roemische Koenigszeit
gesetzt werden.
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Andere Spuren dieser aeltesten Fahrten sind die griechischen Namen der
Insel Aethalia (Ilva, Elba), die naechst Aenaria zu den am fruehesten
von Griechen besetzten Plaetzen zu gehoeren scheint, und vielleicht
auch des Hafenplatzes Telamon in Etrurien; ferner die beiden
Ortschaften an der caeritischen Kueste Pyrgi (bei S. Severa) und Alsion
(bei Palo), wo nicht bloss die Namen unverkennbar auf griechischen
Ursprung deuten, sondern auch die eigentuemliche, von den caeritischen
und ueberhaupt den etruskischen Stadtmauern sich wesentlich
unterscheidende Architektur der Mauern von Pyrgi. Aethalia, “die
Feuerinsel”, mit ihren reichen Kupfer- und besonders Eisengruben mag in
diesem Verkehr die erste Rolle gespielt und hier die Altsiedlung der
Fremden wie ihr Verkehr mit den Eingeborenen seinen Mittelpunkt gehabt
haben; um so mehr als das Schmelzen der Erze auf der kleinen und nicht
waldreichen Insel ohne Verkehr mit dem Festland nicht geschehen konnte.
Auch die Silbergruben von Populonia auf der Elba gegenueberliegenden
Landspitze waren vielleicht schon den Griechen bekannt und von ihnen in
Betrieb genommen.
Wenn die Fremden, wie in jenen Zeiten immer, neben dem Handel auch dem
See- und Landraub obliegend, ohne Zweifel es nicht versaeumten, wo die
Gelegenheit sich bot, die Eingeborenen zu brandschatzen und sie als
Sklaven fortzufuehren, so uebten auch die Eingeborenen ihrerseits das
Vergeltungsrecht aus; und dass die Latiner und Tyrrhener dies mit
groesserer Energie und besserem Glueck getan haben als ihre
sueditalischen Nachbarn, zeigen nicht bloss jene Sagen an, sondern vor
allem der Erfolg. In diesen Gegenden gelang es den Italikern, sich der
Fremdlinge zu erwehren und nicht bloss Herren ihrer eigenen Kaufstaedte
und Kaufhaefen zu bleiben oder doch bald wieder zu werden, sondern auch
Herren ihrer eigenen See. Dieselbe hellenische Invasion, welche die
sueditalischen Staemme erdrueckte und denationalisierte, hat die
Voelker Mittelitaliens, freilich sehr wider den Willen der Lehrmeister,
zur Seefahrt und zur Staedtegruendung angeleitet. Hier zuerst muss der
Italiker das Floss und den Nachen mit der phoenikischen und
griechischen Rudergaleere vertauscht haben. Hier zuerst begegnen grosse
Kaufstaedte, vor allem Caere im suedlichen Etrurien und Rom am Tiber,
die, nach den italischen Namen wie nach der Lage in einiger Entfernung
vom Meere zu schliessen, eben wie die ganz gleichartigen Handelsstaedte
an der Pomuendung, Spina und Atria, und weiter suedlich Ariminum,
sicher keine griechischen, sondern italische Gruendungen sind. Den
geschichtlichen Verlauf dieser aeltesten Reaktion der italischen
Nationalitaet gegen fremden Eingriff darzulegen sind wir
begreiflicherweise nicht imstande; wohl aber laesst es noch sich
erkennen, was fuer die weitere Entwicklung Italiens von der groessten
Bedeutung ist, dass diese Reaktion in Latium und im suedlichen Etrurien
einen andern Gang genommen hat als in der eigentlichen tuskischen und
den sich daran anschliessenden Landschaften.
Schon die Sage setzt in bezeichnender Weise dem “wilden Tyrrhener” den
Latiner entgegen und dem unwirtlichen Strande der Volsker das
friedliche Gestade an der Tibermuendung. Aber nicht das kann hiermit
gemeint sein, dass man die griechische Kolonisierung in einigen
Landschaften Mittelitaliens geduldet, in andern nicht zugelassen
haette. Nordwaerts vom Vesuv hat ueberhaupt in geschichtlicher Zeit
nirgends eine unabhaengige griechische Gemeinde bestanden, und wenn
Pyrgi dies einmal gewesen ist, so muss es doch schon vor dem Beginn
unserer Ueberlieferung in die Haende der Italiker, das heisst der
Caeriten zurueckgekehrt sein. Aber wohl ward in Suedetrurien, in Latium
und ebenso an der Ostkueste der friedliche Verkehr mit den fremden
Kaufleuten geschuetzt und gefoerdert, was anderswo nicht geschah. Vor
allem merkwuerdig ist die Stellung von Caere. “Die Caeriten”, sagt
Strabon, “galten viel bei den Hellenen wegen ihrer Tapferkeit und
Gerechtigkeit, und weil sie, so maechtig sie waren, des Raubes sich
enthielten.” Nicht der Seeraub ist gemeint, den der caeritische
Kaufmann wie jeder andere sich gestattet haben wird; sondern Caere war
eine Art von Freihafen fuer die Phoeniker wie fuer die Griechen. Wir
haben der phoenikischen Station - spaeter Punicum genannt - und der
beiden von Pyrgi und Alsion bereits gedacht; diese Haefen waren es, die
zu berauben die Caeriten sich enthielten, und ohne Zweifel war es eben
dies, wodurch Caere, das nur eine schlechte Reede besitzt und keine
Gruben in der Naehe hat, so frueh zu hoher Bluete gelangt ist und fuer
den aeltesten griechischen Handel noch groessere Bedeutung gewonnen hat
als die von der Natur zu Emporien bestimmten Staedte der Italiker an
den Muendungen des Tiber und des Po. Die hier genannten Staedte sind
es, welche in uraltem religioesen Verkehr mit Griechenland erscheinen.
Der erste unter allen Barbaren, der den olympischen Zeus beschenkte,
war der tuskische Koenig Arimnos, vielleicht ein Herr von Ariminum.
Spina und Caere hatten in dem Tempel des delphischen Apollon wie andere
mit dem Heiligtum in regelmaessigem Verkehr stehende Gemeinden ihre
eigenen Schatzhaeuser; und mit der aeltesten caeritischen und
roemischen Ueberlieferung ist das delphische Heiligtum sowohl wie das
kymaeische Orakel verflochten. Diese Staedte, wo die Italiker friedlich
schalteten und mit dem fremden Kaufmann freundlich verkehrten, wurden
vor allen reich und maechtig und wie fuer die hellenischen Waren so
auch fuer die Keime der hellenischen Zivilisation die rechten
Stapelplaetze.
Anders gestalteten sich die Verhaeltnisse bei den “wilden Tyrrhenern”.
Dieselben Ursachen, die in der latinischen und in den vielleicht mehr
unter etruskischer Suprematie stehenden als eigentlich etruskischen
Landschaften am rechten Tiberufer und am unteren Po zur Emanzipierung
der Eingeborenen von der fremden Seegewalt gefuehrt hatten,
entwickelten in dem eigentlichen Etrurien, sei es aus anderen Ursachen,
sei es infolge des verschiedenartigen, zu Gewalttat und Pluenderung
hinneigenden Nationalcharakters, den Seeraub und die eigene Seemacht.
Man begnuegte sich hier nicht, die Griechen aus Aethalia und Populonia
zu verdraengen; auch der einzelne Kaufmann ward, wie es scheint, hier
nicht geduldet, und bald durchstreiften sogar etruskische Kaper weithin
die See und machten den Namen der Tyrrhener zum Schrecken der Griechen
- nicht ohne Ursache galt diesen der Enterhaken als eine etruskische
Erfindung und nannten die Griechen das italische Westmeer das Meer der
Tusker. Wie rasch und ungestuem diese wilden Korsaren, namentlich im
Tyrrhenischen Meere, um sich griffen, zeigt am deutlichsten ihre
Festsetzung an der latinischen und kampanischen Kueste. Zwar
behaupteten im eigentlichen Latium sich die Latiner und am Vesuv sich
die Griechen; aber zwischen und neben ihnen geboten die Etrusker in
Antium wie in Surrentum. Die Volsker traten in die Klientel der
Etrusker ein; aus ihren Waldungen bezogen diese die Kiele ihrer
Galeeren, und wenn dem Seeraub der Antiaten erst die roemische
Okkupation ein Ende gemacht hat, so begreift man es wohl, warum den
griechischen Schiffern das Gestade der suedlichen Volsker das
laestrygonische hiess. Die hohe Landspitze von Sorrent, mit dem noch
steileren, aber hafenlosen Felsen von Capri eine rechte, inmitten der
Buchten von Neapel und Salern in die Tyrrhenische See hinausschauende
Korsarenwarte, wurde frueh von den Etruskern in Besitz genommen. Sie
sollen sogar in Kampanien einen eigenen Zwoelfstaedtebund gegruendet
haben und etruskisch redende Gemeinden haben hier noch in vollkommen
historischer Zeit im Binnenlande bestanden; wahrscheinlich sind diese
Ansiedlungen mittelbar ebenfalls aus der Seeherrschaft der Etrusker im
kampanischen Meer und aus ihrer Rivalitaet mit den Kymaeern am Vesuv
hervorgegangen. Indes beschraenkten die Etrusker sich keineswegs auf
Raub und Pluenderung. Von ihrem friedlichen Verkehr mit griechischen
Staedten zeugen namentlich die Gold- und Silbermuenzen, die wenigstens
vom Jahre 200 der Stadt (550) an die etruskischen Staedte, besonders
Populonia, nach griechischem Muster und auf griechischen Fuss
geschlagen haben; dass dieselben nicht den grossgriechischen, sondern
vielmehr attischen, ja kleinasiatischen Stempeln nachgepraegt wurden,
ist uebrigens wohl auch ein Fingerzeig fuer die feindliche Stellung der
Etrusker zu den italischen Griechen. In der Tat befanden sie sich fuer
den Handel in der guenstigsten Stellung und in einer weit
vorteilhafteren als die Bewohner von Latium. Von Meer zu Meer wohnend
geboten sie am westlichen ueber den grossen italischen Freihafen, am
oestlichen ueber die Pomuendung und das Venedig jener Zeit, ferner
ueber die Landstrasse, die seit alter Zeit von Pisa am Tyrrhenischen
nach Spina am Adriatischen Meere fuehrte, dazu in Sueditalien ueber die
reichen Ebenen von Capua und Nola. Sie besassen die wichtigsten
italischen Ausfuhrartikel, das Eisen von Aethalia, das volaterranische
und kampanische Kupfer, das Silber von Populonia, ja den von der Ostsee
ihnen zugefuehrten Bernstein. Unter dem Schutze ihrer Piraterie,
gleichsam einer rohen Navigationsakte, musste ihr eigener Handel
emporkommen; und es kann ebensowenig befremden, dass in Sybaris der
etruskische und milesische Kaufmann konkurrierten, als dass aus jener
Verbindung von Kaperei und Grosshandel der mass- und sinnlose Luxus
entsprang, in welchem Etruriens Kraft frueh sich selber verzehrt hat.
Wenn also in Italien die Etrusker und, obgleich in minderem Grade, die
Latiner den Hellenen abwehrend und zum Teil feindlich
gegenueberstanden, so griff dieser Gegensatz gewissermassen mit
Notwendigkeit in diejenige Rivalitaet ein, die damals Handel und
Schiffahrt auf dem Mittellaendischen Meere vor allem beherrschte: in
die Rivalitaet der Phoeniker und der Hellenen. Es ist nicht dieses
Orts, im einzelnen darzulegen, wie waehrend der roemischen Koenigszeit
diese beiden grossen Nationen an allen Gestaden des Mittelmeeres, in
Griechenland und Kleinasien selbst, auf Kreta und Kypros, an der
afrikanischen, spanischen und keltischen Kueste miteinander um die
Oberherrschaft rangen; unmittelbar auf italischem Boden wurden diese
Kaempfe nicht gekaempft, aber die Folgen derselben doch auch in Italien
tief und nachhaltig empfunden. Die frische Energie und die
universellere Begabung des juengeren Nebenbuhlers war anfangs ueberall
im Vorteil; die Hellenen entledigten sich nicht bloss der phoenikischen
Faktoreien in ihrer europaeischen und asiatischen Heimat, sondern
verdraengten die Phoeniker auch von Kreta und Kypros, fassten Fuss in
Aegypten und Kyrene und bemaechtigten sich Unteritaliens und der
groesseren oestlichen Haelfte der sizilischen Insel. Ueberall erlagen
die kleinen phoenikischen Handelsplaetze der energischeren griechischen
Kolonisation. Schon ward auch im westlichen Sizilien Selinus (126 628)
und Akragas (174 580) gegruendet, schon von den kuehnen
kleinasiatischen Phokaeern die entferntere Westsee befahren, an dem
keltischen Gestade Massalia erbaut (um 150 600) und die spanische
Kueste erkundet. Aber ploetzlich, um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts, stockt der Fortschritt der hellenischen Kolonisation: und
es ist kein Zweifel, dass die Ursache dieses Stockens der Aufschwung
war, den gleichzeitig, offenbar infolge der von den Hellenen dem
gesamten phoenikischen Stamme drohenden Gefahr, die maechtigste ihrer
Staedte in Libyen, Karthago nahm. War die Nation, die den Seeverkehr
auf dem Mittellaendischen Meere eroeffnet hatte, durch den juengeren
Rivalen auch bereits verdraengt aus der Alleinherrschaft ueber die
Westsee, dem Besitze beider Verbindungsstrassen zwischen dem oestlichen
und dem westlichen Becken des Mittelmeeres und dem Monopol der
Handelsvermittlung zwischen Orient und Okzident, so konnte doch
wenigstens die Herrschaft der Meere westlich von Sardinien und Sizilien
noch fuer die Orientalen gerettet werden; und an deren Behauptung
setzte Karthago die ganze, dem aramaeischen Stamme eigentuemliche zaehe
und umsichtige Energie. Die phoenikische Kolonisierung wie der
Widerstand der Phoeniker nahmen einen voellig anderen Charakter an. Die
aelteren phoenikischen Ansiedlungen, wie die sizilischen, welche
Thukydides schildert, waren kaufmaennische Faktoreien; Karthago
unterwarf sich ausgedehnte Landschaften mit zahlreichen Untertanen und
maechtigen Festungen. Hatten bisher die phoenikischen Niederlassungen
vereinzelt den Griechen gegenuebergestanden, so zentralisierte jetzt
die maechtige libysche Stadt in ihrem Bereiche die ganze Wehrkraft
ihrer Stammverwandten mit einer Straffheit, der die griechische
Geschichte nichts Aehnliches an die Seite zu stellen vermag. Vielleicht
das wichtigste Moment aber dieser Reaktion fuer die Folgezeit ist die
enge Beziehung, in welche die schwaecheren Phoeniker, um der Hellenen
sich zu erwehren, zu den Eingeborenen Siziliens und Italiens traten.
Als Knidier und Rhodier um das Jahr 175 (579) im Mittelpunkt der
phoenikischen Ansiedlungen auf Sizilien bei Lilybaeon sich festzusetzen
versuchten, wurden sie durch die Eingeborenen - Elymer von Segeste -
und Phoeniker wieder von dort vertrieben. Als die Phokaeer um 217 (537)
sich in Alalia (Aleria) auf Korsika Caere gegenueber niederliessen,
erschien, um sie von dort zu vertreiben, die vereinigte Flotte der
Etrusker und der Karthager, hundertundzwanzig Segel stark; und obwohl
in dieser Seeschlacht - einer der aeltesten, die die Geschichte kennt -
die nur halb so starke Flotte der Phokaeer sich den Sieg zuschrieb, so
erreichten doch die Karthager und Etrusker, was sie durch den Angriff
bezweckt hatten: die Phokaeer gaben Korsika auf und liessen lieber an
der weniger ausgesetzten lukanischen Kueste in Hyele (Velia) sich
nieder. Ein Traktat zwischen Etrurien und Karthago stellte nicht bloss
die Regeln ueber Wareneinfuhr und Rechtsfolge fest, sondern schloss
auch ein Waffenbuendnis (συμμαχία) ein, von dessen ernstlicher
Bedeutung eben jene Schlacht von Alalia zeugt. Charakteristisch ist es
fuer die Stellung der Caeriten, dass sie die phokaeischen Gefangenen
auf dem Markt von Caere steinigten und alsdann, um den Frevel zu
suehnen, den delphischen Apoll beschickten.
Latium hat dieser Fehde gegen die Hellenen sich nicht angeschlossen;
vielmehr finden sich in sehr alter Zeit freundliche Beziehungen der
Roemer zu den Phokaeern in Hyele wie in Massalia, und die Ardeaten
sollen sogar gemeinschaftlich mit den Zakynthiern eine Pflanzstadt in
Spanien, das spaetere Saguntum gegruendet haben. Doch haben die Latiner
noch viel weniger sich auf die Seite der Hellenen gestellt; dafuer
buergen sowohl die engen Beziehungen zwischen Rom und Caere als auch
die Spuren alten Verkehrs zwischen den Latinern und den Karthagern. Der
Stamm der Kanaaniten ist den Roemern durch Vermittlung der Hellenen
bekannt geworden, da sie, wie wir sahen, ihn stets mit dem griechischen
Namen genannt haben; aber dass sie weder den Namen der Stadt Karthago
^5 noch den Volksnamen der Afrer ^6 von den Griechen entlehnt haben,
dass tyrische Waren bei den aelteren Roemern mit dem ebenfalls die
griechische Vermittlung ausschliessenden Namen der sarranischen
bezeichnet werden ^7, beweist ebenso wie die spaeteren Vertraege den
alten und unmittelbaren Handelsverkehr zwischen Latium und Karthago.
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^5 Phoenikisch Karthada, griechisch Karchedon, roemisch Cartago.
^6 Der Name Afri, schon Ennius und Cato gelaeufig - man vergleiche
Scipio Africanus -, ist gewiss ungriechisch, hoechst wahrscheinlich
stammverwandt mit dem der Hebraeer.
^7 Sarranisch heissen den Roemern seit alter Zeit der tyrische Purpur
und die tyrische Floete, und auch als Beiname ist Sarranus wenigstens
seit dem Hannibalischen Krieg in Gebrauch. Der bei Ennius und Plautus
vorkommende Stadtname Sarra ist wohl aus Sarranus, nicht unmittelbar
aus dem einheimischen Namen Sor gebildet. Die griechische Form Tyrus,
Tyrius moechte bei den Roemern nicht vor Afranius (bei Festus p. 355
M.) vorkommen. Vgl. F. K. Movers, Die Phoenicier. Bonn/Berlin 1840-56.
Bd. 2, 1, S. 174.
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Der vereinigten Macht der Italiker und Phoeniker gelang es in der Tat,
die westliche Haelfte des Mittelmeeres im wesentlichen zu behaupten.
Der nordwestliche Teil von Sizilien mit den wichtigen Haefen Soloeis
und Panormos an der Nordkueste, Motye an der Afrika zugewandten Spitze
blieb im unmittelbaren oder mittelbaren Besitz der Karthager. Um die
Zeit des Kyros und Kroesos, eben als der weise Bias die Ionier zu
bestimmen suchte, insgesamt aus Kleinasien auswandernd in Sardinien
sich niederzulassen (um 200 554), kam ihnen dort der karthagische
Feldherr Malchus zuvor und bezwang einen bedeutenden Teil der wichtigen
Insel mit Waffengewalt; ein halbes Jahrhundert spaeter erscheint das
ganze Gestade Sardiniens in unbestrittenem Besitz der karthagischen
Gemeinde. Korsika dagegen mit den Staedten Alalia und Nikaea fiel den
Etruskern zu und die Eingeborenen zinsten an diese von den Produkten
ihrer armen Insel, dem Pech, Wachs und Honig. Im Adriatischen Meer
ferner sowie in den Gewaessern westlich von Sizilien und Sardinien
herrschten die verbuendeten Etrusker und Karthager. Zwar gaben die
Griechen den Kampf nicht auf. Jene von Lilybaeon vertriebenen Rhodier
und Knidier setzten auf den Inseln zwischen Sizilien und Italien sich
fest und gruendeten hier die Stadt Lipara (175 579). Massalia gedieh
trotz seiner Isolierung und monopolisierte bald den Handel von Nizza
bis nach den Pyrenaeen. An den Pyrenaeen selbst ward von Lipara aus die
Pflanzstadt Rhoda (jetzt Rosas) angelegt und auch in Saguntum sollen
Zakynthier sich angesiedelt, ja selbst in Tingis (Tanger) in
Mauretanien griechische Dynasten geherrscht haben. Aber mit dem
Vorruecken war es denn doch fuer die Hellenen vorbei; nach Akragas’
Gruendung sind ihnen bedeutende Gebietserweiterungen am Adriatischen
wie am westlichen Meer nicht mehr gelungen, und die spanischen
Gewaesser wie der Atlantische Ozean blieben ihnen verschlossen. Jahr
aus Jahr ein fochten die Liparaeer mit den tuskischen “Seeraeubern”,
die Karthager mit den Massalioten, den Kyrenaeern, vor allem den
griechischen Sikelioten; aber nach keiner Seite hin ward ein dauerndes
Resultat erreicht und das Ergebnis der Jahrhunderte langen Kaempfe war
im ganzen die Aufrechterhaltung des Status quo.
So hatte Italien, wenn auch nur mittelbar, den Phoenikern es zu danken,
dass wenigstens die mittleren und noerdlichen Landschaften nicht
kolonisiert wurden, sondern hier, namentlich in Etrurien, eine
nationale Seemacht ins Leben trat. Es fehlt aber auch nicht an Spuren,
dass die Phoeniker es schon der Muehe wert fanden, wenn nicht gegen die
latinischen, doch wenigstens gegen die seemaechtigeren etruskischen
Bundesgenossen diejenige Eifersucht zu entwickeln, die aller
Seeherrschaft anzuhaften pflegt: der Bericht ueber die von den
Karthagern verhinderte Aussendung einer etruskischen Kolonie nach den
Kanarischen Inseln, wahr oder falsch, offenbart die hier obwaltenden
rivalisierenden Interessen.
KAPITEL XI.
Recht und Gericht
Das Volksleben in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit anschaulich zu
machen, vermag die Geschichte nicht allein; es muss ihr genuegen, die
Entwicklung der Gesamtheit darzustellen. Das Schaffen und Handeln, das
Denken und Dichten des einzelnen, wie sehr sie auch von dem Zuge des
Volksgeistes beherrscht werden, sind kein Teil der Geschichte. Dennoch
scheint der Versuch, diese Zustaende, wenn auch nur in den
allgemeinsten Umrissen, anzudeuten, eben fuer diese aelteste,
geschichtlich so gut wie verschollene Zeit deswegen notwendig, weil die
tiefe Kluft, die unser Denken und Empfinden von dem der alten
Kulturvoelker trennt, sich auf diesem Gebiet allein einigermassen zum
Bewusstsein bringen laesst. Unsere Ueberlieferung mit ihren verwirrten
Voelkernamen und getruebten Sagen ist wie die duerren Blaetter, von
denen wir muehsam begreifen, dass sie einst gruen gewesen sind; statt
die unerquickliche Rede durch diese saeuseln zu lassen und die
Schnitzel der Menschheit, die Choner und Oenotrer, die Siculer und
Pelasger zu klassifizieren, wird es sich besser schicken zu fragen, wie
denn das reale Volksleben des alten Italien im Rechtsverkehr, das
ideale in der Religion sich ausgepraegt, wie man gewirtschaftet und
gehandelt hat, woher die Schrift den Voelkern kam und die weiteren
Elemente der Bildung. So duerftig auch hier unser Wissen ist, schon
fuer das roemische Volk, mehr noch fuer das der Sabeller und das
etruskische, so wird doch selbst die geringe und lueckenvolle Kunde dem
Leser statt des Namens eine Anschauung oder doch eine Ahnung gewaehren.
Das Hauptergebnis einer solchen Betrachtung, um dies gleich hier
vorwegzunehmen, laesst in dem Satze sich zusammenfassen, dass bei den
Italikern und insbesondere bei den Roemern von den urzeitlichen
Zustaenden verhaeltnismaessig weniger bewahrt worden ist als bei
irgendeinem anderen indogermanischen Stamm. Pfeil und Bogen,
Streitwagen, Eigentumunfaehigkeit der Weiber, Kauf der Ehefrau,
primitive Bestattungsform, Blutrache, mit der Gemeindegewalt ringende
Geschlechtsverfassung, lebendiger Natursymbolismus - alle diese und
unzaehlige verwandte Erscheinungen muessen wohl auch als Grundlage der
italischen Zivilisation vorausgesetzt werden; aber wo diese uns zuerst
anschaulich entgegentritt, sind sie bereits spurlos verschwunden, und
nur die Vergleichung der verwandten Staemme belehrt uns ueber ihr
einstmaliges Vorhandensein. Insofern beginnt die italische Geschichte
bei einem weit spaeteren Zivilisationsabschnitt als zum Beispiel die
griechische und deutsche und traegt von Haus aus einen relativ modernen
Charakter.
Die Rechtssatzungen der meisten italischen Staemme sind verschollen:
nur von dem latinischen Landrecht ist in der roemischen Ueberlieferung
einige Kunde auf uns gekommen.
Alle Gerichtsbarkeit ist zusammengefasst in der Gemeinde, das heisst in
dem Koenig, welcher Gericht oder “Gebot” (ius) haelt an den Spruchtagen
(dies fasti) auf der Richterbuehne (tribunal) der Dingstaette, sitzend
auf dem Wagenstuhl (sella curulis) ^1; ihm zur Seite stehen seine Boten
(lictores), vor ihm der Angeklagte oder die Parteien (rei). Zwar
entscheidet zunaechst ueber die Knechte der Herr, ueber die Frauen der
Vater, Ehemann oder naechste maennliche Verwandte; aber Knechte und
Frauen galten auch zunaechst nicht als Glieder der Gemeinde. Auch ueber
hausuntertaenige Soehne und Enkel konkurrierte die hausvaeterliche
Gewalt mit der koeniglichen Gerichtsbarkeit; aber eine eigentliche
Gerichtsbarkeit war jene nicht, sondern lediglich ein Ausfluss des dem
Vater an den Kindern zustehenden Eigentumsrechts. Von einer eigenen
Gerichtsbarkeit der Geschlechter oder ueberhaupt von irgendeiner nicht
aus der koeniglichen abgeleiteten Gerichtsherrlichkeit treffen wir
nirgends eine Spur. Was die Selbsthilfe und namentlich die Blutrache
anlangt, so findet sich vielleicht noch ein sagenhafter Nachklang der
urspruenglichen Satzung, dass die Toetung des Moerders oder dessen, der
ihn widerrechtlich beschuetzt, durch die Naechsten des Ermordeten
gerechtfertigt sei; aber eben dieselben Sagen schon bezeichnen diese
Satzung als verwerflich ^2 und es scheint demnach die Blutrache in Rom
sehr frueh durch das energische Auftreten der Gemeindegewalt
unterdrueckt worden zu sein. Ebenso ist weder von dem Einfluss, der den
Genossen und dem Umstand auf die Urteilsfaellung nach aeltestem
deutschen Recht zukommt, in dem aeltesten roemischen etwas
wahrzunehmen, noch findet sich in diesem, was in jenem so haeufig ist,
dass der Wille selbst und die Macht einen Anspruch mit den Waffen in
der Hand zu vertreten als gerichtlich notwendig oder doch zulaessig
behandelt wird. Das Gerichtsverfahren ist Staats- oder Privatprozess,
je nachdem der Koenig von sich aus oder erst auf Anrufen des Verletzten
einschreitet. Zu jenem kommt es nur, wenn der gemeine Friede gebrochen
ist, also vor allen Dingen im Falle des Landesverrats oder der
Gemeinschaft mit dem Landesfeind (proditio) und der gewaltsamen
Auflehnung gegen die Obrigkeit (perduellio). Aber auch der arge Moerder
(parricida), der Knabenschaender, der Verletzer der jungfraeulichen
oder Frauenehre, der Brandstifter, der falsche Zeuge, ferner wer die
Ernte durch boesen Zauber bespricht oder wer zur Nachtzeit auf dem der
Hut der Goetter und des Volkes ueberlassenen Acker unbefugt das Korn
schneidet, auch sie brechen den gemeinen Frieden und werden deshalb dem
Hochverraeter gleich geachtet. Den Prozess eroeffnet und leitet der
Koenig und faellt das Urteil, nachdem er mit den zugezogenen
Ratsmaennern sich besprochen hat. Doch steht es ihm frei, nachdem er
den Prozess eingeleitet hat, die weitere Verhandlung und die
Urteilsfaellung an Stellvertreter zu uebertragen, die regelmaessig aus
dem Rat genommen werden; die spaeteren ausserordentlichen
Stellvertreter, die Zweimaenner fuer Aburteilung der Empoerung (duoviri
perduellionis) und die spaeteren staendigen Stellvertreter, die
“Mordspuerer” (quaestores parricidii), denen zunaechst die Aufspuerung
und Verhaftung der Moerder, also eine gewisse polizeiliche Taetigkeit
oblag, gehoeren der Koenigszeit nicht an, moegen aber wohl an gewisse
Einrichtungen derselben anknuepfen. Untersuchungshaft ist Regel, doch
kann auch der Angeklagte gegen Buergschaft entlassen werden. Folterung
zur Erzwingung des Gestaendnisses kommt nur vor fuer Sklaven. Wer
ueberwiesen ist, den gemeinen Frieden gebrochen zu haben, buesst immer
mit dem Leben; die Todesstrafen sind mannigfaltig: so wird der falsche
Zeuge vom Burgfelsen gestuerzt, der Erntedieb aufgeknuepft, der
Brandstifter verbrannt. Begnadigen kann der Koenig nicht, sondern nur
die Gemeinde; der Koenig aber kann dem Verurteilten die Betretung des
Gnadenweges (provocatio) gestatten oder verweigern. Ausserdem kennt das
Recht auch eine Begnadigung des verurteilten Verbrechers durch die
Goetter; wer vor dem Priester des Jupiter einen Kniefall tut, darf an
demselben Tag nicht mit Ruten gestrichen, wer gefesselt sein Haus
betritt, muss der Bande entledigt werden; und das Leben ist dem
Verbrecher geschenkt, welcher auf seinem Gang zum Tode einer der
heiligen Jungfrauen der Vesta zufaellig begegnet.
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^1 Dieser “Wagenstuhl” - eine andere Erklaerung ist sprachlich nicht
wohl moeglich (vgl. auch Serv. Aen. 1, 16) - wird wohl am einfachsten
in der Weise erklaert, dass der Koenig in der Stadt allein zu fahren
befugt war, woher das Recht spaeter dem hoechsten Beamten fuer
feierliche Gelegenheiten blieb, und dass er urspruenglich, solange es
noch kein erhoehtes Tribunal gab, auf dem Comitium oder wo er sonst
wollte, vom Wagenstuhl herab Recht sprach.
^2 Die Erzaehlung von dem Tode des Koenigs Tatius, wie Plutarch (Rom.
23, 24) sie gibt: dass Verwandte des Tatius laurentinische Gesandte
ermordet haetten; dass Tatius den klagenden Verwandten der Erschlagenen
das Recht geweigert habe; dass dann Tatius von diesen erschlagen worden
sei; dass Romulus die Moerder des Tatius freigesprochen, weil Mord mit
Mord gesuehnt sei; dass aber infolge goettlicher ueber beide Staedte
zugleich ergangener Strafgerichte sowohl die ersten als die zweiten
Moerder in Rom und in Laurentum nachtraeglich zur gerechten Strafe
gezogen seien - diese Erzaehlung sieht ganz aus wie eine Historisierung
der Abschaffung der Blutrache, aehnlich wie die Einfuehrung der
Provokation dem Horatiermythus zugrunde liegt. Die anderswo
vorkommenden Fassungen dieser Erzaehlung weichen freilich bedeutend ab,
scheinen aber auch verwirrt oder zurechtgemacht.
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Bussen an den Staat wegen Ordnungswidrigkeit und Polizeivergehen
verhaengt der Koenig nach Ermessen; sie bestehen in einer bestimmten
Zahl (daher der Name multa) von Rindern oder Schafen. Auch Rutenhiebe
zu erkennen steht in seiner Hand.
In allen uebrigen Faellen, wo nur der einzelne, nicht der gemeine
Friede verletzt war, schreitet der Staat nur ein auf Anrufen des
Verletzten, welcher den Gegner veranlasst, noetigenfalls mit handhafter
Gewalt zwingt, sich mit ihm persoenlich dem Koenig zu stellen. Sind
beide Parteien erschienen und hat der Klaeger die Forderung muendlich
vorgetragen, der Beklagte deren Erfuellung in gleicher Weise
verweigert, so kann der Koenig entweder die Sache untersuchen oder sie
in seinem Namen durch einen Stellvertreter abmachen lassen. Als die
regelmaessige Form der Suehnung eines solchen Unrechts galt der
Vergleich zwischen dem Verletzer und dem Verletzten; der Staat trat nur
ergaenzend ein, wenn der Schaediger den Geschaedigten nicht durch eine
ausreichende Suehne (poena) zufriedenstellte, wenn jemand sein Eigentum
vorenthalten oder seine gerechte Forderung nicht erfuellt ward.
Was in dieser Epoche der Bestohlene von dem Dieb zu fordern berechtigt
war und wann der Diebstahl als ueberhaupt der Suehne faehig galt,
laesst sich nicht bestimmen. Billig aber forderte der Verletzte von dem
auf frischer Tat ergriffenen Diebe Schwereres als von dem spaeter
entdeckten, da die Erbitterung, welche eben zu suehnen ist, gegen jenen
staerker ist als gegen diesen. Erschien der Diebstahl der Suehne
unfaehig oder war der Dieb nicht imstande, die von dem Beschaedigten
geforderte und von dem Richter gebilligte Schaetzung zu erlegen, so
ward er vom Richter dem Bestohlenen als eigener Mann zugesprochen.
Bei Schaedigung (iniuria) des Koerpers wie der Sachen musste in den
leichteren Faellen der Verletzte wohl unbedingt Suehne nehmen; ging
dagegen durch dieselbe ein Glied verloren, so konnte der Verstuemmelte
Auge um Auge fordern und Zahn um Zahn.
Das Eigentum hat, da das Ackerland bei den Roemern lange in
Feldgemeinschaft benutzt und erst in verhaeltnismaessig spaeter Zeit
aufgeteilt worden ist, sich nicht an den Liegenschaften, sondern
zunaechst an dem “Sklaven- und Viehstand” (familia pecuniaque)
entwickelt. Als Rechtsgrund desselben gilt nicht etwa das Recht des
Staerkeren, sondern man betrachtet vielmehr alles Eigentum als dem
einzelnen Buerger von der Gemeinde zu ausschliesslichem Haben und
Nutzen zugeteilt, weshalb auch nur der Buerger und wen die Gemeinde in
dieser Beziehung dem Buerger gleich achtet, faehig ist, Eigentum zu
haben. Alles Eigentum geht frei von Hand zu Hand; das roemische Recht
macht keinen wesentlichen Unterschied zwischen beweglichem und
unbeweglichem Gut, seit ueberhaupt der Begriff des Privateigentums auf
das letztere erstreckt war, und kennt kein unbedingtes Anrecht der
Kinder oder der sonstigen Verwandten auf das vaeterliche oder
Familienvermoegen. Indes ist der Vater nicht imstande, die Kinder ihres
Erbrechts willkuerlich zu berauben, da er weder die vaeterliche Gewalt
aufheben noch anders als mit Einwilligung der ganzen Gemeinde, die auch
versagt werden konnte und in solchem Falle gewiss oft versagt ward, ein
Testament errichten kann. Bei seinen Lebzeiten zwar konnte der Vater
auch den Kindern nachteilige Verfuegungen treffen; denn mit
persoenlichen Beschraenkungen des Eigentuemers war das Recht sparsam
und gestattete im ganzen jedem erwachsenen Mann die freie Verfuegung
ueber sein Gut. Doch mag die Einrichtung, wonach derjenige, welcher
sein Erbgut veraeusserte und seine Kinder desselben beraubte,
obrigkeitlich gleich dem Wahnsinnigen unter Vormundschaft gesetzt ward,
wohl schon bis in die Zeit zurueckreichen, wo das Ackerland zuerst
aufgeteilt ward und damit das Privatvermoegen ueberhaupt eine groessere
Bedeutung fuer das Gemeinwesen erhielt. Auf diesem Wege wurden die
beiden Gegensaetze, unbeschraenktes Verfuegungsrecht des Eigentuemers
und Zusammenhaltung des Familiengutes, soweit moeglich, im roemischen
Recht miteinander vereinigt. Dingliche Beschraenkungen des Eigentums
wurden, mit Ausnahme der namentlich fuer die Landwirtschaft
unentbehrlichen Gerechtigkeiten, durchaus nicht zugelassen. Erbpacht
und dingliche Grundrente sind rechtlich unmoeglich; anstatt der
Verpfaendung, die das Recht ebensowenig kennt, dient die sofortige
Uebertragung des Eigentums an dem Unterpfand auf den Glaeubiger
gleichsam als den Kaeufer desselben, wobei dieser sein Treuwort
(fiducia) gibt, bis zum Verfall der Forderung die Sache nicht zu
veraeussern und sie nach Rueckzahlung der vorgestreckten Summe dem
Schuldner zurueckzustellen.
Vertraege, die der Staat mit einem Buerger abschliesst, namentlich die
Verpflichtung der fuer eine Leistung an den Staat eintretenden Garanten
(praevides, praedes), sind ohne weitere Foermlichkeit gueltig. Dagegen
die Vertraege der Privaten untereinander geben in der Regel keinen
Anspruch auf Rechtshilfe von Seiten des Staats; den Glaeubiger schuetzt
nur das nach kaufmaennischer Art hochgehaltene Treuwort und etwa noch
bei dem haeufig hinzutretenden Eide die Scheu vor den den Meineid
raechenden Goettern. Rechtlich klagbar sind nur das Verloebnis,
infolgedessen der Vater, wenn er die versprochene Braut nicht gibt,
dafuer Suehne und Ersatz zu leisten hat, ferner der Kauf (mancipatio)
und das Darlehen (nexum). Der Kauf gilt als rechtlich abgeschlossen
dann, wenn der Verkaeufer dem Kaeufer die gekaufte Sache in die Hand
gibt (mancipare) und gleichzeitig der Kaeufer dem Verkaeufer den
bedungenen Preis in Gegenwart von Zeugen entrichtet; was, seit das
Kupfer anstatt der Schafe und Rinder der regelmaessige Wertmesser
geworden war, geschah durch Zuwaegen der bedungenen Quantitaet Kupfer
auf der von einem Unparteiischen richtig gehaltenen Waage ^3. Unter
diesen Voraussetzungen muss der Verkaeufer dafuer einstehen, dass er
Eigentuemer sei, und ueberdies der Verkaeufer wie der Kaeufer jede
besonders eingegangene Beredung erfuellen; widrigenfalls buesst er dem
andern Teil aehnlich, wie wenn er die Sache ihm entwendet haette. Immer
aber bewirkt der Kauf eine Klage nur dann, wenn er Zug um Zug
beiderseits erfuellt war; Kauf auf Kredit gibt und nimmt kein Eigentum
und begruendet keine Klage. In aehnlicher Art wird das Darlehen
eingegangen, indem der Glaeubiger dem Schuldner vor Zeugen die
bedungene Quantitaet Kupfer unter Verpflichtung (nexum) zur Rueckgabe
zuwaegt. Der Schuldner hat ausser dem Kapital noch den Zins zu
entrichten, welcher unter gewoehnlichen Verhaeltnissen wohl fuer das
Jahr zehn Prozent betrug ^4. In der gleichen Form erfolgte seinerzeit
auch die Rueckzahlung des Darlehens. Erfuellte ein Schuldner dem Staat
gegenueber seine Verbindlichkeit nicht, so wurde derselbe ohne weiteres
mit allem, was er hatte, verkauft; dass der Staat forderte, genuegte
zur Konstatierung der Schuld. Ward dagegen von einem Privaten die
Vergewaltigung seines Eigentums dem Koenig angezeigt (vindiciae), oder
erfolgte die Rueckzahlung des empfangenen Darlehens nicht, so kam es
darauf an, ob das Sachverhaeltnis der Feststellung bedurfte, was bei
Eigentumsklagen regelmaessig der Fall war, oder schon klar vorlag, was
bei Darlehensklagen nach den geltenden Rechtsnormen mittels der Zeugen
leicht bewerkstelligt werden konnte. Die Feststellung des
Sachverhaeltnisses geschah in Form einer Wette, wobei jede Partei fuer
den Fall des Unterliegens einen Einsatz (sacramentum) machte: bei
wichtigen Sachen von mehr als zehn Rindern Wert einen von fuenf
Rindern, bei geringeren einen von fuenf Schafen. Der Richter entschied
sodann, wer recht gewettet habe, worauf der Einsatz der unterliegenden
Partei den Priestern zum Behuf der oeffentlichen Opfer zufiel. Wer also
unrecht gewettet hatte, und, ohne den Gegner zu befriedigen, dreissig
Tage hatte verstreichen lassen; ferner, wessen Leistungspflicht von
Anfang an feststand, also regelmaessig der Darlehensschuldner, wofern
er nicht Zeugen fuer die Rueckzahlung hatte, unterlag dem
Exekutionsverfahren “durch Handanlegung” (manus iniectio), indem ihn
der Klaeger packte, wo er ihn fand, und ihn vor Gericht stellte,
lediglich um die anerkannte Schuld zu erfuellen. Verteidigen durfte der
Ergriffene sich selber nicht; ein Dritter konnte zwar fuer ihn
auftreten und diese Gewalttat als unbefugte bezeichnen (vindex), worauf
dann das Verfahren eingestellt ward; allein diese Vertretung machte den
Vertreter persoenlich verantwortlich, weshalb auch fuer den
steuerzahlenden Buerger der Proletarier nicht Vertreter sein konnte.
Trat weder Erfuellung noch Vertretung ein, so sprach der Koenig den
Ergriffenen dem Glaeubiger so zu, dass dieser ihn abfuehren und halten
konnte gleich einem Sklaven. Waren alsdann sechzig Tage verstrichen,
war waehrend derselben der Schuldner dreimal auf dem Markt ausgestellt
und dabei ausgerufen worden, ob jemand seiner sich erbarme, und dies
alles ohne Erfolg geblieben, so hatten die Glaeubiger das Recht, ihn zu
toeten und sich in seine Leiche zu teilen, oder auch ihn mit seinen
Kindern und seiner Habe als Sklaven in die Fremde zu verkaufen, oder
auch ihn bei sich an Sklaven Statt zu halten; denn freilich konnte er,
so lange er im Kreis der roemischen Gemeinde blieb, nach roemischem
Recht nicht vollstaendig Sklave werden. So ward Habe und Gut eines
jeden von der roemischen Gemeinde gegen den Dieb und Schaediger sowohl
wie gegen den unbefugten Besitzer und den zahlungsunfaehigen Schuldner
mit unnachsichtlicher Strenge geschirmt.
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^3 Die Manzipation in ihrer entwickelten Gestalt ist notwendig juenger
als die Servianische Reform, wie die auf die Feststellung des
Bauerneigentums gerichtete Auswahl der manzipablen Objekte beweist, und
wie selbst die Tradition angenommen haben muss, da sie Servius zum
Erfinder der Waage macht. Ihrem Ursprung nach muss aber die Manzipation
weit aelter sein, denn sie passt zunaechst nur auf Gegenstaende, die
durch Ergreifen mit der Hand erworben werden und muss also in ihrer
aeltesten Gestalt der Epoche angehoeren, wo das Vermoegen wesentlich in
Sklaven und Vieh (familia pecuniaque) bestand. Die Aufzaehlung
derjenigen Gegenstaende, die manzipiert werden mussten, wird demnach
eine Servianische Neuerung sein; die Manzipation selbst und also auch
der Gebrauch der Waage und des Kupfers sind aelter. Ohne Zweifel ist
die Manzipation urspruenglich allgemeine Kaufform und noch nach der
Servianischen Reform bei allen Sachen vorgekommen; erst spaeteres
Missverstaendnis deutete die Vorschrift, dass gewisse Sachen manzipiert
werden muessten, dahin um, dass nur diese Sachen und keine anderen
manzipiert werden koennten.
^4 Naemlich fuer das zehnmonatliche Jahr den zwoelften Teil des
Kapitals (uncia), also fuer das zehnmonatliche Jahr 8 1/3, fuer das
zwoelfmonatliche zehn vom Hundert.
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Ebenso schirmte man das Gut der nicht wehrhaften, also auch nicht zur
Schirmung des eigenen Vermoegens faehigen Personen, der Unmuendigen und
der Wahnsinnigen und vor allem das der Weiber, indem man die naechsten
Erben zu der Hut desselben berief.
Nach dem Tode faellt das Gut den naechsten Erben zu, wobei alle
Gleichberechtigten, auch die Weiber gleiche Teile erhalten und die
Witwe mit den Kindern auf einen Kopfteil zugelassen wird. Dispensieren
von der gesetzlichen Erbfolge kann nur die Volksversammlung, wobei noch
vorher wegen der an dem Erbgang haftenden Sakralpflichten das Gutachten
der Priester einzuholen ist; indes scheinen solche Dispensationen frueh
sehr haeufig geworden zu sein, und wo sie fehlte, konnte bei der
vollkommen freien Disposition, die einem jeden ueber sein Vermoegen bei
seinen Lebzeiten zustand, diesem Mangel dadurch einigermassen
abgeholfen werden, dass man sein Gesamtvermoegen einem Freund
uebertrug, der dasselbe nach dem Tode dem Willen des Verstorbenen
gemaess verteilte.
Die Freilassung war dem aeltesten Recht unbekannt. Der Eigentuemer
konnte freilich der Ausuebung seines Eigentumsrechts sich enthalten;
aber die zwischen dem Herrn und dem Sklaven bestehende Unmoeglichkeit
gegenseitiger Verbindlichmachung wurde hierdurch nicht aufgehoben, noch
weniger dem letzteren der Gemeinde gegenueber das Gast- oder gar das
Buergerrecht erworben. Die Freilassung kann daher anfangs nur Tatsache,
nicht Recht gewesen sein und dem Herrn nie die Moeglichkeit
abgeschnitten haben, den Freigelassenen wieder nach Gefallen als
Sklaven zu behandeln. Indes ging man hiervon ab in den Faellen, wo sich
der Herr nicht bloss dem Sklaven, sondern der Gemeinde gegenueber
anheischig gemacht hatte, denselben im Besitze der Freiheit zu lassen.
Eine eigene Rechtsform fuer eine solche Bindung des Herrn gab es jedoch
nicht - der beste Beweis, dass es anfaenglich eine Freilassung nicht
gegeben haben kann -, sondern es wurden dafuer diejenigen Wege benutzt,
welche das Recht sonst darbot: das Testament, der Prozess, die
Schatzung. Wenn der Herr entweder bei Errichtung seines letzten Willens
in der Volksversammlung den Sklaven freigesprochen hatte oder wenn er
dem Sklaven verstattet hatte, ihm gegenueber vor Gericht die Freiheit
anzusprechen oder auch sich in die Schatzungsliste einzeichnen zu
lassen, so galt der Freigelassene zwar nicht als Buerger, aber wohl als
frei selbst dem frueheren Herrn und dessen Erben gegenueber und demnach
anfangs als Schutzverwandter, spaeterhin als Plebejer. Auf groessere
Schwierigkeiten als die Freilassung des Knechts stiess diejenige des
Sohnes; denn wenn das Verhaeltnis des Herrn zum Knecht zufaellig und
darum willkuerlich loesbar ist, so kann der Vater nie aufhoeren Vater
zu sein. Darum musste spaeterhin der Sohn, um von dem Vater sich zu
loesen, erst in die Knechtschaft eintreten, um dann aus dieser
entlassen zu werden; in der gegenwaertigen Periode aber kann es eine
Emanzipation ueberhaupt noch nicht gegeben haben.
Nach diesem Rechte lebten in Rom die Buerger und die Schutzverwandten,
zwischen denen, soweit wir sehen, von Anfang an vollstaendige
privatrechtliche Gleichheit bestand. Der Fremde dagegen, sofern er sich
nicht einem roemischen Schutzherrn ergeben hat und also als
Schutzverwandter lebt, ist rechtlos, er wie seine Habe. Was der
roemische Buerger ihm abnimmt, das ist ebenso recht erworben wie die am
Meeresufer aufgelesene herrenlose Muschel; nur, das Grundstueck, das
ausserhalb der roemischen Grenze liegt, kann der roemische Buerger wohl
faktisch gewinnen, aber nicht im Rechtssinn als dessen Eigentuemer
gelten; denn die Grenze der Gemeinde vorzuruecken, ist der einzelne
Buerger nicht befugt. Anders ist es im Kriege; was der Soldat gewinnt,
der unter dem Heerbann ficht, bewegliches wie unbewegliches Gut, faellt
nicht ihm zu, sondern dem Staat, und hier haengt es denn auch von
diesem ab, die Grenze vorzuschieben oder zurueckzunehmen.
Ausnahmen von diesen allgemeinen Regeln entstehen durch besondere
Staatsvertraege, die den Mitgliedern fremder Gemeinden innerhalb der
roemischen gewisse Rechte sichern. Vor allem erklaerte das ewige
Buendnis zwischen Rom und Latium alle Vertraege zwischen Roemern und
Latinern fuer rechtsgueltig und verordnete zugleich fuer diese einen
beschleunigten Zivilprozess vor geschworenen “Wiederschaffern”
(reciperatores), welche, da sie, gegen den sonstigen roemischen
Gebrauch einem Einzelrichter die Entscheidung zu uebertragen, immer in
der Mehrheit und in ungerader Zahl sitzen, wohl als ein aus Richtern
beider Nationen und einem Obmann zusammengesetztes Handels- und
Messgericht zu denken sind. Sie urteilen am Ort des abgeschlossenen
Vertrages und muessen spaetestens in zehn Tagen den Prozess beendigt
haben. Die Formen, in denen der Verkehr zwischen Roemern und Latinern
sich bewegte, waren natuerlich die allgemeinen, in denen auch Patrizier
und Plebejer miteinander verkehrten; denn die Manzipation und das Nexum
sind urspruenglich gar keine Formalakte, sondern der praegnante
Ausdruck der Rechtsbegriffe, deren Herrschaft reichte wenigstens so
weit man lateinisch sprach.
In anderer Weise und anderen Formen ward der Verkehr mit dem
eigentlichen Ausland vermittelt. Schon in fruehester Zeit muessen mit
den Caeriten und anderen befreundeten Voelkern Vertraege ueber Verkehr
und Rechtsfolge abgeschlossen und die Grundlage des internationalen
Privatrechts (ius gentium) geworden sein, das sich in Rom allmaehlich
neben dem Landrecht entwickelt hat. Eine Spur dieser Rechtsbildung ist
das merkwuerdige mutuum, der “Wandel” (von mutare; wie dividuus); eine
Form des Darlehens, die nicht wie das Nexum auf einer ausdruecklich vor
Zeugen abgegebenen bindenden Erklaerung des Schuldners, sondern auf dem
blossen Uebergang des Geldes aus einer Hand in die andere beruht und
die so offenbar dem Verkehr mit Fremden entsprungen ist wie das Nexum
dem einheimischen Geschaeftsverkehr. Es ist darum charakteristisch,
dass das Wort als μοίτον im sizilischen Griechisch wiederkehrt; womit
zu verbinden ist das Wiedererscheinen des lateinischen carcer in dem
sizilischen κάρκαρον. Da es sprachlich feststeht, dass beide Woerter
urspruenglich latinisch sind, so wird ihr Vorkommen in dem sizilischen
Lokaldialekt ein wichtiges Zeugnis fuer den haeufigen Verkehr der
latinischen Schiffer auf der Insel, welcher sie veranlasste, dort Geld
zu borgen und der Schuldhaft, die ja ueberall in den aelteren Rechten
die Folge des nicht bezahlten Darlehens ist, sich zu unterwerfen.
Umgekehrt ward der Name des syrakusanischen Gefaengnisses,
“Steinbrueche” oder λατομίαι, in alter Zeit auf das erweiterte
roemische Staatsgefaengnis, die lautumiae uebertragen.
Werfen wir noch einen Blick zurueck auf die Gesamtheit dieser
Institutionen, die im wesentlichen entnommen sind der aeltesten, etwa
ein halbes Jahrhundert nach der Abschaffung des Koenigtums
veranstalteten Aufzeichnung des roemischen Gewohnheitsrechts und deren
Bestehen schon in der Koenigszeit sich wohl fuer einzelne Punkte, aber
nicht im ganzen bezweifeln laesst, so erkennen wir darin das Recht
einer weit vorgeschrittenen, ebenso liberalen als konsequenten Acker-
und Kaufstadt. Hier ist die konventionelle Bildersprache, wie zum
Beispiel die deutschen Rechtssatzungen sie aufzeigen, bereits voellig
verschollen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass eine solche auch bei
den Italikern einmal vorgekommen sein muss; merkwuerdige Belege dafuer
sind zum Beispiel die Form der Haussuchung, wobei der Suchende nach
roemischer wie nach deutscher Sitte ohne Obergewand im blossen Hemd
erscheinen musste, und vor allem die uralte latinische Formel der
Kriegserklaerung, worin zwei, wenigstens auch bei den Kelten und den
Deutschen vorkommende Symbole begegnen: das “reine Kraut” (herba pura,
fraenkisch chrene chruda) als Symbol des heimischen Bodens und der
angesengte blutige Stab als Zeichen der Kriegseroeffnung. Mit wenigen
Ausnahmen aber, in denen religioese Ruecksichten die altertuemlichen
Gebraeuche schuetzten - dahin gehoert ausser der Kriegserklaerung durch
das Fetialenkollegium namentlich noch die Konfarreation -, verwirft das
roemische Recht, das wir kennen, durchaus und prinzipiell das Symbol
und fordert in allen Faellen nicht mehr und nicht weniger als den
vollen und reinen Ausdruck des Willens. Die Uebergabe der Sache, die
Aufforderung zum Zeugnis, die Eingebung der Ehe sind vollzogen, so wie
die Parteien die Absicht in verstaendlicher Weise erklaert haben; es
ist zwar ueblich, dem neuen Eigentuemer die Sache in die Hand zu geben,
den zum Zeugnis Geladenen am Ohre zu zupfen, der Braut das Haupt zu
verhuellen und sie in feierlichem Zuge in das Haus des Mannes
einzufuehren; aber alle diese uralten Uebungen sind schon nach
aeltestem roemischen Landrecht rechtlich wertlose Gebraeuche.
Vollkommen analog wie aus der Religion alle Allegorie und damit alle
Personifikation beseitigt ward, wurde auch aus dem Rechte jede Symbolik
grundsaetzlich ausgetrieben. Ebenso ist hier jener aelteste Zustand,
den die hellenischen wie die germanischen Institutionen uns darstellen,
wo die Gemeindegewalt noch ringt mit der Autoritaet der kleineren, in
die Gemeinde aufgegangenen Geschlechts- oder Gaugenossenschaften,
gaenzlich beseitigt; es gibt keine Rechtsallianz innerhalb des Staates
zur Ergaenzung der unvollkommenen Staatshilfe durch gegenseitigen
Schutz und Trutz, keine ernstliche Spur der Blutrache oder des die
Verfuegung des einzelnen beschraenkenden Familieneigentums. Auch
dergleichen muss wohl einmal bei den Italikern bestanden haben; es mag
in einzelnen Institutionen des Sakralrechts, zum Beispiel in dem
Suehnbock, den der unfreiwillige Totschlaeger den naechsten Verwandten
des Getoeteten zu geben verpflichtet war, davon eine Spur sich finden;
allein schon fuer die aelteste Periode Roms, die wir in Gedanken
erfassen koennen, ist dies ein laengst ueberwundener Standpunkt. Zwar
vernichtet ist das Geschlecht, die Familie in der roemischen Gemeinde
nicht; aber die ideelle wie die reale Allmacht des Staates auf dem
staatlichen Gebiet ist durch sie ebensowenig beschraenkt wie durch die
Freiheit, die der Staat dem Buerger gewaehrt und gewaehrleistet. Der
letzte Rechtsgrund ist ueberall der Staat: die Freiheit ist nur ein
anderer Ausdruck fuer das Buergerrecht im weitesten Sinn; alles
Eigentum beruht auf ausdruecklicher oder stillschweigender Uebertragung
von der Gemeinde auf den einzelnen; der Vertrag gilt nur, insofern die
Gemeinde in ihren Vertretern ihn bezeugt, das Testament nur, insofern
die Gemeinde es bestaetigt. Scharf und klar sind die Gebiete des
oeffentlichen und des Privatrechts voneinander geschieden: die Vergehen
gegen den Staat, welche unmittelbar das Gericht des Staates herbeirufen
und immer Lebensstrafe nach sich ziehen; die Vergehen gegen den
Mitbuerger oder den Gast, welche zunaechst auf dem Wege des Vergleichs
durch Suehne oder Befriedigung des Verletzten erledigt und niemals mit
dem Leben gebuesst werden, sondern hoechstens mit dem Verlust der
Freiheit. Hand in Hand gehen die groesste Liberalitaet in Gestattung
des Verkehrs und das strengste Exekutionsverfahren; ganz wie heutzutage
in Handelsstaaten die allgemeine Wechselfaehigkeit und der strenge
Wechselprozess zusammen auftraten. Der Buerger und der Schutzgenosse
stehen sich im Verkehr vollkommen gleich; Staatsvertraege gestatten
umfassende Rechtsgleichheit auch dem Gast; die Frauen sind in der
Rechtsfaehigkeit mit den Maennern voellig auf eine Linie gestellt,
obwohl sie im Handeln beschraenkt sind; ja der kaum erwachsene Knabe
bekommt sogleich das umfassendste Dispositionsrecht ueber sein
Vermoegen, und wer ueberhaupt verfuegen kann, ist in seinem Kreise so
souveraen, wie im oeffentlichen Gebiet der Staat. Hoechst
charakteristisch ist das Kreditsystem: ein Bodenkredit existiert nicht,
sondern anstatt der Hypothekarschuld tritt sofort ein, womit heutzutage
das Hypothekarverfahren schliesst, der Uebergang des Eigentums vom
Schuldner auf den Glaeubiger; dagegen ist der persoenliche Kredit in
der umfassendsten, um nicht zu sagen ausschweifendsten Weise
garantiert, indem der Gesetzgeber den Glaeubiger befugt, den
zahlungsunfaehigen Schuldner dem Diebe gleich zu behandeln und ihm
dasjenige, was Shylock sich von seinem Todfeind halb zum Spott
ausbedingt, hier in vollkommen legislatorischem Ernste einraeumt, ja
den Punkt wegen des Zuvielabschneidens sorgfaeltiger verklausuliert,
als es der Jude tat. Deutlicher konnte das Gesetz es nicht aussprechen,
dass es zugleich unabhaengige, nicht verschuldete Bauernwesen und
kaufmaennischen Kredit herzustellen, alles Scheineigentum aber wie alle
Wortlosigkeit mit unerbittlicher Energie zu unterdruecken beabsichtige.
Nimmt man dazu das frueh anerkannte Niederlassungsrecht saemtlicher
Latiner und die gleichfalls frueh ausgesprochene Gueltigkeit der
Zivilehe, so wird man erkennen, dass dieser Staat, der das Hoechste von
seinen Buergern verlangte und den Begriff der Untertaenigkeit des
einzelnen unter die Gesamtheit steigerte, wie keiner vor oder nach ihm,
dies nur tat und nur tun konnte, weil er die Schranken des Verkehrs
selber niederwarf und die Freiheit ebensosehr entfesselte, wie er sie
beschraenkte. Gestattend oder hemmend tritt das Recht stets unbedingt
auf: wie der unvertretene Fremde dem gehetzten Wild, so steht der Gast
dem Buerger gleich; der Vertrag gibt regelmaessig keine Klage, aber wo
das Recht des Glaeubigers anerkannt wird, da ist es so allmaechtig,
dass dem Armen nirgends eine Rettung, nirgends eine menschliche und
billige Beruecksichtigung sich zeigt; es ist, als faende das Recht eine
Freude daran, ueberall die schaerfsten Spitzen hervorzukehren, die
aeussersten Konsequenzen zu ziehen, das Tyrannische des Rechtsbegriffs
gewaltsam dem bloedesten Verstande aufzudraengen. Die poetische Form,
die gemuetliche Anschaulichkeit, die in den germanischen
Rechtsordnungen anmutig walten, sind dem Roemer fremd, in seinem Recht
ist alles klar und knapp, kein Symbol angewandt, keine Institution
zuviel. Es ist nicht grausam; alles Noetige wird vollzogen ohne
Umstaende, auch die Todesstrafe; dass der Freie nicht gefoltert werden
kann, ist ein Ursatz des roemischen Rechts, den zu gewinnen andere
Voelker Jahrtausende haben ringen muessen. Aber es ist schrecklich,
dies Recht mit seiner unerbittlichen Strenge, die man sich nicht
allzusehr gemildert denken darf durch eine humane Praxis, denn es ist
ja Volksrecht - schrecklicher als die Bleidaecher und die
Marterkammern, jene Reihe lebendiger Begraebnisse, die der Arme in den
Schuldtuermen der Vermoegenden klaffen sah. Aber darin eben ist die
Groesse Roms beschlossen und begruendet, dass das Volk sich selber ein
Recht gesetzt und ein Recht ertragen hat, in dem die ewigen Grundsaetze
der Freiheit und der Botmaessigkeit, des Eigentums und der Rechtsfolge
unverfaelscht und ungemildert walteten und heute noch walten.
KAPITEL XII.
Religion
Die roemische Goetterwelt ist, wie schon frueher angedeutet ward,
hervorgegangen aus der Widerspiegelung des irdischen Rom in einem
hoeheren und idealen Anschauungsgebiet, in dem sich mit peinlicher
Genauigkeit das Kleine wie das Grosse wiederholte. Der Staat und das
Geschlecht, das einzelne Naturereignis wie die einzelne geistige
Taetigkeit, jeder Mensch, jeder Ort und Gegenstand, ja jede Handlung
innerhalb des roemischen Rechtskreises kehren in der roemischen
Goetterwelt wieder; und wie der Bestand der irdischen Dinge flutet im
ewigen Kommen und Gehen, so schwankt auch mit ihm der Goetterkreis. Der
Schutzgeist, der ueber der einzelnen Handlung waltet, dauert nicht
laenger als diese Handlung selbst, der Schutzgeist des einzelnen
Menschen lebt und stirbt mit dem Menschen; und nur insofern kommt auch
diesen Goetterwesen ewige Dauer zu, als aehnliche Handlungen und
gleichartige Menschen und damit auch gleichartige Geister immer aufs
neue sich erzeugen. Wie die roemischen ueber der roemischen, walten
ueber jeder auswaertigen Gemeinde deren eigene Gottheiten; wie schroff
auch der Buerger dem Nichtbuerger, der roemische dem fremden Gott
entgegentreten mag, so koennen fremde Menschen wie fremde Gottheiten
dennoch durch Gemeindebeschluss in Rom eingebuergert werden, und wenn
aus der eroberten Stadt die Buerger nach Rom uebersiedelten, wurden
auch wohl die Stadtgoetter eingeladen, in Rom eine neue Staette sich zu
bereiten.
Den urspruenglichen Goetterkreis, wie er in Rom vor jeder Beruehrung
mit den Griechen sich gestaltet hat, lernen wir kennen aus dem
Verzeichnis der oeffentlichen und benannten Festtage (feriae publicae)
der roemischen Gemeinde, das in dem Kalender derselben erhalten und
ohne Frage die aelteste aller aus dem roemischen Altertum auf uns
gekommenen Urkunden ist. Den Vorrang in demselben nehmen die Goetter
Jupiter und Mars nebst dem Doppelgaenger des letzteren, dem Quirinus,
ein. Dem Jupiter sind alle Vollmondstage (idus) heilig, ausserdem die
saemtlichen Weinfeste und verschiedene andere, spaeter noch zu
erwaehnende Tage; seinem Widerspiel, dem “boesen Jovis” (Vediovis), ist
der 21. Mai (agonalia) gewidmet. Dem Mars dagegen gehoert das Neujahr
des 1. Maerz und ueberhaupt das grosse Kriegerfest in diesem, von dem
Gotte selbst benannten Monat, das, eingeleitet durch das Pferderennen
(equirria) am 27. Februar, im Maerz selbst an den Tagen des
Schildschmiedens (equirria oeder Mamuralia, 14. Maerz), des
Waffentanzes auf der Dingstaette (quinquatrus, 19. Maerz) und der
Drommetenweihe (tubilustrium, 23. Maerz) seine Hochtage hatte. Wie,
wenn ein Krieg zu fuehren war, derselbe mit diesem Feste begann, so
folgte nach Beendigung des Feldzuges im Herbst wiederum eine Marsfeier,
das Fest der Waffenweihe (armilustrium, 19. Oktober). Dem zweiten Mars
endlich, dem Quirinus, war der 17. Februar (Quirinalia) eigen. Unter
den uebrigen Festtagen nehmen die auf den Acker- und Weinbau
bezueglichen die erste Stelle ein, woneben die Hirtenfeste eine
untergeordnete Rolle spielen. Hierher gehoert vor allem die grosse
Reihe der Fruehlingsfeste im April, wo am 15. der Tellus, das ist der
naehrenden Erde (fordicidia, Opfer der traechtigen Kuh), und am 19. der
Ceres, das ist der Goettin des sprossenden Wachstums (Cerialia), dann
am 21. der befruchtenden Herdengoettin Pales (Parilia), am 23. dem
Jupiter als dem Schuetzer der Reben und der an diesem Tage zuerst sich
oeffnenden Faesser von der vorjaehrigen Lese (Vinalia), am 25. dem
boesen Feinde der Saaten, dem Roste (Robigus: Robigalia) Opfer
dargebracht werden. Ebenso wird nach vollendeter Arbeit und gluecklich
eingebrachtem Feldersegen dem Gott und der Goettin des Einbringens und
der Ernte, dem Consus (von condere) und der Ops ein Doppelfest
gefeiert: zunaechst unmittelbar nach vollbrachtem Schnitt (21. August,
Consualia; 25. August, Opiconsiva), sodann im Mittwinter, wo der Segen
der Speicher vor allem offenbar wird (15. Dezember, Consualia; 19.
Dezember, Opalia), zwischen welchen letzteren beiden Feiertagen die
sinnige Anschauung der alten Festordner das Fest der Aussaat
(Saturnalia von Saëturnus oder Saturnus, 17. Dezember), einschaltete.
Gleichermassen wird das Most- oder Heilefest (meditrinalia, 11.
Oktober), so benannt, weil man dem jungen Most heilende Kraft beilegte,
dem Jovis als dem Weingott nach vollendeter Lese dargebracht, waehrend
die urspruengliche Beziehung des dritten Weinfestes (Vinalia, 19.
August) nicht klar ist. Zu diesen Festen kommen weiter am Jahresschluss
das Wolfsfest (Lupercalia, 17. Februar) der Hirten zu Ehren des guten
Gottes, des Faunus, und das Grenzsteinfest (Terminalia, 23. Februar)
der Ackerbauer, ferner das zweitaegige sommerliche Hainfest (Lucaria,
19., 21. Juli) das den Waldgoettern (Silvani) gegolten haben mag, die
Quellfeier (Fontinalia, 13. Oktober) und das Fest des kuerzesten Tages,
der die neue Sonne herauffuehrt (An-geronalia, Divalia, 21. Dezember).
Von nicht geringer Bedeutung sind ferner, wie das fuer die Hafenstadt
Latiums sich nicht anders erwarten laesst, die Schifferfeste der
Gottheiten der See (Neptunalia, 23. Juli), des Hafens (Portunalia, 17.
August) und des Tiberstromes (Volturnalia, 27. August). Handwerk und
Kunst dagegen sind in diesem Goetterkreis nur vertreten durch den Gott
des Feuers und der Schmiedekunst, den Vulcanus, welchem ausser dem nach
seinem Namen benannten Tag (Volcanalia, 23. August) auch das zweite
Fest der Drommetenweihe (tubilustrium, 23. Mai) gewidmet ist, und
allenfalls noch durch das Fest der Carmentis (Carmentalia, 11., 15.
Januar), welche wohl urspruenglich als die Goettin der Zauberformel und
des Liedes und nur folgeweise als Schuetzerin der Geburten verehrt
ward.
Dem haeuslichen und Familienleben ueberhaupt galten das Fest der
Goettin des Hauses und der Geister der Vorratskammer, der Vesta und der
Penaten (Vestalia, 9. Juni); das Fest der Geburtsgoettin ^1 (Matralia,
11. Juni), das Fest des Kindersegens, dem Liber und der Libera gewidmet
(Liberalia, 17. Maerz), das Fest der abgeschiedenen Geister (Feralia,
21. Februar) und die dreitaegige Gespensterfeier (Lemuria, 9., 11., 13.
Mai), waehrend auf die buergerlichen Verhaeltnisse sich die beiden
uebrigens fuer uns nicht klaren Festtage der Koenigsflucht (Regifugium,
24. Februar) und der Volksflucht (Poplifugia, 5. Juli), von denen
wenigstens der letzte Tag dem Jupiter zugeeignet war, und das Fest der
sieben Berge (Agonia oder Septimontium, 11. Dezember) bezogen. Auch dem
Gott des Anfangs, dem Janus, war ein eigener Tag (agonia, 9. Januar)
gewidmet. Einige andere Tage, der der Furrina (25. Juli) und der dem
Jupiter und der Acca Larentia gewidmete der Larentalien, vielleicht ein
Larenfest (23. Dezember), sind ihrem Wesen nach verschollen.
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^1 Das ist allem Anschein nach das urspruengliche Wesen der
“Morgenmutter” oder Mater matuta; wobei man sich wohl daran zu erinnern
hat, dass, wie die Vornamen Lucius und besonders Manius beweisen, die
Morgenstunde fuer die Geburt als glueckbringend galt. Zur See- und
Hafengoettin ist die Mater matuta wohl erst spaeter unter dem Einfluss
des Leukotheamythus geworden; schon dass die Goettin vorzugsweise von
den Frauen verehrt ward, spricht dagegen, sie urspruenglich als
Hafengoettin zu fassen.
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Diese Tafel ist vollstaendig fuer die unbeweglichen oeffentlichen
Feste; und wenn auch neben diesen stehenden Festtagen sicher seit
aeltester Zeit Wandel- und Gelegenheitsfeste vorgekommen sind, so
oeffnet doch diese Urkunde, in dem, was sie sagt, wie in dem, was sie
auslaesst, uns den Einblick in eine sonst fuer uns beinahe gaenzlich
verschollene Urzeit. Zwar die Vereinigung der altroemischen Gemeinde
und der Huegelroemer war bereits erfolgt, als diese Festtafel entstand,
da wir in ihr neben dem Mars den Quirinus finden; aber noch stand der
kapitolinische Tempel nicht, als sie aufgesetzt ward, denn es fehlen
Juno und Minerva; noch war das Dianaheiligtum auf dem Aventin nicht
errichtet; noch war den Griechen kein Kultbegriff entlehnt. Der
Mittelpunkt nicht bloss des roemischen, sondern ueberhaupt des
italischen Gottesdienstes in derjenigen Epoche, wo der Stamm noch sich
selber ueberlassen auf der Halbinsel hauste, war allen Spuren zufolge
der Gott Maurs oder Mars, der toetende Gott ^2, vorwiegend gedacht als
der speerschwingende, die Herde schirmende, den Feind niederwerfende
goettliche Vorfechter der Buergerschaft - natuerlich in der Art, dass
eine jede Gemeinde ihren eigenen Mars besass und ihn fuer den
staerksten und heiligsten unter allen achtete, demnach auch jeder zu
neuer Gemeindebegruendung auswandernde heilige Lenz unter dem Schutz
seines eigenen Mars zog. Dem Mars ist sowohl in der - sonst
goetterlosen - roemischen Monatstafel wie auch wahrscheinlich in den
saemtlichen uebrigen latinischen und sabellischen der erste Monat
geheiligt; unter den roemischen Eigennamen, die sonst ebenfalls keiner
Goetter gedenken, erscheinen Marcus, Mamercus, Mamurius seit uralter
Zeit in vorwiegendem Gebrauch; an den Mars und seinen heiligen Specht
knuepft sich die aelteste italische Weissagung; der Wolf, das heilige
Tier des Mars, ist auch das Wahrzeichen der roemischen Buergerschaft,
und was von heiligen Stammsagen die roemische Phantasie aufzubringen
vermocht hat, geht ausschliesslich zurueck auf den Gott Mars und seinen
Doppelgaenger, den Quirinus. In dem .Festverzeichnis nimmt allerdings
der Vater Diovis, eine reinere und mehr buergerliche als kriegerische
Widerspiegelung des Wesens der roemischen Gemeinde, einen groesseren
Raum ein als der Mars, ebenso wie der Priester des Jupiter an Rang den
beiden Priestern des Kriegsgottes vorgeht; aber eine sehr hervorragende
Rolle spielt doch auch der letztere in demselben, und es ist sogar ganz
glaublich, dass, als diese Festordnung festgestellt wurde, Jovis neben
Mars stand wie Ahuramazda neben Mithra und dass der wahrhafte
Mittelpunkt der Gottesverehrung in der streitbaren roemischen Gemeinde
auch damals noch der kriegerische Todesgott und dessen Maerzfest war,
wogegen gleichzeitig nicht der durch die Griechen spaeter eingefuehrte
“Sorgenbrecher”, sondern der Vater Jovis selbst als der Gott galt des
herzerfreuenden Weines.
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^2 Aus Maurs, was die aelteste ueberlieferte Form ist, entwickeln sich
durch verschiedene Behandlung des u Mars, Mavors, mors; der Uebergang
in ŏ (aehnlich wie Paula, Pola und dergleichen mehr) erscheint auch in
der Doppelform Mar-Mor (vgl. Ma-mŭrius) neben Mar-Mar und Ma-Mers.
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Es ist nicht die Aufgabe dieser Darstellung, die roemischen Gottheiten
im einzelnen zu betrachten; aber wohl ist es auch geschichtlich
wichtig, ihren eigentuemlichen, zugleich niedrigen und innigen
Charakter hervorzuheben. Abstraktion und Personifikation sind das Wesen
der roemischen wie der hellenischen Goetterlehre; auch der hellenische
Gott ruht auf einer Naturerscheinung oder einem Begriff, und dass dem
Roemer eben wie dem Griechen jede Gottheit als Person erscheint, dafuer
zeugt die Auffassung der einzelnen als maennlicher oder weiblicher und
die Anrufung an die unbekannte Gottheit: “bist du Gott oder Goettin,
Mann oder auch Weib”; dafuer der tiefhaftende Glaube, dass der Name des
eigentlichen Schutzgeistes der Gemeinde unausgesprochen bleiben muesse,
damit nicht ein Feind ihn erfahre und, den Gott bei seinem Namen
rufend, ihn ueber die Grenzen hinueberlocke. Ein Ueberrest dieser
maechtig sinnlichen Auffassung haftet namentlich der aeltesten und
nationalsten italischen Goettergestalt, dem Mars, an. Aber wenn die
Abstraktion, die jeder Religion zu Grunde liegt, anderswo zu weiten und
immer weiteren Konzeptionen sich zu erheben, tief und immer tiefer in
das Wesen der Dinge einzudringen versucht, so verhalten sich die
roemischen Glaubensbilder auf einer unglaublich niedrigen Stufe des
Anschauens und des Begreifens. Wenn dem Griechen jedes bedeutsame Motiv
sich rasch zur Gestaltengruppe, zum Sagen- und Ideenkreis erweitert, so
bleibt dem Roemer der Grundgedanke in seiner urspruenglichen nackten
Starrheit stehen. Der apollinischen Religion irdisch sittlicher
Verklaerung, dem goettlichen dionysischen Rausche, den tiefsinnigen und
geheimnisvollen chthonischen und Mysterienkulten hat die roemische
Religion nichts auch nur entfernt aehnliches entgegenzustellen, das ihr
eigentuemlich waere. Sie weiss wohl auch von einem “schlimmen Gott”
(Ve-diovis), von Erscheinungen und Gespenstern (lemures), spaeterhin
auch von Gottheiten der boesen Luft, des Fiebers, der Krankheiten,
vielleicht sogar des Diebstahls (laverna); aber den geheimnisvollen
Schauer, nach dem das Menschenherz doch auch sich sehnt, vermag sie
nicht zu erregen, nicht sich zu durchdringen mit dem Unbegreiflichen
und selbst dem Boesartigen in der Natur und dem Menschen, welches der
Religion nicht fehlen darf, wenn der ganze Mensch in ihr aufgehen soll.
Es gab in der roemischen Religion kaum etwas Geheimes als etwa die
Namen der Stadtgoetter, der Penaten; das Wesen uebrigens auch dieser
Goetter war jedem offenbar.
Die nationalroemische Theologie sucht nach allen Seiten hin die
wichtigen Erscheinungen und Eigenschaften begreiflich zu fassen, sie
terminologisch auszupraegen und schematisch - zunaechst nach der auch
dem Privatrecht zu Grunde liegenden Einteilung von Personen und Sachen
- zu klassifizieren, um darnach die Goetter und Goetterreihen selber
richtig anzurufen und ihre richtige Anrufung der Menge zu weisen
(indigitare). In solchen aeusserlich abgezogenen Begriffen von der
einfaeltigsten, halb ehrwuerdigen, halb laecherlichen Schlichtheit ging
die roemische Theologie wesentlich auf; Vorstellungen wie Saat
(saëturnus) und Feldarbeit (ops), Erdboden (tellus) und Grenzstein
(terminus) gehoeren zu den aeltesten und heiligsten roemischen
Gottheiten. Vielleicht die eigentuemlichste unter allen roemischen
Goettergestalten und wohl die einzige, fuer die ein eigentuemlich
italisches Kultbild erfunden ward, ist der doppelkoepfige Janus; und
doch liegt in ihm eben nichts als die fuer die aengstliche roemische
Religiositaet bezeichnende Idee, dass zur Eroeffnung eines jeden Tuns
zunaechst der “Geist der Eroeffnung” anzurufen sei, und vor allem das
tiefe Gefuehl davon, dass es ebenso unerlaesslich war, die roemischen
Goetterbegriffe in Reihen zusammenzufuegen, wie die persoenlicheren
Goetter der Hellenen notwendig jeder fuer sich standen ^3. Vielleicht
der innigste unter allen roemischen ist der Kult der in und ueber dem
Hause und der Kammer waltenden Schutzgeister, im oeffentlichen
Gottesdienst der der Vesta und der Penaten, im Familienkult der der
Wald- und Flurgoetter, der Silvane und vor allem der eigentlichen
Hausgoetter, der Lasen oder Laren, denen regelmaessig von der
Familienmahlzeit ihr Teil gegeben ward, und vor denen seine Andacht zu
verrichten noch zu des aelteren Cato Zeit des heimkehrenden Hausvaters
erstes Geschaeft war. Aber in der Rangordnung der Goetter nahmen diese
Haus- und Feldgeister eher den letzten als den ersten Platz ein; es
war, wie es bei einer auf Idealisierung verzichtenden Religion nicht
anders sein konnte, nicht die weiteste und allgemeinste, sondern die
einfachste und individuellste Abstraktion, in der das fromme Herz die
meiste Nahrung fand.
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^3 Dass Tor und Tuere und der Morgen (ianus matutinus) dem Janus heilig
ist und er stets vor jedem anderen Gott angerufen ja selbst in der
Muenzreihe noch vor dem Jupiter und den anderen Goettern aufgefuehrt
wird, bezeichnet ihn unverkennbar als die Abstraktion der Oeffnung und
Eroeffnung. Auch der nach zwei Seiten schauende Doppelkopf haengt mit
dem nach zwei Seiten hin sich oeffnenden Tore zusammen. Einen Sonnen-
und Jahresgott darf man um so weniger aus ihm machen, als der von ihm
benannte Monat urspruenglich der elfte, nicht der erste ist; vielmehr
scheint dieser Monat seinen Namen davon zu fuehren, dass in dieser Zeit
nach der Rast des Mittwinters der Kreislauf der Feldarbeiten wieder von
vorn beginnt. Dass uebrigens, namentlich seit der Januarius an der
Spitze des Jahres stand, auch die Eroeffnung des Jahres in den Bereich
des Janus hineingezogen ward, versteht sich von selbst.
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Hand in Hand mit dieser Geringhaltigkeit der idealen Elemente ging die
praktische und utilitarische Tendenz der roemischen Religion, wie sie
in der oben eroerterten Festtafel deutlich genug sich darlegt.
Vermoegensmehrung und Guetersegen durch Feldbau und Herdengewinn, durch
Schiffahrt und Handel - das ist es, was der Roemer von seinen Goettern
begehrt; es stimmt dazu recht wohl, dass der Gott des Worthaltens (deus
fidius), die Zufalls- und Gluecksgoettin (fors fortuna) und der
Handelsgott (mercurius), alle aus dem taeglichen Verkehr
hervorgegangen, zwar noch nicht in jener uralten Festtafel, aber doch
schon sehr frueh weit und breit von den Roemern verehrt auftreten.
Strenge Wirtschaftlichkeit und kaufmaennische Spekulation waren zu tief
im roemischen Wesen begruendet, um nicht auch dessen goettliches Abbild
bis in den innersten Kern zu durchdringen.
Von der Geisterwelt ist wenig zu sagen. Die abgeschiedenen Seelen der
sterblichen Menschen, die “Guten” (manes) lebten schattenhaft weiter,
gebannt an den Ort, wo der Koerper ruhte (dii inferi), und nahmen von
den Ueberlebenden Speise und Trank. Allein sie hausten in den Raeumen
der Tiefe und keine Bruecke fuehrte aus der unteren Welt weder zu den
auf der Erde waltenden Menschen noch empor zu den oberen Goettern. Der
griechische Heroenkult ist den Roemern voellig fremd und wie jung und
schlecht die Gruendungssage von Rom erfunden ist, zeigt schon die ganz
unroemische Verwandlung des Koenigs Romulus in den Gott Quirinus. Numa,
der aelteste und ehrwuerdigste Name in der roemischen Sage, ist in Rom
nie als Gott verehrt worden wie Theseus in Athen.
Die aeltesten Gemeindepriestertuemer beziehen sich auf den Mars: vor
allem auf Lebenszeit ernannte Priester des Gemeindegottes, der “Zuender
des Mars” (flamen Martialis), wie er vom Darbringen der Brandopfer
benannt ward, und die zwoelf “Springer” (salii), eine Schar junger
Leute, die im Maerz den Waffentanz zu Ehren des Mars auffuehrten und
dazu sangen. Dass die Verschmelzung der Huegelgemeinde mit der
palatinischen die Verdoppelung des roemischen Mars und damit die
Einfuehrung eines zweiten Marspriesters - des flamen Quirinalis - und
einer zweiten Taenzergilde - der salii collini - herbeifuehrte, ist
bereits frueher auseinandergesetzt worden.
Hierzu kamen andere oeffentliche, zum Teil wohl ihrem Ursprung nach
weit ueber Roms Entstehung hinaufreichende Verehrungen, fuer welche
entweder Einzelpriester angestellt waren -solche gab es zum Beispiel
der Carmentis, des Volcanus, des Hafen- und des Flussgottes - oder
deren Begehung einzelnen Genossenschaften oder Geschlechtern im Namen
des Volkes uebertragen war. Eine derartige Genossenschaft war
vermutlich die der zwoelf “Ackerbrueder” (fratres arvales), welche die
“schaffende Goettin” (dea dia) im Mai anriefen fuer das Gedeihen der
Saaten; obwohl es sehr zweifelhaft ist, ob dieselbe bereits in dieser
Epoche dasjenige besondere Ansehen genoss, welches wir ihr in der
Kaiserzeit beigelegt finden. Ihnen schloss die titische Bruederschaft
sich an, die den Sonderkult der roemischen Sabiner zu bewahren und zu
besorgen hatte, sowie die fuer die Herde der dreissig Kurien
eingesetzten dreissig Kurienzuender (flamines curiales). Das schon
erwaehnte “Wolfsfest” (lupercalia) wurde fuer die Beschirmung der
Herden dem “guenstigen Gotte” (faunus) von dem Quinctiergeschlecht und
den nach dem Zutritt der Huegelroemer ihnen zugegebenen Fabiern im
Monat Februar gefeiert - ein rechtes Hirtenkarneval, bei dem die
“Woelfe” (luperci) nackt mit dem Bocksfell umguertet herumsprangen und
wen sie trafen mit Riemen klatschten. Ebenso mag noch bei andern
gentilizischen Kulten zugleich die Gemeinde gedacht sein als
mitvertreten.
Zu diesem aeltesten Gottesdienst der roemischen Gemeinde traten
allmaehlich neue Verehrungen hinzu. Die wichtigste darunter ist
diejenige, welche auf die neu geeinigte und durch den grossen Mauer-
und Burgbau gleichsam zum zweitenmal gegruendete Stadt sich bezieht: in
ihr tritt der hoechste beste Jovis vom Burghuegel, das ist der Genius
des roemischen Volkes, an die Spitze der gesamten roemischen
Goetterschaft, und sein fortan bestellter Zuender, der Flamen Dialis,
bildet mit den beiden Marspriestern die heilige oberpriesterliche
Dreiheit. Gleichzeitig beginnt der Kultus des neuen einigen Stadtherdes
- der Vesta - und der dazu gehoerige der Gemeindepenaten. Sechs keusche
Jungfrauen versahen, gleichsam als die Haustoechter des roemischen
Volkes, jenen frommen Dienst und hatten das heilsame Feuer des
Gemeindeherdes den Buergern zum Beispiel und zum Wahrzeichen stets
lodernd zu unterhalten. Es war dieser haeuslich-oeffentliche
Gottesdienst der heiligste aller roemischen, wie er denn auch von allem
Heidentum am spaetesten in Rom der christlichen Verfemung gewichen ist.
Ferner wurde der Aventin der Diana angewiesen als der Repraesentantin
der latinischen Eidgenossenschaft, aber eben darum eine besondere
roemische Priesterschaft fuer sie nicht bestellt; und zahlreichen
anderen Goetterbegriffen gewoehnte allmaehlich die Gemeinde sich in
bestimmter Weise durch allgemeine Feier oder durch besonders zu ihrem
Dienst bestimmte stellvertretende Priesterschaften zu huldigen, wobei
sie einzelnen - zum Beispiel der Blumen (Flora) und der Obstgoettin
(Pomona) - auch wohl einen eigenen Zuender bestellte, sodass deren
zuletzt fuenfzehn gezaehlt wurden. Aber sorgfaeltig unterschied man
unter ihnen jene drei “grossen Zuender” (flamines maiores), die bis in
die spaeteste Zeit nur aus den Altbuergern genommen werden konnten,
ebenso wie die alten Genossenschaften der palatinischen und
quirinalischen Salier stets den Vorrang vor allen uebrigen
Priesterkollegien behaupteten. Also wurden die notwendigen und
stehenden Leistungen an die Goetter der Gemeinde bestimmten
Genossenschaften oder staendigen Dienern vom Staat ein fuer allemal
uebertragen und zur Deckung der vermutlich nicht unbetraechtlichen
Opferkosten teils den einzelnen Tempeln gewisse Laendereien, teils die
Bussen angewiesen.
Dass der oeffentliche Kult der uebrigen latinischen und vermutlich auch
der sabellischen Gemeinden im wesentlichen gleichartig war, ist nicht
zu bezweifeln; nachweislich sind die Flamines, Sauer, Luperker und
Vestalinnen nicht spezifisch roemische, sondern allgemein latinische
Institutionen gewesen und wenigstens die drei ersten Kollegien scheinen
in den stammverwandten Gemeinden nicht erst nach roemischem Muster
gebildet zu sein.
Endlich kann, wie der Staat fuer den Goetterkreis des Staats, so auch
der einzelne Buerger innerhalb seines individuellen Kreises aehnliche
Anordnungen treffen und seinen Goettern nicht bloss Opfer darbringen,
sondern auch Staetten und Diener ihnen weihen.
Also gab es Priestertum und Priester in Rom genug; indes wer ein
Anliegen an den Gott hat, wendet sich nicht an den Priester, sondern an
den Gott. Jeder Flehende und Fragende redet selber zu der Gottheit, die
Gemeinde natuerlich durch den Mund des Koenigs wie die Kurie durch den
Curio und die Ritterschaft durch ihre Obristen; und keine priesterliche
Vermittlung durfte das urspruengliche und einfache Verhaeltnis
verdecken oder verdunkeln. Allein es ist freilich nicht leicht, mit dem
Gotte zu verkehren. Der Gott hat seine eigene Weise zu sprechen, die
nur dem kundigen Manne verstaendlich ist; wer es aber recht versteht,
der weiss den Willen des Gottes nicht bloss zu ermitteln, sondern auch
zu lenken, sogar im Notfall ihn zu ueberlisten oder zu zwingen. Darum
ist es natuerlich, dass der Verehrer des Gottes regelmaessig kundige
Leute zuzieht und deren Rat vernimmt; und hieraus sind die religioesen
Sachverstaendigenvereine hervorgegangen, eine durchaus
national-italische Institution, die auf die politische Entwicklung weit
bedeutender eingewirkt hat als die Einzelpriester und die
Priesterschaften. Mit diesen sind sie oft verwechselt worden, allein
mit Unrecht. Den Priesterschaften liegt die Verehrung einer bestimmten
Gottheit ob, diesen Genossenschaften aber die Bewahrung der Tradition
fuer diejenigen allgemeineren gottesdienstlichen Verrichtungen, deren
richtige Vollziehung eine gewisse Kunde voraussetzte und fuer deren
treue Ueberlieferung zu sorgen im Interesse des Staates lag. Diese
geschlossenen und sich selbst, natuerlich aus den Buergern,
ergaenzenden Genossenschaften sind dadurch die Depositare der
Kunstfertigkeiten und Wissenschaften geworden. In der roemischen und
ueberhaupt der latinischen Gemeindeverfassung gibt es solcher Kollegien
urspruenglich nur zwei: das der Augurn und das der Pontifices ^4. Die
sechs “Voegelfuehrer” (augures) verstanden die Sprache der Goetter aus
dem Flug der Voegel zu deuten, welche Auslegungskunst sehr ernstlich
betrieben und in ein gleichsam wissenschaftliches System gebracht ward.
Die sechs “Brueckenbauer” (pontifices) fuehrten ihren Namen von dem
ebenso heiligen wie politisch wichtigen Geschaeft, den Bau und das
Abbrechen der Tiberbruecke zu leiten. Es waren die roemischen
Ingenieure, die das Geheimnis der Masse und Zahlen verstanden; woher
ihnen auch die Pflicht zukam, den Kalender des Staats zu fuehren, dem
Volke Neu- und Vollmond und die Festtage abzurufen und dafuer zu
sorgen, dass jede gottesdienstliche wie jede Gerichtshandlung am
rechten Tage vor sich gehe. Da sie also vor allen andern den Ueberblick
ueber den ganzen Gottesdienst hatten, ging auch, wo es noetig war, bei
Ehe, Testament und Arrogation an sie die Vorfrage, ob das beabsichtigte
Geschaeft nicht gegen das goettliche Recht irgendwie verstosse, und
ging von ihnen die Feststellung und Bekanntmachung der allgemeinen
exoterischen Sakralvorschriften aus, die unter dem Namen der
Koenigsgesetze bekannt sind. So gewannen sie, wenn auch in voller
Ausdehnung vermutlich erst nach Abschaffung des Koenigtums, die
allgemeine Oberaufsicht ueber den roemischen Gottesdienst und was damit
zusammenhing - und was hing nicht damit zusammen? Sie selbst
bezeichneten als den Inbegriff ihres Wissens “die Kunde goettlicher und
menschlicher Dinge”. In der Tat sind die Anfaenge der geistlichen und
weltlichen Rechtswissenschaft wie die der Geschichtsaufzeichnung aus
dem Schoss dieser Genossenschaft hervorgegangen. Denn wie alle
Geschichtsschreibung an den Kalender und das Jahrzeitbuch anknuepft,
musste auch die Kunde des Prozesses und der Rechtssaetze, da nach der
Errichtung der roemischen Gerichte in diesen selbst die Ueberlieferung
nicht entstehen konnte, in dem Kollegium der Pontifices traditionell
werden, das ueber Gerichtstage und religioese Rechtsfragen ein
Gutachten zu geben allein kompetent war.
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^4 Am deutlichsten zeigt sich dies darin, dass in den nach dem
latinischen Schema geordneten Gemeinden Augurn und Pontifices ueberall
vorkommen (z. B. Cic. leg. agr. 2, 35, 96 und zahlreiche Inschriften),
ebenso der pater patratus der Fetialen in Laurentum (Orelli 2276), die
uebrigen Kollegien aber nicht. Jene also stehen auf einer Linie mit der
Zehnkurienverfassung, den Flamines, Saliern, Luperkern als aeltestes
latinisches Stammgut; wogegen die Duovirn sacris faciundis und die
anderen Kollegien, wie die dreissig Kurien und die Servianischen Tribus
und Zenturien, in Rom entstanden und darum auch auf Rom beschraenkt
geblieben sind. Nur der Name des zweiten Kollegiums, der Pontifices,
ist wohl entweder durch roemischen Einfluss in das allgemein latinische
Schema anstatt aelterer, vielleicht mannigfaltiger Namen eingedrungen,
oder es bedeutete urspruenglich, was sprachlich manches fuer sich hat,
pons nicht Bruecke, sondern Weg ueberhaupt, pontifex also den
Wegebauer.
Die Angaben ueber die urspruengliche Zahl namentlich der Augurn
schwanken. Dass die Zahl derselben ungerade sein musste, widerlegt
Cicero (leg. agr. 2, 35, 96); und auch Livius (10, 6) sagt wohl nicht
dies, sondern nur, dass die Zahl der roemischen Augurn durch drei
teilbar sein und insofern auf eine ungerade Grundzahl zurueckgehen
muesse. Nach Livius (a.a.O.) war die Zahl bis zum Ogulnischen Gesetz
sechs, und eben das sagt wohl auch Cicero (rep. 2, 9 14), indem er
Romulus vier, Numa zwei Augurstellen einrichten laesst. Ueber die Zahl
der Pontifices vgl. Roemisches Staatsrecht, Bd. 2, S. 20.
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Gewissermassen laesst diesen beiden aeltesten und ansehnlichsten
Genossenschaften geistlicher Sachverstaendigen das Kollegium der
zwanzig Staatsboten (fētiales, ungewisser Ableitung) sich anreihen,
bestimmt als lebendiges Archiv das Andenken an die Vertraege mit den
benachbarten Gemeinden durch Ueberlieferung zu bewahren, ueber
angebliche Verletzungen des vertragenen Rechts gutachtlich zu
entscheiden und noetigenfalls den Suehneversuch und die
Kriegserklaerung zu bewirken. Sie waren durchaus fuer das Voelkerrecht,
was die Pontifices fuer das Goetterrecht, und hatten daher auch wie
diese die Befugnis, Recht zwar nicht zu sprechen, aber doch zu weisen.
Aber wie hochansehnlich immer diese Genossenschaften waren und wie
wichtige und umfassende Befugnisse sie zugeteilt erhielten, nie vergass
man, und am wenigsten bei den am hoechsten gestellten, dass sie nicht
zu befehlen, sondern sachverstaendigen Rat zu erteilen, die Antwort der
Goetter nicht unmittelbar zu erbitten, sondern die erteilte dem Frager
auszulegen hatten. So steht auch der vornehmste Priester nicht bloss im
Rang dem Koenig nach, sondern er darf ungefragt nicht einmal ihn
beraten. Dem Koenig steht es zu, zu bestimmen, ob und wann er die
Voegel beobachten will; der Vogelschauer steht nur dabei und
verdolmetscht ihm, wenn es noetig ist, die Sprache der Himmelsboten.
Ebenso kann der Fetialis und der Pontifex in das Staats- und das
Landrecht nicht anders eingreifen als wenn die Beikommenden es von ihm
begehren, und mit unerbittlicher Strenge hat man trotz aller
Froemmigkeit festgehalten an dem Grundsatz, dass in dem Staat der
Priester in vollkommener Machtlosigkeit zu verbleiben und, von allen
Befehlen ausgeschlossen, gleich jedem anderen Buerger dem geringsten
Beamten Gehorsam zu leisten hat. Die latinische Gottesverehrung beruht
wesentlich auf dem Behagen des Menschen am Irdischen und nur in
untergeordneter Weise auf der Furcht vor den wilden Naturkraeften; sie
bewegt sich darum auch vorwiegend in Aeusserungen der Freude, in
Liedern und Gesaengen, in Spielen und Taenzen, vor allem aber in
Schmaeusen. Wie ueberall bei den ackerbauenden, regelmaessig von
Vegetabilien sich naehrenden Voelkerschaften war auch in Italien das
Viehschlachten zugleich Hausfest und Gottesdienst; das Schwein ist den
Goettern das wohlgefaelligste Opfer nur darum, weil es der gewoehnliche
Festbraten ist. Aber alle Verschwendung wie alle Ueberschwenglichkeit
des Jubels ist dem gehaltenen roemischen Wesen zuwider. Die Sparsamkeit
gegen die Goetter ist einer der hervortretendsten Zuege des aeltesten
latinischen Kultes; und auch das freie Walten der Phantasie wird durch
die sittliche Zucht, in der die Nation sich selber haelt, mit eiserner
Strenge niedergedrueckt. Infolgedessen sind die Auswuechse, die von
solcher Masslosigkeit unzertrennlich sind, den Latinern ferngeblieben.
Wohl liegt der tief sittliche Zug des Menschen, irdische Schuld und
irdische Strafe auf die Goetterwelt zu beziehen und jene als ein
Verbrechen gegen die Gottheit, diese als deren Suehnung aufzufassen, im
innersten Wesen auch der latinischen Religion. Die Hinrichtung des zum
Tode verurteilten Verbrechers ist ebenso ein der Gottheit dargebrachtes
Suehnopfer wie die im gerechten Krieg vollzogene Toetung des Feindes;
der naechtliche Dieb der Feldfruechte buesst der Ceres am Galgen wie
der boese Feind auf dem Schlachtfeld der Mutter Erde und den guten
Geistern. Auch der tiefe und furchtbare Gedanke der Stellvertretung
begegnet hierbei: wenn die Goetter der Gemeinde zuernen, ohne dass auf
einen bestimmten Schuldigen gegriffen werden kann, so mag sie
versoehnen, wer sich freiwillig hingibt (devovere se), wie denn giftige
Erdspalten sich schliessen, halbverlorene Schlachten sich in Siege
wandeln, wenn ein braver Buerger sich als Suehnopfer in den Schlund
oder in die Feinde stuerzt. Auf aehnlicher Anschauung beruht der
heilige Lenz, indem den Goettern dargebracht wird, was der bestimmte
Zeitraum an Vieh und Menschen geboren werden laesst. Will man dies
Menschenopfer nennen, so gehoert solches freilich zum Kern des
latinischen Glaubens; aber man muss hinzufuegen, dass, soweit unser
Blick in die Ferne irgend zuruecktraegt, diese Opferung, insofern sie
das Leben fordert, sich beschraenkt auf den Schuldigen, der vor dem
buergerlichen Gericht ueberwiesen ist, und den Unschuldigen, der
freiwillig den Tod waehlt. Menschenopfer anderer Art laufen dem
Grundgedanken der Opferhandlung zuwider und beruhen wenigstens bei den
indogermanischen Staemmen ueberall, wo sie vorkommen, auf spaeterer
Ausartung und Verwilderung. Bei den Roemern haben sie nie Eingang
gefunden; kaum dass einmal in Zeiten hoechster Not auch hier Aberglaube
und Verzweiflung ausserordentlicherweise im Greuel Rettung suchten. Von
Gespensterglauben, Zauberfurcht und Mysterienwesen finden sich bei den
Roemern verhaeltnismaessig sehr geringe Spuren. Das Orakel- und
Prophetentum hat in Italien niemals die Bedeutung erlangt wie in
Griechenland und nie vermocht, das private und oeffentliche Leben
ernstlich zu beherrschen. Aber auf der andern Seite ist dafuer auch die
latinische Religion in eine unglaubliche Nuechternheit und Trockenheit
verfallen und frueh eingegangen auf einen peinlichen und geistlosen
Zeremonialdienst. Der Gott des Italikers ist, wie schon gesagt ward,
vor allen Dingen ein Hilfsinstrument zur Erreichung sehr konkreter
irdischer Zwecke; wie denn den religioesen Anschauungen des Italikers
durch seine Richtung auf das Fassliche und Reelle diese Wendung
ueberhaupt gegeben wird und nicht minder scharf noch in dem heutigen
Heiligenkult der Italiener hervortritt. Die Goetter stehen dem Menschen
voellig gegenueber wie der Glaeubiger dem Schuldner; jeder von ihnen
hat ein wohlerworbenes Recht auf gewisse Verrichtungen und Leistungen,
und da die Zahl der Goetter so gross war wie die Zahl der Momente des
irdischen Lebens und die Vernachlaessigung oder verkehrte Verehrung
eines jeden Gottes in dem entsprechenden Moment sich raechte, so war es
eine muehsame und bedenkliche Aufgabe, seiner religioesen
Verpflichtungen auch nur sich bewusst zu werden, und so mussten wohl
die des goettlichen Rechtes kundigen und dasselbe weisenden Priester,
die Pontifices, zu ungemeinem Einfluss gelangen. Denn der rechtliche
Mann erfuellt die Vorschriften des heiligen Rituals mit derselben
kaufmaennischen Puenktlichkeit, womit er seinen irdischen
Verpflichtungen nachkommt und tut auch wohl ein Uebriges, wenn der Gott
es seinerseits getan hat. Auch auf Spekulation laesst man mit dem Gotte
sich ein: das Geluebde ist der Sache wie dem Namen nach ein foermlicher
Kontrakt zwischen dem Gotte und dem Menschen, wodurch dieser jenem fuer
eine gewisse Leitung eine gewisse Gegenleistung zusichert, und der
roemische Rechtssatz, dass kein Kontrakt durch Stellvertretung
abgeschlossen werden kann, ist nicht der letzte Grund, weshalb in
Latium bei den religioesen Anliegen der Menschen alle
Priestervermittlung ausgeschlossen blieb. Ja wie der roemische
Kaufmann, seiner konventionellen Rechtlichkeit unbeschadet, den Vertrag
bloss dem Buchstaben nach zu erfuellen befugt ist, so ward auch, wie
die roemischen Theologen lehren, im Verkehr mit den Goettern das Abbild
statt der Sache gegeben und genommen. Dem Herrn des Himmelsgewoelbes
brachte man Zwiebel- und Mohnkoepfe dar, um auf deren statt auf der
Menschen Haeupter seine Blitze zu lenken; dem Vater Tiberis wurden zur
Loesung der jaehrlich von ihm erheischten Opfer jaehrlich dreissig von
Binsen geflochtene Puppen in die Wellen geworfen ^5. Die Ideen
goettlicher Gnade und Versoehnbarkeit sind hier ununterscheidbar
gemischt mit der frommen Schlauigkeit, welche es versucht, den
gefaehrlichen Herrn durch scheinhafte Befriedigung zu beruecken und
abzufinden. So ist die roemische Gottesfurcht wohl von gewaltiger Macht
ueber die Gemueter der Menge, aber keineswegs jenes Bangen vor der
allwaltenden Natur oder der allmaechtigen Gottheit, das den
pantheistischen und monotheistischen Anschauungen zu Grunde liegt,
sondern sehr irdischer Art und kaum wesentlich verschieden von
demjenigen Zagen, mit dem der roemische Schuldner seinem gerechten,
aber sehr genauen und sehr maechtigen Glaeubiger sich naht. Es ist
einleuchtend, dass eine solche Religion die kuenstlerische und die
spekulative Auffassung viel mehr zu erdruecken als zu zeitigen geeignet
war. Indem der Grieche die naiven Gedanken der Urzeit mit menschlichem
Fleisch und Blut umhuellte, wurden diese Goetterideen nicht bloss die
Elemente der bildenden und der dichtenden Kunst, sondern sie erlangten
auch die Universalitaet und die Elastizitaet, welche die tiefste
Eigentuemlichkeit der Menschennatur und eben darum der Kern aller
Weltreligion ist. Durch sie konnte die einfache Naturanschauung zu
kosmogonischen, der schlichte Moralbegriff zu allgemein humanistischen
Anschauungen sich vertiefen; und lange Zeit hindurch vermochte die
griechische Religion die physischen und metaphysischen Vorstellungen,
die ganze ideale Entwicklung der Nation in sich zu fassen und mit dem
wachsenden Inhalt in Tiefe und Weite sich auszudehnen, bevor die
Phantasie und die Spekulation das Gefaess, das sie gehegt hatte,
zersprengten. Aber in Latium blieb die Verkoerperung der
Gottheitsbegriffe so vollkommen durchsichtig, dass weder der Kuenstler
noch der Dichter daran sich heranzubilden vermochte und die latinische
Religion der Kunst stets fremd, ja feindlich gegenueberstand. Da der
Gott nichts war und nichts sein durfte als die Vergeistigung einer
irdischen Erscheinung, so fand er eben in diesem irdischen Gegenbild
seine Staette (templum) und sein Abbild; Waende und Idole, von
Menschenhand gemacht, schienen die geistigen Vorstellungen nur zu
trueben und zu befangen. Darum war der urspruengliche roemische
Gottesdienst ohne Gottesbilder und Gotteshaeuser; und wenngleich auch
in Latium, vermutlich nach griechischem Vorbild, schon in frueher Zeit
der Gott im Bilde verehrt und ihm ein Haeuschen (aedicula) gebaut ward,
so galt doch diese bildliche Darstellung als den Gesetzen Numas
zuwiderlaufend und ueberhaupt als unrein und fremdlaendisch. Mit
Ausnahme etwa des doppelkoepfigen Janus hat die roemische Religion kein
ihr eigentuemliches Goetterbild aufzuweisen und noch Varro spottete
ueber die nach Puppen und Bilderchen verlangende Menge. Der Mangel
aller zeugenden Kraft in der roemischen Religion ist gleichfalls die
letzte Ursache, warum die roemische Poesie und noch mehr die roemische
Spekulation so vollstaendig nicht waren und blieben.
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^5 Hierin konnte nur unueberlegte Auffassung Ueberreste alter
Menschenopfer finden.
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Aber auch auf dem praktischen Gebiet offenbart sich derselbe
Unterschied. Der praktische Gewinn, welcher der roemischen Gemeinde aus
ihrer Religion erwuchs, war ein von den Priestern, namentlich den
Pontifices entwickeltes, formuliertes Moralgesetz, welches teils in
dieser - der polizeilichen Bevormundung des Buergers durch den Staat
noch fernstehenden - Zeit die Stelle der Polizeiordnung vertrat, teils
die sittlichen Verpflichtungen vor das Gericht der Goetter zog und sie
mit goettlicher Strafe belegte. Zu den Bestimmungen der ersteren Art
gehoerte ausser der religioesen Einschaerfung der Heiligung des
Feiertags und eines kunstmaessigen Acker- und Rebenbaus, die wir unten
kennenlernen werden, zum Beispiel der auch mit gesundheitspolizeilichen
Ruecksichten zusammenhaengende Herd- oder Larenkult und vor allem die
bei den Roemern ungemein frueh, weit frueher als bei den Griechen,
durchgefuehrte Leichenverbrennung, welche eine rationelle Auffassung
des Lebens und Sterbens voraussetzt, wie sie der Urzeit und selbst
unserer Gegenwart noch fremd ist. Man wird es nicht gering anschlagen
duerfen, dass die latinische Landesreligion diese und aehnliche
Neuerungen durchzusetzen vermocht hat. Wichtiger aber noch war ihre
sittlichende Wirkung. Wenn der Mann die Ehefrau, der Vater den
verheirateten Sohn verkaufte; wenn das Kind oder die Schnur den Vater
oder den Schwiegervater schlug; wenn der Schutzvater gegen den Gast
oder den zugewandten Mann die Treupflicht verletzte; wenn der
ungerechte Nachbar den Grenzstein verrueckte oder der Dieb sich bei
naechtlicher Weile an der dem Gemeinfrieden anvertrauten Halmfrucht
vergriff, so lastete fortan der goettliche Fluch auf dem Haupt des
Frevlers. Nicht als waere der also Verwuenschte (sacer) vogelfrei
gewesen; eine solche, aller buergerlichen Ordnung zuwiderlaufende Acht
ist nur ausnahmsweise als Schaerfung des religioesen Bannfluchs in Rom
waehrend des staendischen Haders vorgekommen. Nicht dem einzelnen
Buerger oder gar dem voellig machtlosen Priester kommt die
Vollstreckung solchen goettlichen Fluches zu. Zunaechst ist der also
Gebannte dem goettlichen Strafgericht anheim gefallen, nicht der
menschlichen Willkuer, und schon der fromme Volksglaube, auf dem dieser
Bannfluch fusst, wird selbst ueber leichtsinnige und boesartige Naturen
Macht gehabt haben. Aber die Bannung beschraenkt darauf sich nicht;
vielmehr ist der Koenig befugt und verpflichtet, den Bann zu
vollstrecken und, nachdem die Tatsache, auf welche das Recht die
Bannung setzt, nach seiner gewissenhaften Ueberzeugung festgestellt
worden ist, den Gebannten der verletzten Gottheit gleichwie ein
Opfertier zu schlachten (supplicium) und also die Gemeinde von dem
Verbrechen des einzelnen zu reinigen. Ist das Vergehen geringerer Art,
so tritt an die Stelle der Toetung des Schuldigen die Loesung durch
Darbringung eines Opfertiers oder aehnlicher Gaben. So ruht das ganze
Kriminalrecht in seinem letzten Grunde auf der religioesen Idee der
Suehnung.
Weitere Leistungen aber als dergleichen Foerderungen buergerlicher
Ordnung und Sittlichkeit hat die Religion in Latium auch nicht
verrichtet. Unsaeglich viel hat hier Hellas vor Latium voraus gehabt -
dankt es doch seiner Religion nicht bloss seine ganze geistige
Entwicklung, sondern auch seine nationale Einigung, soweit sie
ueberhaupt erreicht ward; um Goetterorakel und Goetterfeste, um Delphi
und Olympia, um die Toechter des Glaubens, die Musen, bewegt sich
alles, was im hellenischen Leben gross, und alles, was darin nationales
Gemeingut ist. Und dennoch knuepfen eben hier auch Latiums Vorzuege vor
Hellas an. Die latinische Religion, herabgedrueckt wie sie ist auf das
Mass der gewoehnlichen Anschauung, ist jedem vollkommen verstaendlich
und allen insgemein zugaenglich; und darum bewahrte die roemische
Gemeinde ihre buergerliche Gleichheit, waehrend Hellas, wo die Religion
auf der Hoehe des Denkens der Besten stand, von fruehester Zeit an
unter allem Segen und Unsegen der Geistesaristokratie gestanden hat.
Auch die latinische Religion ist wie jede andere urspruenglich
hervorgegangen aus der unendlichen Glaubensvertiefung; nur der
oberflaechlichen Betrachtung, die ueber die Tiefe des Stromes sich
taeuscht, weil er klar ist, kann ihre durchsichtige Geisterwelt flach
erscheinen. Dieser innige Glaube verschwindet freilich im Laufe der
Zeiten so notwendig wie der Morgentau vor der hoeher steigenden Sonne
und auch die latinische Religion ist also spaeterhin verdorrt; aber
laenger als die meisten Voelker haben die Latiner die naive
Glaeubigkeit sich bewahrt, und vor allem laenger als die Griechen. Wie
die Farben die Wirkungen, aber auch die Truebungen des Lichtes sind, so
sind Kunst und Wissenschaft nicht bloss die Geschoepfe, sondern auch
die Zerstoerer des Glaubens; und so sehr in dieser zugleich Entwicklung
und Vernichtung die Notwendigkeit waltet, so sind doch durch das
gleiche Naturgesetz auch der naiven Epoche gewisse Erfolge vorbehalten,
die man spaeter vergeblich sich bemueht zu erringen. Eben die gewaltige
geistige Entwicklung der Hellenen, welche jene immer unvollkommene
religioese und literarische Einheit erschuf, machte es ihnen
unmoeglich, zu der echten politischen Einigung zu gelangen; sie
buessten damit die Einfalt, die Lenksamkeit, die Hingebung, die
Verschmelzbarkeit ein, welche die Bedingung aller staatlichen Einigung
ist. Es waere darum wohl an der Zeit, einmal abzulassen von jener
kinderhaften Geschichtsbetrachtung, welche die Griechen nur auf Kosten
der Roemer oder die Roemer nur auf Kosten der Griechen preisen zu
koennen meint und, wie man die Eiche neben der Rose gelten laesst, so
auch die beiden grossartigen Organismen, die das Altertum
hervorgebracht hat, nicht zu loben oder zu tadeln, sondern es zu
begreifen, dass ihre Vorzuege gegenseitig durch ihre Mangelhaftigkeit
bedingt sind. Der tiefste und letzte Grund der Verschiedenheit beider
Nationen liegt ohne Zweifel darin, dass Latium nicht, wohl aber Hellas
in seiner Werdezeit mit dem Orient sich beruehrt hat. Kein Volksstamm
der Erde fuer sich allein war gross genug, weder das Wunder der
hellenischen noch spaeterhin das Wunder der christlichen Kultur zu
erschaffen; diese Silberblicke hat die Geschichte da erzeugt, wo
aramaeische Religionsideen in den indogermanischen Boden sich
eingesenkt haben. Aber wenn eben darum Hellas der Prototyp der rein
humanen, so ist Latium nicht minder fuer alle Zeiten der Prototyp der
nationalen Entwicklung; und wir Nachfahren haben beides zu verehren und
von beiden zu lernen.
Also war und wirkte die roemische Religion in ihrer reinen und
ungehemmten durchaus volkstuemlichen Entwicklung. Es tut ihrem
nationalen Charakter keinen Eintrag, dass seit aeltester Zeit Weise und
Wesen der Gottesverehrung aus dem Auslande heruebergenommen wurden; so
wenig als die Schenkung des Buergerrechts an einzelne Fremde den
roemischen Staat denationalisiert hat. Dass man von alters her mit den
Latinern die Goetter tauschte wie die Waren, versteht sich;
bemerkenswerter ist die Uebersiedlung von nicht stammverwandten
Goettern und Gottesverehrungen. Von dem sabinischen Sonderkult der
Titier ist bereits gesprochen worden. Ob auch aus Etrurien
Goetterbegriffe entlehnt worden sind, ist zweifelhafter; denn die
Lasen, die aeltere Bezeichnung der Genien (von lascivus), und die
Minerva, die Goettin des Gedaechtnisses (mens, menervare), welche man
wohl als urspruenglich etruskisch zu bezeichnen pflegt, sind nach
sprachlichen Gruenden vielmehr in Latium heimisch. Sicher ist es auf
jeden Fall, und passt auch wohl zu allem, was wir sonst vom roemischen
Verkehr wissen, dass frueher und ausgedehnter als irgendein anderer
auslaendischer der griechische Kult im Rom Beruecksichtigung fand. Den
aeltesten Anlass gaben die griechischen Orakel. Die Sprache der
roemischen Goetter beschraenkte sich im ganzen auf Ja und Nein und
hoechstens auf die Verkuendigung ihres Willens durch das - wie es
scheint, urspruenglich italische - Werfen der Lose ^6; waehrend seit
sehr alter Zeit, wenngleich dennoch wohl erst infolge der aus dem Osten
empfangenen Anregung, die redseligeren Griechengoetter wirkliche
Wahrsprueche erteilten. Solche Ratschlaege in Vorrat zu haben waren die
Roemer gar frueh bemueht, und Abschriften der Blaetter der weissagenden
Priesterin Apollons, der kymaeischen Sibylle, deshalb eine
hochgehaltene Gabe der griechischen Gastfreunde aus Kampanien. Zur
Lesung und Ausdeutung des Zauberbuches wurde in fruehester Zeit ein
eigenes, nur den Augurn und Pontifices im Range nachstehendes Kollegium
von zwei Sachverstaendigen (duoviri sacris faciundis) bestellt, auch
fuer dasselbe zwei der griechischen Sprache kundige Sklaven von
Gemeinde wegen angeschafft; diese Orakelbewahrer ging man in
zweifelhaften Faellen an, wenn es, um ein drohendes Unheil abzuwenden,
eines gottesdienstlichen Aktes bedurfte und man doch nicht wusste,
welchem Gott und wie er zu beschaffen sei. Aber auch an den delphischen
Apollon selbst wandten schon frueh sich ratsuchende Roemer; ausser den
schon erwaehnten Sagen ueber diesen Verkehr zeugt davon noch teils die
Aufnahme des mit dem delphischen Orakel eng zusammenhaengenden Wortes
thesaurus in alle uns bekannte italische Sprachen, teils die aelteste
roemische Form des Namens Apollon Aperta, der Eroeffner, eine
etymologisierende Entstellung des dorischen Apellon, deren Alter eben
ihre Barbarei verraet. Auch der griechische Herakles ist frueh als
Herclus, Hercoles, Hercules in Italien einheimisch und dort in
eigentuemlicher Weise aufgefasst worden, wie es scheint zunaechst als
Gott des gewagten Gewinns und der ausserordentlichen Vermoegensmehrung;
weshalb sowohl von dem Feldherrn der Zehnte der gemachten Beute wie
auch von dem Kaufmann der Zehnte des errungenen Guts ihm an dem
Hauptaltar (ara maxima) auf dem Rindermarkt dargebracht zu werden
pflegte. Er wurde darum ueberhaupt der Gott der kaufmaennischen
Vertraege, die in aelterer Zeit haeufig an diesem Altar geschlossen und
mit Eidschwur bekraeftigt wurden, und fiel insofern mit dem alten
latinischen Gott des Worthaltens (deus fidius) zusammen. Die Verehrung
des Hercules ist frueh eine der weitverbreitetsten geworden; er wurde,
mit einem alten Schriftsteller zu reden, an jedem Fleck Italiens
verehrt und in den Gassen der Staedte wie an den Landstrassen standen
ueberall seine Altaere. Die Schiffergoetter ferner, Kastor und
Polydeukes oder roemisch Pollux, ferner der Gott des Handels, Hermes,
der roemische Mercurius, und der Heilgott Asklapios oder Aesculapius,
wurden den Roemern frueh bekannt, wenngleich deren oeffentliche
Verehrung erst spaeter begann. Der Name des Festes der “guten Goettin”
(bona dea) damium, entsprechend dem griechischen δάμιον oder δήμιον,
mag gleichfalls schon bis in diese Epoche zurueckreichen. Auf alter
Entlehnung muss es auch beruhen, dass der alte Liber pater der Roemer
spaeter als “Vater Befreier” gefasst ward und mit dem Weingott der
Griechen, dem “Loeser” (Lyaeos) zusammenfloss, und dass der roemische
Gott der Tiefe der “Reichtumspender” (Pluton - Dis pater) hiess, dessen
Gemahlin Persephone aber, zugleich durch Anlautung und durch
Begriffsuebertragung, ueberging in die roemische Proserpina, dass
heisst Aufkeimerin. Selbst die Goettin des roemisch-latinischen Bundes,
die aventinische Diana scheint der Bundesgoettin der kleinasiatischen
Ionier, der ephesischen Artemis nachgebildet zu sein; wenigstens war
das Schnitzbild in dem roemischen Tempel nach dem ephesischen Typus
gefertigt. Nur auf diesem Wege, durch die frueh mit orientalischen
Vorstellungen durchdrungenen apollinischen, dionysischen, plutonischen,
herakleischen und Artemismythen, hat in dieser Epoche die aramaeische
Religion eine entfernte und mittelbare Einwirkung auf Italien geuebt.
Deutlich erkennt man dabei, wie das Eindringen der griechischen
Religion vor allen Dingen auf den Handelsbeziehungen beruht und wie
zunaechst Kaufleute und Schiffer die griechischen Goetter nach Italien
gebracht haben.
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^6 Sors, von serere, reihen. Es waren wahrscheinlich an einer Schnur
gereihte Holztaefelchen, die geworfen verschiedenartige Figuren
bildeten; was an die Runen erinnert.
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Indessen sind die einzelnen Entlehnungen aus dem Ausland nur von
sekundaerer Bedeutung, die Truemmer des Natursymbolismus der Urzeit
aber, wie etwa die Sage von den Rindern des Cacus eines sein mag, so
gut wie ganz verschollen; im grossen und ganzen ist die roemische
Religion eine organische Schoepfung des Volkes, bei dem wir sie finden.
Die sabellische und umbrische Gottesverehrung beruht, nach dem wenigen
zu schliessen, was wir davon wissen, auf ganz gleichen
Grundanschauungen wie die latinische mit lokal verschiedener Faerbung
und Gestaltung. Dass sie abwich von der latinischen, zeigt am
bestimmtesten die Gruendung einer eigenen Genossenschaft in Rom zur
Bewahrung der sabinischen Gebraeuche; aber eben sie gibt ein
belehrendes Beispiel, worin der Unterschied bestand. Die Vogelschau war
beiden Staemmen die regelmaessige Weise der Goetterbefragung; aber die
Titier schauten nach anderen Voegeln als die ramnischen Augurn.
Ueberall, wo wir vergleichen koennen, zeigen sich aehnliche
Verhaeltnisse; die Fassung der Goetter als Abstraktion des Irdischen
und ihre unpersoenliche Natur sind beiden Staemmen gemein, Ausdruck und
Ritual verschieden. Dass dem damaligen Kultus diese Abweichungen
gewichtig erschienen, ist begreiflich; wir vermoegen den
charakteristischen Unterschied, wenn einer bestand, nicht mehr zu
erfassen.
Aber aus den Truemmern, die vom etruskischen Sakralwesen auf uns
gekommen sind, redet ein anderer Geist. Es herrscht in ihnen eine
duestere und dennoch langweilige Mystik, Zahlenspiel und
Zeichendeuterei und jene feierliche Inthronisierung des reinen
Aberwitzes, die zu allen Zeiten ihr Publikum findet. Wir kennen zwar
den etruskischen Kult bei weitem nicht in solcher Vollstaendigkeit und
Reinheit wie den latinischen; aber mag die spaetere Gruebelei auch
manches erst hineingetragen haben, und moegen auch gerade die duesteren
und phantastischen, von dem latinischen Kult am meisten sich
entfernenden Saetze uns vorzugsweise ueberliefert sein, was beides in
der Tat nicht wohl zu bezweifeln ist, so bleibt immer noch genug
uebrig, um die Mystik und Barbarei dieses Kultes zu bezeichnen als im
innersten Wesen des etruskischen Volkes begruendet.
Ein innerlicher Gegensatz des sehr ungenuegend bekannten etruskischen
Gottheitsbegriffs zu dem italischen laesst sich nicht erfassen; aber
bestimmt treten unter den etruskischen Goettern die boesen und
schadenfrohen in den Vordergrund, wie denn auch der Kult grausam ist
und namentlich das Opfern der Gefangenen einschliesst - so schlachtete
man in Caere die gefangenen Phokaeer, in Tarquinii die gefangenen
Roemer. Statt der stillen, in den Raeumen der Tiefe friedlich
schaltenden Welt der abgeschiedenen “guten Geister”, wie die Latiner
sie sich dachten, erscheint hier eine wahre Hoelle, in die die armen
Seelen zur Peinigung durch Schlaegel und Schlangen abgeholt werden von
dem Totenfuehrer; einer wilden, halb tierischen Greisengestalt mit
Fluegeln und einem grossen Hammer; einer Gestalt, die man spaeter in
Rom bei den Kampfspielen verwandte, um den Mann zu kostuemieren, der
die Leichen der Erschlagenen vom Kampfplatz wegschaffte. So fest ist
mit diesem Zustand der Schatten die Pein verbunden, dass es sogar eine
Erloesung daraus gibt, die nach gewissen geheimnisvollen Opfern die
arme Seele versetzt unter die oberen Goetter. Es ist merkwuerdig, dass,
um ihre Unterwelt zu bevoelkern, die Etrusker frueh von den Griechen
deren finstere Vorstellungen entlehnten, wie denn die acherontische
Lehre und der Charon eine grosse Rolle in der etruskischen Weisheit
spielen.
Aber vor allen Dingen beschaeftigt den Etrusker die Deutung der Zeichen
und Wunder. Die Roemer vernahmen wohl auch in der Natur die Stimme der
Goetter; allein ihr Vogelschauer verstand nur die einfachen Zeichen und
erkannte nur im allgemeinen, ob die Handlung Glueck oder Unglueck
bringen werde. Stoerungen im Laufe der Natur galten ihm als
unglueckbringend und hemmten die Handlung, wie zum Beispiel bei Blitz
und Donner die Volksversammlung auseinanderging, und man suchte auch
wohl, sie zu beseitigen, wie zum Beispiel die Missgeburt schleunigst
getoetet ward. Aber jenseits des Tiber begnuegte man sich damit nicht.
Der tiefsinnige Etrusker las aus den Blitzen und aus den Eingeweiden
der Opfertiere dem glaeubigen Mann seine Zukunft bis ins einzelne
heraus, und je seltsamer die Goettersprache, je auffallender das
Zeichen und Wunder, desto sicherer gab er an, was er verkuende und wie
man das Unheil etwa abwenden koenne. So entstanden die Blitzlehre, die
Haruspizes, die Wunderdeutung, alle ausgesponnen mit der ganzen
Haarspalterei des im Absurden lustwandelnden Verstandes, vor allem die
Blitzwissenschaft. Ein Zwerg von Kindergestalt mit grauen Haaren, der
von einem Ackersmann bei Tarquinii war ausgepfluegt worden, Tages
genannt - man sollte meinen, dass das zugleich kindische und
altersschwache Treiben in ihm sich selber habe verspotten wollen -,
also Tages hatte sie zuerst den Etruskern verraten und war dann
sogleich gestorben. Seine Schueler und Nachfolger lehrten, welche
Goetter Blitze zu schleudern pflegten; wie man am Quartier des Himmels
und an der Farbe den Blitz eines jeden Gottes erkenne; ob der Blitz
einen dauernden Zustand andeute oder ein einzelnes Ereignis und wenn
dieses, ob dasselbe ein unabaenderlich datiertes sei oder durch Kunst
sich verschieben lasse bis zu einer gewissen Grenze; wie man den
eingeschlagenen Blitz bestatte oder den drohenden einzuschlagen zwinge,
und dergleichen wundersame Kuenste mehr, denen man gelegentlich die
Sportulierungsgelueste anmerkt. Wie tief dies Gaukelspiel dem
roemischen Wesen widerstand, zeigt, dass, selbst als man spaeter in Rom
es benutzte, doch nie ein Versuch gemacht ward, es einzubuergern; in
dieser Epoche genuegten den Roemern wohl noch die einheimischen und die
griechischen Orakel.
Hoeher als die roemische Religion steht die etruskische insofern, als
sie von dem, was den Roemern voellig mangelt, einer in religioese
Formen gehuellten Spekulation, wenigstens einen Anfang entwickelt hat.
Ueber der Welt mit ihren Goettern walten die verhuellten Goetter, die
der etruskische Jupiter selber befragt; jene Welt aber ist endlich und
wird, wie sie entstanden ist, so auch wieder vergehen nach Ablauf eines
bestimmten Zeitraums, dessen Abschnitte die Saecula sind. Ueber den
geistigen Gehalt, den diese etruskische Kosmogonie und Philosophie
einmal gehabt haben mag, ist schwer zu urteilen; doch scheint auch
ihnen ein geistloser Fatalismus und ein plattes Zahlenspiel von Haus
aus eigen gewesen zu sein.
KAPITEL XIII.
Ackerbau, Gewerbe und Verkehr
Ackerbau und Verkehr sind so innig verwachsen mit der Verfassung und
der aeusseren Geschichte der Staaten, dass schon bei deren Schilderung
vielfach auf dieselben Ruecksicht genommen werden musste. Hier soll es
versucht werden, anknuepfend an jene einzelnen Betrachtungen, die
italische, namentlich die roemische Oekonomie zusammenfassend und
ergaenzend zu schildern.
Dass der Uebergang von der Weide- zur Ackerwirtschaft jenseits der
Einwanderung der Italiker in die Halbinsel faellt, ward schon bemerkt.
Der Feldbau blieb der Grundpfeiler aller italischen Gemeinden, der
sabellischen und der etruskischen nicht minder als der latinischen;
eigentliche Hirtenstaemme hat es in Italien in geschichtlicher Zeit
nicht gegeben, obwohl natuerlich die Staemme ueberall, je nach der Art
der Oertlichkeit in geringerem oder staerkerem Masse, neben dem
Ackerbau die Weidewirtschaft betrieben. Wie innig man es empfand, dass
jedes Gemeinwesen auf dem Ackerbau beruhe, zeigt die schoene Sitte, die
Anlage neuer Staedte damit zu beginnen, dass man dort, wo der kuenftige
Mauerring sich erheben sollte, mit dem Pflug eine Furche vorzeichnete.
Dass namentlich in Rom, ueber dessen agrarische Verhaeltnisse sich
allein mit einiger Bestimmtheit sprechen laesst, nicht bloss der
Schwerpunkt des Staates urspruenglich in der Bauernschaft lag, sondern
auch dahin gearbeitet ward, die Gesamtheit der Ansaessigen immer
festzuhalten als den Kern der Gemeinde, zeigt am klarsten die
Servianische Reform. Nachdem im Laufe der Zeit ein grosser Teil des
roemischen Grundbesitzes in die Haende von Nichtbuergern gelangt war
und also die Rechte und Pflichten der Buergerschaft nicht mehr auf der
Ansaessigkeit ruhten, beseitigte die reformierte Verfassung dies
Missverhaeltnis und die daraus drohenden Gefahren nicht bloss fuer
einmal, sondern fuer alle Folgezeit, indem sie die Gemeindeglieder ohne
Ruecksicht auf ihre politische Stellung ein fuer allemal nach der
Ansaessigkeit heranzog und die gemeine Last der Wehrpflicht auf die
Ansaessigen legte, denen die gemeinen Rechte im natuerlichen Lauf der
Entwicklung nachfolgen mussten. Auch die ganze Kriegs- und
Eroberungspolitik der Roemer war ebenso wie die Verfassung basiert auf
die Ansaessigkeit; wie im Staat der ansaessige Mann allein galt, so
hatte der Krieg den Zweck, die Zahl der ansaessigen Gemeindeglieder zu
vermehren. Die ueberwundene Gemeinde ward entweder genoetigt, ganz in
der roemischen Bauernschaft aufzugehen, oder, wenn es zu diesem
Aeussersten nicht kam, wurde ihr doch nicht Kriegskontribution oder
fester Zins auferlegt, sondern die Abtretung eines Teils, gewoehnlich
eines Drittels ihrer Feldmark, wo dann regelmaessig roemische
Bauernhoefe entstanden. Viele Voelker haben gesiegt und erobert wie die
Roemer; aber keines hat gleich dem roemischen den erkaempften Boden
also im Schweisse seines Angesichts sich zu eigen gemacht und was die
Lanze gewonnen hatte, mit der Pflugschar zum zweitenmal erworben. Was
der Krieg gewinnt, kann der Krieg wieder entreissen, aber nicht also
die Eroberung, die der Pflueger macht; wenn die Roemer viele Schlachten
verloren, aber kaum je bei dem Frieden roemischen Boden abgetreten
haben, so verdanken sie dies dem zaehen Festhalten der Bauern an ihrem
Acker und Eigen. In der Beherrschung der Erde liegt die Kraft des
Mannes und des Staates; die Groesse Roms ist gebaut auf die
ausgedehnteste und unmittelbarste Herrschaft der Buerger ueber den
Boden und auf die geschlossene Einheit dieser also festgegruendeten
Bauernschaft.
Dass in aeltester Zeit das Ackerland gemeinschaftlich, wahrscheinlich
nach den einzelnen Geschlechtsgenossenschaften, bestellt und erst der
Ertrag unter die einzelnen, dem Geschlecht angehoerigen Haeuser
verteilt ward, ist bereits angedeutet worden; wie denn Feldgemeinschaft
und Geschlechtergemeinde innerlich zusammenhaengen und auch spaeterhin
in Rom noch das Zusammenwohnen und Wirtschaften der Mitbesitzer sehr
haeufig vorkam ^1. Selbst die roemische Rechtsueberlieferung weiss noch
zu berichten, dass das Vermoegen anfaenglich in Vieh und Bodenbenutzung
bestand und erst spaeter das Land unter die Buerger zu Sondereigentum
aufgeteilt ward ^2. Besseres Zeugnis dafuer gewaehrt die aelteste
Bezeichnung des Vermoegens als “Viehstand” (pecunia) oder “Sklaven- und
Viehstand” (familia pecuniaque) und des Sonderguts der Hauskinder und
Sklaven als “Schaefchen” (peculium); ferner die aelteste Form des
Eigentumserwerbs durch Handangreifen (mancipatio), was nur fuer
bewegliche Sachen angemessen ist, und vor allem das aelteste Mass des
“Eigenlandes” (heredium von herus, Herr) von zwei Jugeren oder
preussischen Morgen, das nur Gartenland, nicht Hufe, gewesen sein kann
^3. Wann und wie die Aufteilung des Ackerlandes stattgefunden hat,
laesst sich nicht mehr bestimmen. Geschichtlich steht nur so viel fest,
dass die aelteste Verfassung die Ansaessigkeit nicht, sondern als
Surrogat dafuer die Geschlechtsgenossenschaft, dagegen schon die
Servianische den aufgeteilten Acker voraussetzt. Aus derselben
Verfassung geht hervor, dass die grosse Masse des Grundbesitzes aus
mittleren Bauernstellen bestand, welche einer Familie zu tun und zu
leben gaben und das Halten von Ackervieh sowie die Anwendung des
Pfluges gestatteten; das gewoehnliche Flaechenmass dieser roemischen
Vollhufe ist nicht mit Sicherheit ermittelt, kann aber, wie schon
gesagt ward, schwerlich geringer als zu 20 Morgen angenommen werden.
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^1 Die bei der deutschen Feldgemeinschaft vorkommende Verbindung
geteilten Eigentums der Genossen und gemeinschaftlicher Bestellung
durch die Genossenschaft hat in Italien schwerlich je bestanden. Waere
hier, wie bei den Deutschen, jeder Genosse als Eigentuemer eines
Einzelfleckes in jedem wirtschaftlich abgegrenzten Teile der Gesamtmark
betrachtet worden, so wuerde doch wohl die spaetere Sonderwirtschaft
von zerstueckelten Hufen ausgehen. Allein es ist vielmehr das Gegenteil
der Fall; die Individualnamen der roemischen Hufen (fundus Cornelianus)
zeigen deutlich, dass der aelteste roemische Individualgrundbesitz
faktisch geschlossen war.
^2 Cicero (rep. 2, 9, 14; vgl. Plut. q. Rom. 15) berichtet: Tunc (zur
Zeit des Romulus) erat res in pecore et locorum possessionibus, ex quo
pecuniosi et locupletes vocabantur. - (Numa) primum agros, quos bello
Romulus ceperat, divisit viritim civibus. Ebenso laesst Dionys den
Romulus das Land in dreissig Kuriendistrikte teilen, den Numa die
Grenzsteine setzen und das Terminalienfest einfuehren (1, 7; 2, 74;
daraus Plut. Num. 16).
^3 Da dieser Behauptung fortwaehrend noch widersprochen wird, so moegen
die Zahlen reden. Die roemischen Landwirte der spaeteren Republik und
der Kaiserzeit rechnen durchschnittlich fuer das Iugerum als Aussaat
fuenf roemische Scheffel Weizen, als Ertrag das fuenffache Korn; der
Ertrag eines Heredium ist demnach, selbst wenn man, von dem Haus- und
Hofraum absehend, es lediglich als Ackerland betrachtet und auf
Brachjahre keine Ruecksicht nimmt, 50 oder nach Abzug des Saatkorns 40
Scheffel. Auf den erwachsenen, schwer arbeitenden Sklaven rechnet Cato
(agr. c. 56) fuer das Jahr 51 Scheffel Weizen. Die Frage, ob eine
roemische Familie von dem Heredium leben konnte oder nicht, mag danach
sich jeder selber beantworten. Der versuchte Gegenbeweis stuetzt sich
darauf, dass der Sklave der spaeteren Zeit ausschliesslicher als der
freie Bauer der aelteren von Getreide gelebt hat und dass fuer die
aeltere Zeit die Annahme des fuenffachen Kornes eine zu niedrige ist;
beides ist wohl richtig, aber fuer beides gibt es eine Grenze. Ohne
Zweifel sind die Nebennutzungen, welche das Ackerland selbst und die
Gemeinweide an Feigen, Gemuese, Milch, Fleisch (besonders durch die
alte und intensive Schweinezucht) und dergleichen abwirft, besonders
fuer die aeltere Zeit in Anschlag zu bringen; aber die aeltere
roemische Weidewirtschaft war, wenn auch nicht unbedeutend, so doch von
untergeordneter Bedeutung und die Hauptnahrung des Volkes immer
notorisch das Getreide. Man mag ferner wegen der Intensitaet der
aelteren Kultur zu einer sehr ansehnlichen Steigerung besonders des
Bruttoertrags gelangen - und ohne Frage haben die Bauern dieser Zeit
ihren Ackern einen groesseren Ertrag abgewonnen, als die
Plantagenbesitzer der spaeteren Republik und der Kaiserzeit ihn
erzielten; aber Mass wird auch hier zu halten sein, da es ja um
Durchschnittssaetze sich handelt und um eine weder rationell noch mit
grossem Kapital betriebene Bauernbewirtschaftung. Die Annahme des
zehnten Korns statt des fuenften wird die aeusserste Grenze sein, und
sie genuegt doch weitaus nicht. Auf keinen Fall laesst das enorme
Defizit, welches auch nach diesen Ansaetzen zwischen dem Ertrag des
Heredium und dem Bedarf des Hauswesens bleibt, durch blosse
Kultursteigerung sich decken. In der Tat wird der Gegenbeweis erst dann
als gefuehrt zu betrachten sein, wenn eine rationelle
landwirtschaftliche Berechnung aufgestellt sein wird, wonach bei einer
ueberwiegend von Vegetabilien sich naehrenden Bevoelkerung der Ertrag
eines Grundstueckes von zwei Morgen sich als durchschnittlich fuer die
Ernaehrung einer Familie ausreichend herausstellt.
Man behauptet nun zwar, dass selbst in geschichtlicher Zeit
Koloniegruendungen mit Ackerlosen von zwei Morgen vorkommen; aber das
einzige Beispiel der Art (Liv. 4, 47), die Kolonie Labici vom Jahr 336,
wird von denjenigen Gelehrten, gegen welche es ueberhaupt der Muehe
sich verlohnt, Argumente zu gebrauchen, sicherlich nicht zu der im
geschichtlichen Detail zuverlaessigen Ueberlieferung gezaehlt werden
und unterliegt auch noch anderen sehr ernsten Bedenken. Das allerdings
ist richtig, dass bei der nichtkolonialen Ackeranweisung an die gesamte
Buergerschaft (adsignatio viritana) zuweilen nur wenige Morgen gegeben
worden sind (so z. B. Liv. 8, 11, 21); aber hier sollten auch
keineswegs in den Losen neue Bauernwesen geschaffen, sondern vielmehr
in der Regel zu den bestehenden vom eroberten Lande neue Parzellen
hinzugefuegt werden (vgl. CIL I, p. 88). Auf alle Faelle wird jede
andere Annahme besser sein als eine Hypothese, welche mit den fuenf
Broten und zwei Fischen des Evangeliums ziemlich auf einer Linie steht.
Die roemischen Bauern waren bei weitem weniger bescheiden als ihre
Historiographen; sie meinten selbst auf Grundstuecken von sieben Morgen
oder 140 roemischen Scheffeln Ertrag nicht auskommen zu koennen.
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Die Landwirtschaft ging wesentlich auf den Getreidebau, das
gewoehnliche Korn war der Spelt (far) ^4; doch wurden auch
Huelsenfruechte, Rueben und Gemuese fleissig gezogen.
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^4 Vielleicht der juengste, obwohl schwerlich der letzte Versuch, den
Nachweis zu fuehren, dass die latinische Bauernfamilie von zwei Morgen
Landes hat leben koennen, ist hauptsaechlich darauf gestuetzt worden,
dass Varro (tust. 1, 44, 1) als Aussaat auf den Morgen fuenf Scheffel
Weizen, dagegen zehn Scheffel Spelt rechnet und diesem entsprechend den
Ertrag ansetzt, woraus denn gefolgert wird, dass der Speltbau wo nicht
den doppelten, doch einen betraechtlich hoeheren Ertrag liefert als der
Weizenbau. Es ist aber vielmehr das Umgekehrte richtig und jene
nominell hoehere Aussaat und Ernte einfach zu erklaeren aus dem
Umstand, dass die Roemer den Weizen ausgehuelst lagerten und saeten,
den Spelt aber in den Huelsen (Plin. nat. 18, 7, 61), die sich hier
durch das Dreschen nicht von der Frucht trennen. Aus demselben Grunde
wird der Spelt auch heutzutage noch doppelt so stark gesaet als der
Weizen und liefert nach Scheffelmass doppelt hoeheren Ertrag, nach
Abzug der Huelsen aber geringeren. Nach wuerttembergischen Angaben, die
mir G. Hanssen mitteilt, rechnet man dort als Durchschnittsertrag fuer
den wuerttembergischen Morgen an Weizen (bei einer Aussaat von ¼-½
Scheffel) drei Scheffel zum mittleren Gewicht von 275 Pfund (= 825
Pfund), an Spelt (bei einer Aussaat von ½-1½ Scheffel) mindestens
sieben Scheffel zum mittleren Gewicht von 150 Pfund (= 1050 Pfund),
welche durch die Schaelung sich auf etwa vier Scheffel reduzieren. Also
liefert der Spelt, verglichen mit dem Weizen, im Bruttoertrag mehr als
doppelte, bei gleich gutem Boden vielleicht dreifache Ernte, dem
spezifischen Gewicht nach aber vor der Enthuelsung nicht viel ueber,
nach der Enthuelsung (als Kern”) weniger als die Haelfte. Nicht aus
Versehen, wie behauptet worden ist, sondern weil es zweckmaessig ist,
bei Ueberschlaegen dieser Art von ueberlieferten und gleichartigen
Ansetzungen auszugehen, ist die oben aufgestellte Berechnung auf Weizen
gestellt worden; sie durfte es, weil sie, auf Spelt uebertragen, nicht
wesentlich abweicht und der Ertrag eher faellt als steigt. Der Spelt
ist genuegsamer in bezug auf Boden und Klima und weniger Gefahren
ausgesetzt als der Weizen; aber der letztere liefert im ganzen,
namentlich wenn man die nicht unbetraechtlichen Enthuelsungskosten in
Anschlag bringt, einen hoeheren Reinertrag (nach fuenfzigjaehrigem
Durchschnitt stellt in der Gegend von Frankenthal in Rheinbayern sich
der Malter Weizen auf 11 Gulden 3 Kreuzer, der Malter Spelt auf 4
Gulden 30 Kreuzer), und wie in Sueddeutschland, wo der Boden ihn
zulaesst, der Weizenbau vorgezogen wird, und ueberhaupt bei
vorschreitender Kultur dieser den Speltbau zu verdraengen pflegt, so
ist auch der gleichartige Uebergang der italischen Landwirtschaft vom
Spelt- zum Weizenbau unleugbar ein Fortschritt gewesen.
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Dass die Pflege des Weinstocks nicht erst durch die griechischen
Ansiedler nach Italien kam, beweist das in die vorgriechische Zeit
hinaufreichende Festverzeichnis der roemischen Gemeinde, das drei
Weinfeste kennt und diese dem Vater Iovis, nicht dem juengeren, erst
von den Griechen entlehnten Weingott, dem Vater Befreier, feiern
heisst. Wenn nach einer recht alten Sage der Koenig Mezentius von Caere
von den Latinern oder den Rutulern einen Weinzins fordert, wenn als die
Ursache, welche die Kelten veranlasste, die Alpen zu ueberschreiten, in
einer weit verbreiteten und sehr verschiedenartig gewendeten italischen
Erzaehlung die Bekanntschaft mit den edlen Fruechten Italiens und vor
allem mit der Traube und dem Wein genannt wird, so spricht daraus der
Stolz der Latiner auf ihre herrliche, von den Nachbarn vielbeneidete
Rebe. Frueh und allgemein wurde von den latinischen Priestern auf eine
sorgfaeltige Rebenzucht hingewirkt. In Rom begann die Lese erst, wenn
der hoechste Priester der Gemeinde, der Flamen des Jupiter sie
gestattet und selbst damit begonnen hatte; in gleicher Weise verbot
eine tusculanische Ordnung das Feilbieten des neuen Weines, bevor der
Priester das Fest der Fassoeffnung abgerufen hatte. Ebenso gehoert
hierher nicht bloss die allgemeine Aufnahme der Weinspende in das
Opferritual, sondern auch die als Gesetz des Koenigs Numa bekannt
gemachte Vorschrift der roemischen Priester, den Goettern keinen von
unbeschnittenen Reben gewonnenen Wein zum Trankopfer auszugiessen; eben
wie sie, um das nuetzliche Doerren des Getreides einzufuehren, die
Opferung ungedoerrten Getreides untersagten.
Juenger ist der Oelbau und sicher erst durch die Griechen nach Italien
gekommen ^5. Die Olive soll zuerst gegen das Ende des zweiten
Jahrhunderts der Stadt am westlichen Mittelmeer gepflanzt worden sein;
es stimmt dazu, dass der Oelzweig und die Olive im roemischen Ritual
eine weit untergeordnetere Rolle spielen als der Saft der Rebe. Wie
wert uebrigens der Roemer beide edle Baeume hielt, beweisen der
Rebstock und Oelbaum, die mitten auf dem Markte der Stadt unweit des
Curtischen Teiches gepflanzt wurden.
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^5 Oleum, oliva sind aus έλαιον, έλαια, amurca (Φlhefe) aus αμόργη
entstanden.
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Von den Fruchtbaeumen ward vor allem die nahrhafte und wahrscheinlich
in Italien einheimische Feige gepflanzt; um die alten Feigenbaeume,
deren ebenfalls mehrere auf und an dem roemischen Markte standen ^6,
hat die roemische Ursprungssage ihre dichtesten Faeden gesponnen.
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^6 Aber dass der vor dem Saturnustempel stehende im Jahr 260 (494)
umgehauen ward (Plin. nat. 15, 18, 77), ist nicht ueberliefert; die
Ziffer CCLX fehlt in allen guten Handschriften und ist, wohl mit
Anlehnung an Liv. 2, 21, interpoliert.
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Es waren der Bauer und dessen Soehne, welche den Pflug fuehrten und
ueberhaupt die landwirtschaftlichen Arbeiten verrichteten; dass auf den
gewoehnlichen Bauernwirtschaften Sklaven oder freie Tageloehner
regelmaessig mit verwandt worden sind, ist nicht wahrscheinlich. Den
Pflug zog der Stier, auch die Kuh; zum Tragen der Lasten dienten
Pferde, Esel und Maultiere. Eine selbstaendige Viehwirtschaft zur
Gewinnung des Fleisches oder der Milch bestand wenigstens auf dem in
Geschlechtseigentum stehenden Land nicht oder nur in sehr beschraenktem
Umfang; wohl aber wurden ausser dem Kleinvieh, das man auf die gemeine
Weide mit auftrieb, auf dem Bauernhof Schweine und Gefluegel, besonders
Gaense gehalten. Im allgemeinen ward man nicht muede zu pfluegen und
wieder zu pfluegen - der Acker galt als mangelhaft bestellt, bei dem
die Furchen nicht so dicht gezogen waren, dass das Eggen entbehrt
werden konnte; aber der Betrieb war mehr intensiv als intelligent, und
der mangelhafte Pflug, das unvollkommene Ernte- und Dreschverfahren,
blieben unveraendert. Mehr als das hartnaeckige Festhalten der Bauern
an dem Hergebrachten wirkte hierzu wahrscheinlich die geringe
Entwicklung der rationellen Mechanik; denn dem praktischen Italiener
war die gemuetliche Anhaenglichkeit an die mit der ererbten Scholle
ueberkommene Bestellungsweise fremd, und einleuchtende Verbesserungen
der Landwirtschaft, wie zum Beispiel der Anbau von Futterkraeutern und
das Berieselungssystem der Wiesen, moegen schon frueh von den
Nachbarvoelkern uebernommen oder selbstaendig entwickelt worden sein;
begann doch die roemische Literatur selbst mit der theoretischen
Behandlung des Ackerbaus. Der fleissigen und verstaendigen Arbeit
folgte die erfreuliche Rast; und auch hier machte die Religion ihr
Recht geltend, die Muehsal des Lebens auch dem Niedrigen durch Pausen
der Erholung und der freieren menschlichen Bewegung zu mildern. Jeden
achten Tag (nonae), also durchschnittlich viermal im Monat, geht der
Bauer in die Stadt, um zu verkaufen und zu kaufen und seine uebrigen
Geschaefte zu besorgen. Eigentliche Arbeitsruhe bringen aber nur die
einzelnen Festtage und vor allem der Feiermonat nach vollbrachter
Wintersaat (feriae sementivae); waehrend dieser Fristen rastete nach
dem Gebote der Goetter der Pflug und es ruhten in Feiertagsmusse nicht
bloss der Bauer, sondern auch der Knecht und der Stier.
In solcher Weise etwa ward die gewoehnliche roemische Bauernstelle in
aeltester Zeit bewirtschaftet. Gegen schlechte Verwaltung gab es fuer
die Anerben keinen anderen Schutz, als das Recht, den leichtsinnigen
Verschleuderer ererbten Vermoegens gleichsam als einen Wahnsinnigen
unter Vormundschaft stellen zu lassen. Den Frauen war ueberdies das
eigene Verfuegungsrecht wesentlich entzogen, und wenn sie sich
verheirateten, gab man ihnen regelmaessig einen Geschlechtsgenossen zum
Mann, um das Gut in dem Geschlecht zusammenzuhalten. Der Ueberschuldung
des Grundbesitzes suchte das Recht zu steuern teils dadurch, dass es
bei der Hypothekenschuld den vorlaeufigen Uebergang des Eigentums an
der verpfaendeten Liegenschaft vom Schuldner auf den Glaeubiger
verordnete, teils durch das strenge und rasch zum faktischen Konkurs
fuehrende Exekutivverfahren bei dem einfachen Darlehen; doch erreichte,
wie die Folge zeigt, das letztere Mittel seinen Zweck sehr
unvollkommen. Die freie Teilbarkeit des Eigentums blieb gesetzlich
unbeschraenkt. So wuenschenswert es auch sein mochte, dass die Miterben
im ungeteilten Besitz des Erbguts blieben, so sorgte doch schon das
aelteste Recht dafuer die Aufloesung einer solchen Gemeinschaft zu
jeder Zeit jedem Teilnehmer offenzuhalten; es ist gut, wenn Brueder
friedlich zusammenwohnen, aber sie dazu zu noetigen, ist dem liberalen
Geiste des roemischen Rechts fremd. Die Servianische Verfassung zeigt
denn auch, dass es schon in der Koenigszeit in Rom an Insten und
Gartenbesitzern nicht gefehlt hat, bei denen an die Stelle des Pfluges
der Karst trat. Die Verhinderung der uebermaessigen Zerstueckelung des
Bodens blieb der Gewohnheit und dem gesunden Sinn der Bevoelkerung
ueberlassen; und dass man sich hierin nicht getaeuscht hat und die
Landgueter in der Regel zusammengeblieben sind, beweist schon die
allgemeine roemische Sitte, sie mit feststehenden Individualnamen zu
bezeichnen. Die Gemeinde griff nur indirekt hier ein durch die
Ausfuehrung von Kolonien, welche regelmaessig die Gruendung einer
Anzahl neuer Vollhufen, und haeufig wohl auch, indem man kleine
Grundbesitzer als Kolonisten ausfuehrte, die Einziehung einer Anzahl
Instenstellen herbeifuehrte. Bei weitem schwieriger ist es, die
Verhaeltnisse des groesseren Grundbesitzes zu erkennen. Dass es einen
solchen in nicht unbedeutender Ausdehnung gab, ist nach der fruehen
Entwicklung der Ritterschaft nicht zu bezweifeln und erklaert sich auch
leicht teils aus der Aufteilung der Geschlechtsmarken, welche bei der
notwendig ungleichen Kopfzahl der in den einzelnen Geschlechtern daran
Teilnehmenden von selbst einen Stand von groesseren Grundbesitzern ins
Leben rufen musste, teils aus der Menge der in Rom zusammenstroemenden
kaufmaennischen Kapitalien. Aber eine eigentliche Grosswirtschaft,
gestuetzt auf einen ansehnlichen Sklavenstand, wie wir sie spaeter in
Rom finden, kann fuer diese Zeit nicht angenommen werden; vielmehr ist
die alte Definition, wonach die Senatoren Vaeter genannt worden sind
von den Aeckern, die sie an geringe Leute austeilen wie der Vater an
die Kinder, hierher zu ziehen und wird urspruenglich der Gutsbesitzer
den Teil seines Grundstueckes, den er nicht selber zu bewirtschaften
vermochte, oder auch das ganze Gut in kleinen Parzellen unter
abhaengige Leute zur Bestellung verteilt haben, wie dies noch jetzt in
Italien allgemein geschieht. Der Empfaenger konnte Hauskind oder Sklave
des Verleihers sein; wenn er ein freier Mann war, so war sein
Verhaeltnis dasjenige, welches spaeter unter dem Namen des
“Bittbesitzes” (precarium) erscheint. Der Empfaenger behielt diesen,
solange es dem Verleiher beliebte, und hatte kein gesetzliches Mittel,
um sich gegen denselben im Besitz zu schuetzen; vielmehr konnte dieser
ihn jederzeit nach Gefallen ausweisen. Eine Gegenleistung des
Bodennutzers an den Bodeneigentuemer lag in dem Verhaeltnis nicht
notwendig; ohne Zweifel aber fand sie haeufig statt und mag wohl in der
Regel in der Abgabe eines Teils vom Fruchtertrag bestanden haben, wo
dann das Verhaeltnis der spaeteren Pacht sich naehert, immer aber von
ihr unterschieden bleibt teils durch den Mangel eines festen
Endtermins, teils durch den Mangel an Klagbarkeit auf beiden Seiten und
den lediglich durch das Ausweisungsrecht des Verpaechters vermittelten
Rechtsschutz der Pachtforderung. Offenbar war dies wesentlich ein
Treueverhaeltnis und konnte ohne das Hinzutreten eines maechtigen,
religioes geheiligten Herkommens nicht bestehen; aber dieses fehlte
auch nicht. Das durchaus sittlich-religioese Institut der Klientel
ruhte ohne Zweifel im letzten Grunde auf dieser Zuweisung der
Bodennutzungen. Dieselbe wurde auch keineswegs erst durch die Aufhebung
der Feldgemeinschaft moeglich; denn wie nach dieser der einzelne,
konnte vorher das Geschlecht die Mitnutzung seiner Mark abhaengigen
Leuten gestatten, und eben damit haengt ohne Zweifel zusammen, dass die
roemische Klientel nicht persoenlich war, sondern von Haus aus der
Klient mit seinem Geschlecht sich dem Patron und seinem Geschlecht zu
Schutz und Treue anbefahl. Aus dieser aeltesten Gestalt der roemischen
Gutswirtschaft erklaert es sich, weshalb aus den grossen Grundbesitzern
in Rom ein Land-, kein Stadtadel hervorging. Da die verderbliche
Institution der Mittelmaenner den Roemern fremd blieb, fand sich der
roemische Gutsherr nicht viel weniger an den Grundbesitz gefesselt als
der Paechter und der Bauer; er sah ueberall selbst zu und griff selber
ein, und auch dem reichen Roemer galt es als das hoechste Lob, ein
guter Landwirt zu heissen. Sein Haus war auf dem Lande; in der Stadt
hatte er nur ein Quartier, um seine Geschaefte dort zu besorgen und
etwa waehrend der heissen Zeit dort die reinere Luft zu atmen. Vor
allem aber wurde durch diese Ordnungen eine sittliche Grundlage fuer
das Verhaeltnis der Vornehmen zu den Geringen hergestellt und dadurch
dessen Gefaehrlichkeit wesentlich gemindert. Die freien Bittpaechter,
hervorgegangen aus heruntergekommenen Bauernfamilien, zugewandten
Leuten und Freigelassenen, machten die grosse Masse des Proletariats
aus und waren von dem Grundherrn nicht viel abhaengiger, als es der
kleine Zeitpaechter dem grossen Gutsbesitzer gegenueber unvermeidlich
ist. Die fuer den Herrn den Acker bauenden Knechte waren ohne Zweifel
bei weitem weniger zahlreich als die freien Paechter. Ueberall wo die
einwandernde Nation nicht sogleich eine Bevoelkerung in Masse
geknechtet hat, scheinen Sklaven anfaenglich nur in sehr beschraenktem
Umfang vorhanden gewesen zu sein und infolgedessen die freien Arbeiter
eine ganz andere Rolle im Staate gehabt zu haben, als in der wir
spaeter sie finden. Auch in Griechenland erscheinen in der aelteren
Epoche die “Tageloehner” (θήτες) vielfach an der Stelle der spaeteren
Sklaven und hat in einzelnen Gemeinden, zum Beispiel bei den Lokrern,
es bis in die historische Zeit keine Sklaverei gegeben. Selbst der
Knecht aber war doch regelmaessig italischer Abkunft; der volskische,
sabinische, etruskische Kriegsgefangene musste seinem Herrn anders
gegenueberstehen als in spaeterer Zeit der Syrer und der Kelte. Dazu
hatte er als Parzelleninhaber zwar nicht rechtlich, aber doch
tatsaechlich Land und Vieh, Weib und Kind wie der Gutsherr, und seit es
eine Freilassung gab, lag die Moeglichkeit, sich frei zu arbeiten, ihm
nicht fern. Wenn es mit dem grossen Grundbesitz der aeltesten Zeit sich
also verhielt, so war er keineswegs eine offene Wunde des Gemeinwesens,
sondern fuer dasselbe vom wesentlichsten Nutzen. Nicht bloss
verschaffte er nach Verhaeltnis ebenso vielen Familien eine wenn auch
im ganzen geringere Existenz wie der mittlere und kleine; sondern es
erwuchsen auch in den verhaeltnismaessig hoch und frei gestellten
Grundherren die natuerlichen Leiter und Regierer der Gemeinde, in den
ackerbauenden und eigentumslosen Bittpaechtern aber das rechte Material
fuer die roemische Kolonisationspolitik, welche ohne ein solches
nimmermehr gelingen konnte; denn der Staat kann wohl dem Vermoegenlosen
Land, aber nicht demjenigen, der kein Ackerbauer ist, den Mut und die
Kraft geben, um die Pflugschar zu fuehren.
Das Weideland ward von der Landaufteilung nicht betroffen. Es ist der
Staat, nicht die Geschlechtsgenossenschaft, der als Eigentuemer der
Gemeinweide betrachtet wird, und teils dieselbe fuer seine eigenen,
fuer die Opfer und zu anderen Zwecken bestimmten und durch die
Viehbussen stets in ansehnlichem Stande gehaltenen Herden benutzt,
teils den Viehbesitzern das Auftreiben auf dieselbe gegen eine maessige
Abgabe (scriptura) gestattet. Das Triftrecht am Gemeindeanger mag
urspruenglich tatsaechlich in einem gewissen Verhaeltnis zum
Grundbesitz gestanden haben. Allein eine rechtliche Verknuepfung der
einzelnen Ackerhufe mit einer bestimmten Teilnutzung der Gemeinweide
kann in Rom schon deshalb nie stattgefunden haben, weil das Eigentum
auch von dem Insassen erworben werden konnte, das Nutzungsrecht aber
dem Insassen wohl nur ausnahmsweise durch koenigliche Gnade gewaehrt
ward. In dieser Epoche indes scheint das Gemeindeland in der
Volkswirtschaft ueberhaupt nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu
haben, da die urspruengliche Gemeinweide wohl nicht sehr ausgedehnt
war, das eroberte Land aber wohl groesstenteils sogleich unter die
Geschlechter oder spaeter unter die einzelnen als Ackerland verteilt
ward.
Dass der Ackerbau in Rom wohl das erste und ausgedehnteste Gewerbe war,
daneben aber andere Zweige der Industrie nicht gefehlt haben, folgt
schon aus der fruehen Entwicklung des staedtischen Lebens in diesem
Emporium der Latiner, und in der Tat werden unter den Institutionen des
Koenigs Numa, das heisst unter den seit unvordenklicher Zeit in Rom
bestehenden Einrichtungen, acht Handwerkerzuenfte aufgezaehlt: der
Floetenblaeser, der Goldschmiede, der Kupferschmiede, der Zimmerleute,
der Walker, der Faerber, der Toepfer, der Schuster - womit fuer die
aelteste Zeit, wo man das Brotbacken und die gewerbmaessige Arzneikunst
noch nicht kannte und die Frauen des Hauses die Wolle zu den Kleidern
selber spannen, der Kreis der auf Bestellung fuer fremde Rechnung
arbeitenden Gewerke wohl im wesentlichen erschoepft sein wird.
Merkwuerdig ist es, dass keine eigene Zunft der Eisenarbeiter
erscheint. Es bestaetigt dies aufs neue, dass man in Latium erst
verhaeltnismaessig spaet mit der Bearbeitung des Eisens begonnen hat;
weshalb denn auch im Ritual zum Beispiel fuer den heiligen Pflug und
das priesterliche Schermesser bis in die spaeteste Zeit durchgaengig
nur Kupfer verwandt werden durfte. Fuer das staedtische Leben Roms und
seine Stellung zu der latinischen Landschaft muessen diese
Gewerkschaften in der aeltesten Periode von grosser Bedeutung gewesen
sein, die nicht abgemessen werden darf nach den spaeteren, durch die
Masse der fuer den Herrn oder auf seine Rechnung arbeitenden
Handwerkersklaven und die steigende Einfuhr von Luxuswaren gedrueckten
Verhaeltnissen des roemischen Handwerks. Die aeltesten Lieder Roms
feierten nicht bloss den gewaltigen Streitgott Mamers, sondern auch den
kundigen Waffenschmied Mamurius, der nach dem goettlichen vom Himmel
gefallenen Musterschild seinen Mitbuergern gleiche Schilde zu schmieden
verstanden hatte; der Gott des Feuers und der Esse Volcanus erscheint
bereits in dem uralten roemischen Festverzeichnis. Auch in dem
aeltesten Rom sind also wie allerorten die Kunst, die Pflugschar und
das Schwert zu schmieden und sie zu fuehren, Hand in Hand gegangen und
fand sich nichts von jener hoffaertigen Verachtung der Gewerke, die
spaeter daselbst begegnet. Seit indes die Servianische Ordnung den
Heerdienst ausschliesslich auf die Ansaessigen legte, waren die
Industriellen zwar nicht gesetzlich, aber doch wohl infolge ihrer
durchgaengigen Nichtansaessigkeit tatsaechlich vom Waffenrecht
ausgeschlossen, ausser insofern aus den Zimmerleuten, den
Kupferschmieden und gewissen Klassen der Spielleute eigene militaerisch
organisierte Abteilungen dem Heer beigegeben wurden; und es mag dies
wohl der Anfang sein zu der spaeteren sittlichen Geringschaetzung und
politischen Zuruecksetzung der Gewerke. Die Einrichtung der Zuenfte
hatte ohne Zweifel denselben Zweck wie die der auch im Namen ihnen
gleichenden Priestergemeinschaften: die Sachverstaendigen taten sich
zusammen, um die Tradition fester und sicherer zu bewahren. Dass
unkundige Leute in irgendeiner Weise ferngehalten wurden, ist
wahrscheinlich; doch finden sich keine Spuren weder von
Monopoltendenzen noch von Schutzmitteln gegen schlechte Fabrikation -
freilich sind auch ueber keine Seite des roemischen Volkslebens die
Nachrichten so voellig versiegt wie ueber die Gewerke.
Dass der italische Handel sich in der aeltesten Epoche auf den Verkehr
der Italiker untereinander beschraenkt hat, versteht sich von selbst.
Die Messen (mercatus), die wohl zu unterscheiden sind von den
gewoehnlichen Wochenmaerkten (nundinae), sind in Latium sehr alt. Sie
moegen sich zunaechst an die internationalen Zusammenkuenfte und Feste
angereiht, vielleicht also in Rom mit der Festfeier in dem Bundestempel
auf dem Aventin in Verbindung gestanden haben; die Latiner, die hierzu
jedes Jahr am 13. August nach Rom kamen, mochten diese Gelegenheit
zugleich benutzen, um ihre Angelegenheiten in Rom zu erledigen und
ihren Bedarf daselbst einzukaufen. Aehnliche und vielleicht noch
groessere Bedeutung hatte fuer Etrurien die jaehrliche
Landesversammlung am Tempel der Voltumna (vielleicht bei Montefiascone)
im Gebiet von Volsinii, welche zugleich als Messe diente und auch von
roemischen Kaufleuten regelmaessig besucht ward. Aber die bedeutendste
unter allen italischen Messen war die, welche am Soracte im Hain der
Feronia abgehalten ward, in einer Lage, wie sie nicht guenstiger zu
finden war fuer den Warentausch unter den drei grossen Nationen. Der
hohe, einzeln stehende Berg, der mitten in die Tiberebene wie von der
Natur selbst den Wanderern zum Ziel hingestellt erscheint, liegt an der
Grenzscheide der etruskischen und sabinischen Landschaft, zu welcher
letzteren er meistens gehoert zu haben scheint, und ist auch von Latium
und Umbrien aus mit Leichtigkeit zu erreichen; regelmaessig erschienen
hier die roemischen Kaufleute, und Verletzungen derselben fuehrten
manchen Hader mit den Sabinern herbei.
Ohne Zweifel handelte und tauschte man auf diesen Messen, lange bevor
das erste griechische oder phoenikische Schiff in die Westsee
eingefahren war. Hier halfen bei vorkommenden Missernten die
Landschaften einander mit Getreide aus; hier tauschte man ferner Vieh,
Sklaven, Metalle und was sonst in jenen aeltesten Zeiten notwendig oder
wuenschenswert erschien. Das aelteste Tauschmittel waren Rinder und
Schafe, so dass auf ein Rind zehn Schafe gingen; sowohl die
Feststellung dieser Gegenstaende als gesetzlich allgemein
stellvertretender oder als Geld, als auch der Verhaeltnissatz zwischen
Gross- und Kleinvieh reichen, wie die Wiederkehr von beiden besonders
bei den Deutschen zeigt, nicht bloss in die graecoitalische, sondern
noch darueber hinaus in die Zeit der reinen Herdenwirtschaft zurueck
^7. Daneben kam in Italien, wo man besonders fuer die Ackerbestellung
und die Ruestung allgemein des Metalls in ansehnlicher Menge bedurfte,
nur wenige Landschaften aber selbst die noetigen Metalle erzeugten,
sehr frueh als zweites Tauschmittel das Kupfer (aes) auf, wie denn den
kupferarmen Latinern die Schaetzung selbst die “Kupferung” (aestimatio)
hiess. In dieser Feststellung des Kupfers als allgemeinen, auf der
ganzen Halbinsel gueltigen Aequivalents, sowie in den spaeter noch
genauer zu erwaegenden einfachsten Zahlzeichen italischer Erfindung und
in dem italischen Duodezimalsystem duerften Spuren dieses aeltesten
sich noch selbst ueberlassenen Internationalverkehrs der italischen
Voelker vorliegen.
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^7 Der gesetzliche Verhaeltniswert der Schafe und Rinder geht
bekanntlich daraus hervor, dass, als man die Vieh- in Geldbussen
umsetzte, das Schaf zu zehn, das Rind zu hundert Assen angesetzt wurde
(Fest. v. peculatus p. 237, vgl. p. 34, 144; Gell. 11, 1; Plut. Publ.
11). Es ist dieselbe Bestimmung, wenn nach islaendischem Recht der Kuh
zwoelf Widder gleich gelten; nur dass hier, wie auch sonst, das
deutsche Recht dem aelteren dezimalen das Duodezimalsystem substituiert
hat.
Dass die Bezeichnung des Viehs bei den Latinern (pecunia) wie bei den
Deutschen (englisch fee) in die des Geldes uebergeht, ist bekannt.
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In welcher Art der ueberseeische Verkehr auf die unabhaengig
gebliebenen Italiker einwirkte, wurde im allgemeinen schon frueher
bezeichnet. Fast ganz unberuehrt von ihm blieben die sabellischen
Staemme, die nur einen geringen und unwirtlichen Kuestensaum
innehatten, und was ihnen von den fremden Nationen zukam, wie zum
Beispiel das Alphabet, nur durch tuskische oder latinische Vermittlung
empfingen; woher denn auch der Mangel staedtischer Entwicklung ruehrt.
Auch Tarents Verkehr mit den Apulern und Messapiern scheint in dieser
Epoche noch gering gewesen zu sein. Anders an der Westkueste, wo in
Kampanien Griechen und Italiker friedlich nebeneinander wohnten, in
Latium und mehr noch in Etrurien ein ausgedehnter und regelmaessiger
Warentausch stattfand. Was die aeltesten Einfuhrartikel waren, laesst
sich teils aus den Fundstuecken schliessen, die uralte, namentlich
caeritische Graeber ergeben haben, teils aus Spuren, die in der Sprache
und den Institutionen der Roemer bewahrt sind, teils und vorzugsweise
aus den Anregungen, die das italische Gewerbe empfing; denn natuerlich
kaufte man laengere Zeit die fremden Manufakte, ehe man sie nachzuahmen
begann. Wir koennen zwar nicht bestimmen, wie weit die Entwicklung der
Handwerke vor der Scheidung der Staemme und dann wieder in derjenigen
Periode gediehen ist, wo Italien sich selbst ueberlassen blieb; es mag
dahingestellt werden, inwieweit die italischen Walker, Faerber, Gerber
und Toepfer von Griechenland oder von Phoenikien aus den Anstoss
empfangen oder selbstaendig sich entwickelt haben. Aber sicher kann das
Gewerk der Goldschmiede, das seit unvordenklicher Zeit in Rom bestand,
erst aufgekommen sein, nachdem der ueberseeische Handel begonnen und in
einiger Ausdehnung unter den Bewohnern der Halbinsel Goldschmuck
vertrieben hatte. So finden wir denn auch in den aeltesten Grabkammern
von Caere und Vulci in Etrurien und Praeneste in Latium Goldplatten mit
eingestempelten gefluegelten Loewen und aehnlichen Ornamenten
babylonischer Fabrik. Es mag ueber das einzelne Fundstueck gestritten
werden, ob es vom Ausland eingefuehrt oder einheimische Nachahmung ist;
im ganzen leidet es keinen Zweifel, dass die ganze italische Westkueste
in aeltester Zeit Metallwaren aus dem Osten bezogen hat. Es wird sich
spaeter, wo von der Kunstuebung die Rede ist, noch deutlicher zeigen,
dass die Architektur wie die Plastik in Ton und Metall daselbst in sehr
frueher Zeit durch griechischen Einfluss eine maechtige Anregung
empfangen haben, das heisst, dass die aeltesten Werkzeuge und die
aeltesten Muster aus Griechenland gekommen sind. In die eben erwaehnten
Grabkammern waren ausser dem Goldschmuck noch mit eingelegt Gefaesse
von blaeulichem Schmelzglas oder gruenlichem Ton, nach Material und
Stil wie nach den eingedrueckten Hieroglyphen zu schliessen,
aegyptischen Ursprungs ^8; Salbgefaesse von orientalischem Alabaster,
darunter mehrere als Isis geformt; Strausseneier mit gemalten oder
eingeschnitzten Sphinxen und Greifen; Glas- und Bernsteinperlen. Die
letzten koennen aus dem Norden auf dem Landweg gekommen sein; die
uebrigen Gegenstaende aber beweisen die Einfuhr von Salben und
Schmucksachen aller Art aus dem Orient. Eben daher kamen Linnen und
Purpur, Elfenbein und Weihrauch, was ebenso der fruehe Gebrauch der
linnenen Binden, des purpurnen Koenigsgewandes, des elfenbeinernen
Koenigsszepters und des Weihrauchs beim Opfer beweist wie die uralten
Lehnnamen (λίνον līnum; πορφύρα purpura; σκήπτρον σκίπων scipio, auch
wohl ελέφας ebur; θύος thus). Eben dahin gehoert die Entlehnung einer
Anzahl auf Ess- und Trinkwaren bezueglicher Woerter, namentlich die
Benennung des Oels (vgl. 1, 200), der Kruege (αμφορεύς amp[h]ora
ampulla; κρατήρ cratera), des Schmausens (κωμάζω comissari), des
Leckergerichts (οψώνιον opsonium), des Teiges (μάζα massa) und
verschiedener Kuchennamen (γλυκούς lucuns; πλακούς placenta; τυρούς
turunda), wogegen umgekehrt die lateinischen Namen der Schuessel
(patina πατάνη) und des Specks (arvina αρβίνη) in das sizilische
Griechisch Eingang gefunden haben. Die spaetere Sitte, den Toten
attisches, kerkyraeisches und kampanisches Luxusgeschirr ins Grab zu
stellen, beweist eben wie diese sprachlichen Zeugnisse den fruehen
Vertrieb der griechischen Toepferwaren nach Italien. Dass die
griechische Lederarbeit in Latium wenigstens bei der Armatur Eingang
fand, zeigt die Verwendung des griechischen Wortes fuer Leder (σκύτος)
bei den Latinern fuer den Schild (scutum; wie lorica von lorum).
Endlich gehoeren hierher die zahlreichen aus dem Griechischen
entlehnten Schifferausdruecke, obwohl die Hauptschlagwoerter fuer die
Segelschiffahrt: Segel, Mast und Rahe doch merkwuerdigerweise rein
lateinisch gebildet sind ^9; ferner die griechische Benennung des
Briefes (επιστολή epistula), der Marke (tessera, von τέσσαρα ^10), der
Waage (στατήρ statera) und des Aufgeldes (αρραβών arrabo, arra) im
Lateinischen und umgekehrt die Aufnahme italischer Rechtsausdruecke in
das sizilische Griechisch, sowie der nachher zu erwaehnende Austausch
der Muenz-, Mass- und Gewichtsverhaeltnisse und Namen. Namentlich der
barbarische Charakter, den alle diese Entlehnungen an der Stirne
tragen, vor allem die charakteristische Bildung des Nominativs aus dem
Akkusativ (placenta = πλακούντα; ampora = αμφορέα; statera = στατήρα),
ist der klarste Beweis ihres hohen Alters. Auch die Verehrung des
Handelsgottes (Mercurius) erscheint von Haus aus durch griechische
Vorstellungen bedingt und selbst sein Jahrfest darum auf die Iden des
Mai gelegt zu sein, weil die hellenischen Dichter ihn feierten als den
Sohn der schoenen Maia.
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^8 Vor kurzem ist in Praeneste ein silberner Mischkrug mit einer
phoenikischen und einer Hieroglypheninschrift gefunden worden (Mon.
Inst. X., Taf. 32), welcher unmittelbar beweist, dass, was Aegyptisches
in Italien zum Vorschein kommt, durch phoenikische Vermittlung dorthin
gelangt ist.
^9 Velum ist sicher latinischen Ursprungs; ebenso malus, zumal da dies
nicht bloss den Mast-, sondern ueberhaupt den Baum bezeichnet; auch
antenna kann von ανά (anhelare, antestari) und tendere = supertensa
herkommen. Dagegen sind griechisch gubernare steuern κυβερνάν, ancora
Anker άγκυρα, prora Vorderteil πρώρα, aplustre Schiffshinterteil
άφλαστον, anquina der die Rahen festhaltende Strick άγκοινα, nausea
Seekrankheit ναυσία. Die alten vier Hauptwinde - aquilo der Adlerwind,
die nordoestliche Tramontana; volturnus (unsichere Ableitung,
vielleicht der Geierwind), der Suedost; auster, der ausdoerrende
Suedwestwind, der Scirocco; favonius, der guenstige, vom Tyrrhenischen
Meer herwehende Nordwestwind - haben einheimische nicht auf Schiffahrt
bezuegliche Namen; alle uebrigen lateinischen Windnamen aber sind
griechisch (wie eurus, notus) oder aus griechischen uebersetzt (z. B.
solanus = απηλιώτης, Africus = λίψ).
^10 Zunaechst sind die Marken im Lagerdienst gemeint, die ξυλήφια κατά
φυλακήν βραχέα τελέως έχοντα χαρακτήρα (Polyb. 6, 35, 7); die vier
vigiliae des Nachtdienstes haben den Marken ueberhaupt den Namen
gegeben. Die Vierteilung der Nacht fuer den Wachtdienst ist griechisch
wie roemisch; die Kriegswissenschaft der Griechen mag wohl, etwa durch
Pyrrhos (Liv. 35, 14), auf die Organisation des Sicherheitsdienstes im
roemischen Lager eingewirkt haben. Die Verwendung der nicht dorischen
Form spricht fuer verhaeltnismaessig spaete Uebernahme des Wortes.
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Sonach bezog das aelteste Italien so gut wie das kaiserliche Rom seine
Luxuswaren aus dem Osten, bevor es nach den von dort empfangenen
Mustern selbst zu fabrizieren versuchte; zum Austausch aber hatte es
nichts zu bieten als seine Rohprodukte, also vor allen Dingen sein
Kupfer, Silber und Eisen, dann Sklaven und Schiffsbauholz, den
Bernstein von der Ostsee und, wenn etwa im Ausland Missernte
eingetreten war, sein Getreide.
Aus diesem Stande des Warenbedarfs und der dagegen anzubietenden
Aequivalente ist schon frueher erklaert worden, warum sich der
italische Handel in Latium und in Etrurien so verschiedenartig
gestaltete. Die Latiner, denen alle hauptsaechlichen Ausfuhrartikel
mangelten, konnten nur einen Passivhandel fuehren und mussten schon in
aeltester Zeit das Kupfer, dessen sie notwendig bedurften, von den
Etruskern gegen Vieh oder Sklaven eintauschen, wie denn der uralte
Vertrieb der letzteren auf das rechte Tiberufer schon erwaehnt ward;
dagegen musste die tuskische Handelsbilanz in Caere wie in Populonia,
in Capua wie in Spina sich notwendig guenstig stellen. Daher der
schnell entwickelte Wohlstand dieser Gegenden und ihre maechtige
Handelsstellung, waehrend Latium vorwiegend eine ackerbauende
Landschaft bleibt. Es wiederholt sich dies in allen einzelnen
Beziehungen: die aeltesten nach griechischer Art, nur mit
ungriechischer Verschwendung gebauten und ausgestatteten Graeber finden
sich in Caere, waehrend mit Ausnahme von Praeneste, das eine
Sonderstellung gehabt zu haben und mit Falerii und dem suedlichen
Etrurien in besonders enger Verbindung gewesen zu sein scheint, die
latinische Landschaft nur geringen Totenschmuck auslaendischer Herkunft
und kein einziges eigentliches Luxusgrab aus aelterer Zeit aufweist,
vielmehr hier wie bei den Sabellern in der Regel ein einfacher Rasen
die Leiche deckte. Die aeltesten Muenzen, den grossgriechischen der
Zeit nach wenig nachstehend, gehoeren Etrurien, namentlich Populonia
an; Latium hat in der ganzen Koenigszeit mit Kupfer nach dem Gewicht
sich beholfen und selbst die fremden Muenzen nicht eingefuehrt, denn
nur aeusserst selten haben dergleichen, wie zum Beispiel eine von
Poseidonia, dort sich gefunden. In Architektur, Plastik und Toreutik
wirkten dieselben Anregungen auf Etrurien und auf Latium, aber nur dort
kommt ihnen ueberall das Kapital entgegen und erzeugt ausgedehnten
Betrieb und gesteigerte Technik. Es waren wohl im ganzen dieselben
Waren, die man in Latium und Etrurien kaufte, verkaufte und
fabrizierte; aber in der Intensitaet des Verkehrs stand die suedliche
Landschaft weit zurueck hinter den noerdlichen Nachbarn. Eben damit
haengt es zusammen, dass die nach griechischem Muster in Etrurien
angefertigten Luxuswaren auch in Latium, namentlich in Praeneste, ja in
Griechenland selbst Absatz fanden, waehrend Latium schwerlich jemals
dergleichen ausgefuehrt hat.
Ein nicht minder bemerkenswerter Unterschied des Verkehrs der Latiner
und Etrusker liegt in dem verschiedenen Handelszug. Ueber den aeltesten
Handel der Etrusker im Adriatischen Meere koennen wir kaum etwas
aussprechen als die Vermutung, dass er von Spina und Hatria
vorzugsweise nach Kerkyra gegangen ist. Dass die westlichen Etrusker
sich dreist in die oestlichen Meere wagten und nicht bloss mit
Sizilien, sondern auch mit dem eigentlichen Griechenland verkehrten,
ward schon gesagt. Auf alten Verkehr mit Attika deuten nicht bloss die
attischen Tongefaesse, die in den juengeren etruskischen Graebern so
zahlreich vorkommen und zu anderen Zwecken als zum Graeberschmuck, wie
bemerkt, wohl schon in dieser Epoche eingefuehrt worden sind, waehrend
umgekehrt die tyrrhenischen Erzleuchter und Goldschalen frueh in Attika
ein gesuchter Artikel wurden, sondern bestimmter noch die Muenzen. Die
Silberstuecke von Populonia sind nachgepraegt einem uralten, einerseits
mit dem Gorgoneion gestempelten, anderseits bloss mit einem
eingeschlagenen Quadrat versehenen Silberstueck, das sich in Athen und
an der alten Bernsteinstrasse in der Gegend von Posen gefunden hat und
das hoechst wahrscheinlich eben die in Athen auf Solons Geheiss
geschlagene Muenze ist. Dass ausserdem, und seit der Entwicklung der
karthagisch-etruskischen Seeallianz vielleicht vorzugsweise, die
Etrusker mit den Karthagern verkehrten, ward gleichfalls schon
erwaehnt; es ist beachtenswert, dass in den aeltesten Graebern von
Caere ausser einheimischem Bronze- und Silbergeraet vorwiegend
orientalische Waren sich gefunden haben, welche allerdings auch von
griechischen Kaufleuten herruehren koennen, wahrscheinlicher aber doch
von phoenikischen Handelsmaennern eingefuehrt wurden. Indes darf diesem
phoenikischen Verkehr nicht zu viel Bedeutung beigelegt und namentlich
nicht uebersehen werden, dass das Alphabet wie alle sonstigen
Anregungen und Befruchtungen der einheimischen Kultur von den Griechen,
nicht von den Phoenikern nach Etrurien gebracht sind.
Nach einer anderen Richtung weist der latinische Verkehr. So selten wir
auch Gelegenheit haben, Vergleichungen der roemischen und der
etruskischen Aufnahme hellenischer Elemente anzustellen, so zeigen sie
doch, wo sie moeglich sind, eine vollstaendige Unabhaengigkeit beider
Voelkerschaften voneinander. Am deutlichsten tritt dies hervor im
Alphabet: das von den chalkidisch-dorischen Kolonien in Sizilien oder
Kampanien den Etruskern zugebrachte griechische weicht nicht
unwesentlich ab von dem den Latinern ebendaher mitgeteilten, und beide
Voelker haben also hier zwar aus derselben Quelle, aber doch jedes zu
anderer Zeit und an einem anderen Ort geschoepft. Auch in einzelnen
Woertern wiederholt sich dieselbe Erscheinung: der roemische Pollux,
der tuskische Pultuke sind jedes eine selbstaendige Korruption des
griechischen Polydeukes; der tuskische Utuze oder Uthuze ist aus
Odysseus gebildet, der roemische Ulixes gibt genau die in Sizilien
uebliche Namensform wieder; ebenso entspricht der tuskische Aivas der
altgriechischen Form dieses Namens, der roemische Aiax einer wohl auch
sikelischen Nebenform; der roemische Aperta oder Apello, der
samnitische Appellun sind entstanden aus dem dorischen Apellon, der
tuskische Apulu a us Apollon. So deuten Sprache und Schrift Latiums
ausschliesslich auf den Zug des latinischen Handels zu den Kymaeern und
Sikelioten; und eben dahin fuehrt jede andere Spur, die aus so ferner
Zeit uns geblieben ist: die in Latium gefundene Muenze von Poseidonia;
der Getreidekauf bei Missernten in Rom bei den Volskern, Kymaeern und
Sikelioten, daneben freilich auch wie begreiflich bei den Etruskern;
vor allen Dingen aber das Verhaeltnis des latinischen Geldwesens zu dem
sizilischen. Wie die lokale dorisch-chalkidische Bezeichnung der
Silbermuenze νόμος, das sizilische Mass ημίνα als nummus und hemina in
gleicher Bedeutung nach Latium uebergingen, so waren umgekehrt die
italischen Gewichtsbezeichnungen libra, triens, quadrans, sextans,
uncia, die zur Abmessung des nach dem Gewichte an Geldes Statt
dienenden Kupfers in Latium aufgekommen sind, in den korrupten und
hybriden Formen λίτρα, τριάς, τετράς, εζάς, ουγκία schon im dritten
Jahrhundert der Stadt in Sizilien in den gemeinen Sprachgebrauch
eingedrungen. Ja es ist sogar das sizilische Gewicht- und Geldsystem
allein unter allen griechischen zu dem italischen Kupfersystem in ein
festes Verhaeltnis gesetzt worden, indem nicht bloss dem Silber der
zweihundertfuenfzigfache Wert des Kupfers konventionell und vielleicht
gesetzlich beigelegt, sondern auch das hiernach bemessene Aequivalent
eines sizilischen Pfundes Kupfer (1/120 des attischen Talents, 1/3 des
roemischen Pfundes) als Silbermuenze (λίτρα αργυρίου, das ist
“Kupferpfund in Silber”) schon in fruehester Zeit namentlich in Syrakus
geschlagen ward. Es kann danach nicht bezweifelt werden, dass die
italischen Kupferbarren auch in Sizilien an Geldes Statt umliefen; und
es stimmt dies auf das beste damit zusammen, dass der Handel der
Latiner nach Sizilien ein Passivhandel war und also das latinische Geld
nach Sizilien abfloss. Noch andere Beweise des alten Verkehrs zwischen
Sizilien und Italien, namentlich die Aufnahme der italischen
Benennungen des Handelsdarlehens, des Gefaengnisses, der Schuessel in
den sizilischen Dialekt und umgekehrt, sind bereits frueher erwaehnt
worden. Auch von dem alten Verkehr der Latiner mit den chalkidischen
Staedten in Unteritalien, Kyme und Neapolis, und mit den Phokaeern in
Elea und Massalia begegnen einzelne, wenn auch minder bestimmte Spuren.
Dass er indes bei weitem weniger intensiv war als der mit den
Sikelioten, beweist schon die bekannte Tatsache, dass alle in aelterer
Zeit nach Latium gelangten griechischen Woerter - es genuegt an
Aesculapius, Latona, Aperta, machina zu erinnern - dorische Formen
zeigen. Wenn der Verkehr mit den urspruenglich ionischen Staedten, wie
Kyme und die phokaeischen Ansiedlungen waren, dem mit den sikelischen
Dorern auch nur gleichgestanden haette, so wuerden ionische Formen
wenigstens daneben erscheinen; obwohl allerdings auch in diese
ionischen Kolonien selbst der Dorismus frueh eingedrungen ist und der
Dialekt hier sehr geschwankt hat. Waehrend also alles sich vereinigt,
um den regen Handel der Latiner mit den Griechen der Westsee ueberhaupt
und vor allem mit den sizilischen zu belegen, hat mit den asiatischen
Phoenikern schwerlich ein unmittelbarer Verkehr stattgefunden und kann
der Verkehr mit den afrikanischen, den Schriftstellen und Fundstuecke
hinreichend belegen, in seiner Einwirkung auf den Kulturstand Latiums
doch nur in zweiter Reihe gestanden haben; namentlich ist dafuer
beweisend, dass - von einigen Lokalnamen abgesehen - es fuer den alten
Verkehr der Latiner mit den Voelkerschaften aramaeischer Zunge an jedem
sprachlichen Zeugnis gebricht ^11.
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^11 Das Latein scheint, abgesehen von Sarranus, Afer und anderen
oertlichen Benennungen, nicht ein einziges, in aelterer Zeit
unmittelbar aus dem Phoenikischen entlehntes Wort zu besitzen. Die sehr
wenigen in demselben vorkommenden, wurzelhaft phoenikischen Woerter,
wie namentlich arrabo oder arra und etwa noch murra, nardus und
dergleichen mehr, sind offenbar zunaechst Lehnwoerter aus dem
Griechischen, das in solchen orientalischen Lehnwoertern eine ziemliche
Anzahl von Zeugnissen seines aeltesten Verkehrs mit den Aramaeern
aufzuweisen hat. Dass ελέφας und ebur von dem gleichen phoenikischen
Original mit oder ohne Hinzufuegung des Artikels, also jedes
selbstaendig gebildet seien, ist sprachlich unmoeglich, da der
phoenikische Artikel vielmehr ha ist, auch so nicht verwendet wird;
ueberdies ist das orientalische Urwort bis jetzt noch nicht gefunden.
Dasselbe gilt von dem raetselhaften Worte thesaurus; mag dasselbe nun
urspruenglich griechisch oder von den Griechen aus dem Phoenikischen
oder Persischen entlehnt sein, im Lateinischen ist es, wie schon die
Festhaltung der Aspiration beweist, auf jeden Fall griechisches
Lehnwort.
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Fragen wir weiter, wie dieser Handel vorzugsweise gefuehrt ward, ob von
italischen Kaufleuten in der Fremde oder von fremden Kaufleuten in
Italien, so hat, wenigstens was Latium anlangt, die erstere Annahme
alle Wahrscheinlichkeit fuer sich: es ist kaum denkbar, dass jene
latinischen Bezeichnungen des Geldsurrogats und des Handelsdarlehens in
den gemeinen Sprachgebrauch der Bewohner der sizilischen Insel dadurch
haetten eindringen koennen, dass sizilische Kaufleute nach Ostia gingen
und Kupfer gegen Schmuck einhandelten.
Was endlich die Personen und Staende anlangt, durch die dieser Handel
in Italien gefuehrt ward, so hat sich in Rom kein eigener, dem
Gutsbesitzerstand selbstaendig gegenueberstehender hoeherer
Kaufmannsstand entwickelt. Der Grund dieser auffallenden Erscheinung
ist, dass der Grosshandel von Latium von Anfang an sich in den Haenden
der grossen Grundbesitzer befunden hat - eine Annahme, die nicht so
seltsam ist, wie sie scheint. Dass in einer von mehreren schiffbaren
Fluessen durchschnittenen Landschaft der grosse Grundbesitzer, der von
seinen Paechtern in Fruchtquoten bezahlt wird, frueh zu dem Besitz von
Barken gelangte, ist natuerlich und beglaubigt; der ueberseeische
Eigenhandel musste also um so mehr dem Gutsbesitzer zufallen, als er
allein die Schiffe und in den Fruechten die Ausfuhrartikel besass. In
der Tat ist der Gegensatz zwischen Land- und Geldaristokratie den
Roemern der aelteren Zeit nicht bekannt; die grossen Grundbesitzer sind
immer zugleich die Spekulanten und die Kapitalisten. Bei einem sehr
intensiven Handel waere allerdings diese Vereinigung nicht
durchzufuehren gewesen; allein wie die bisherige Darstellung zeigt,
fand ein solcher in Rom wohl relativ statt, insofern der Handel der
latinischen Landschaft sich hier konzentrierte, allein im wesentlichen
ward Rom keineswegs eine Handelsstadt wie Caere oder Tarent, sondern
war und blieb der Mittelpunkt einer ackerbauenden Gemeinde.
KAPITEL XIV.
Mass und Schrift
Die Kunst des Messens unterwirft dem Menschen die Welt; durch die Kunst
des Schreibens hoert seine Erkenntnis auf, so vergaenglich zu sein, wie
er selbst ist; sie beide geben dem Menschen, was die Natur ihm
versagte, Allmacht und Ewigkeit. Es ist der Geschichte Recht und
Pflicht, den Voelkern auch auf diesen Bahnen zu folgen.
Um messen zu koennen, muessen vor allen Dingen die Begriffe der
zeitlichen, raeumlichen und Gewichtseinheit und des aus gleichen Teilen
bestehenden Ganzen, das heisst die Zahl und das Zahlensystem entwickelt
werden. Dazu bietet die Natur als naechste Anhaltspunkte fuer die Zeit
die Wiederkehr der Sonne und des Mondes oder Tag und Monat, fuer den
Raum die Laenge des Mannesfusses, der leichter misst als der Arm, fuer
die Schwere diejenige Last, welche der Mann mit ausgestrecktem Arm
schwebend auf der Hand zu wiegen (librare) vermag oder das “Gewicht”
(libra). Als Anhalt fuer die Vorstellung eines aus gleichen Teilen
bestehenden Ganzen liegt nichts so nahe als die Hand mit ihren fuenf
oder die Haende mit ihren zehn Fingern, und hierauf beruht das
Dezimalsystem. Es ist schon bemerkt worden, dass diese Elemente alles
Zaehlens und Messens nicht bloss ueber die Trennung des griechischen
und lateinischen Stammes, sondern bis in die fernste Urzeit
zurueckreichen. Wie alt namentlich die Messung der Zeit nach dem Monde
ist, beweist die Sprache; selbst die Weise, die zwischen den einzelnen
Mondphasen verfliessenden Tage nicht von der zuletzt eingetretenen
vorwaerts, sondern von der zunaechst zu erwartenden rueckwaerts zu
zaehlen, ist wenigstens aelter als die Trennung der Griechen und
Lateiner. Das bestimmteste Zeugnis fuer das Alter und die
urspruengliche Ausschliesslichkeit des Dezimalsystems bei den
Indogermanen gewaehrt die bekannte Uebereinstimmung aller
indogermanischen Sprachen in den Zahlwoertern bis hundert
einschliesslich. Was Italien anlangt, so sind hier alle aeltesten
Verhaeltnisse vom Dezimalsystem durchdrungen: es genuegt, an die so
gewoehnliche Zehnzahl der Zeugen, Buergen, Gesandten, Magistrate, an
die gesetzliche Gleichsetzung von einem Rind und zehn Schafen, an die
Teilung des Gaues in zehn Kurien und ueberhaupt die durchstehende
Dekuriierung, an die Limitation, den Opfer- und Ackerzehnten, das
Dezimieren, den Vornamen Decimus zu erinnern. Dem Gebiet von Mass und
Schrift angehoerige Anwendungen dieses aeltesten Dezimalsystems sind
zunaechst die merkwuerdigen italischen Ziffern. Konventionelle
Zahlzeichen hat es noch bei der Scheidung der Griechen und Italiker
offenbar nicht gegeben. Dagegen finden wir fuer die drei aeltesten und
unentbehrlichsten Ziffern, fuer ein, fuenf, zehn, drei Zeichen, I, V
oder A, X, offenbar Nachbildungen des ausgestreckten Fingers, der
offenen und der Doppelhand, welche weder den Hellenen noch den
Phoenikern entlehnt, dagegen den Roemern, Sabellern und Etruskern
gemeinschaftlich sind. Es sind die Ansaetze zur Bildung einer national
italischen Schrift und zugleich Zeugnisse von der Regsamkeit des
aeltesten, dem ueberseeischen voraufgehenden binnenlaendischen Verkehrs
der Italiker; welcher aber der italischen Staemme diese Zeichen
erfunden und wer von wem sie entlehnt hat, ist natuerlich nicht
auszumachen. Andere Spuren des rein dezimalen Systems sind auf diesem
Gebiet sparsam; es gehoeren dahin der Vorsus, das Flaechenmass der
Sabeller von 100 Fuss ins Gevierte und das roemische zehnmonatliche
Jahr. Sonst ist im allgemeinen in denjenigen italischen Massen, die
nicht an griechische Festsetzungen anknuepfen und wahrscheinlich von
den Italikern vor Beruehrung mit den Griechen entwickelt worden sind,
die Teilung des “Ganzen” (as) in zwoelf “Einheiten” (unciae)
vorherrschend. Nach der Zwoelfzahl sind eben die aeltesten latinischen
Priesterschaften, die Kollegien der Salier und Arvalen sowie auch die
etruskischen Staedtebuende geordnet. Die Zwoelfzahl herrscht im
roemischen Gewichtsystem, wo das Pfund (libra), und im Laengenmass, wo
der Fuss (pes) in zwoelf Teile zerlegt zu werden pflegen; die Einheit
des roemischen Flaechenmasses ist der aus dem Dezimal- und
Duodezimalsystem zusammengesetzte “Trieb” (actus) von 120 Fuss ins
Gevierte ^1. Im Koerpermass moegen aehnliche Bestimmungen verschollen
sein.
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^1 Urspruenglich sind sowohl “actus” Trieb, wie auch das noch haeufiger
vorkommende Doppelte davon, “iugerum”, Joch, wie unser “Morgen” nicht
Flaechen-, sondern Arbeitsmasse und bezeichnen dieser das Tage-, jener
das halbe Tagewerk, mit Ruecksicht auf die namentlich in Italien scharf
einschneidende Mittagsruhe des Pfluegers.
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Wenn man erwaegt, worauf das Duodezimalsystem beruhen, wie es gekommen
sein mag, dass aus der gleichen Reihe der Zahlen so frueh und allgemein
neben der Zehn die Zwoelf hervorgetreten ist, so wird die Veranlassung
wohl nur gefunden werden koennen in der Vergleichung des Sonnen- und
Mondlaufs. Mehr noch als an der Doppelhand von zehn Fingern ist an dem
Sonnenkreislauf von ungefaehr zwoelf Mondkreislaeufen zuerst dem
Menschen die tiefsinnige Vorstellung einer aus gleichen Einheiten
zusammengesetzten Einheit aufgegangen und damit der Begriff eines
Zahlensystems, der erste Ansatz mathematischen Denkens. Die feste
duodezimale Entwicklung dieses Gedankens scheint national italisch zu
sein und vor die erste Beruehrung mit den Hellenen zu fallen.
Als nun aber der hellenische Handelsmann sich den Weg an die italische
Westkueste eroeffnet hatte, empfanden zwar nicht das Flaechen-, aber
wohl das Laengenmass, das Gewicht und vor allem das Koerpermass, das
heisst diejenigen Bestimmungen, ohne welche Handel und Wandel
unmoeglich ist, die Folgen des neuen internationalen Verkehrs. Der
aelteste roemische Fuss ist verschollen; der, den wir kennen und der in
fruehester Zeit bei den Roemern in Gebrauch war, ist aus Griechenland
entlehnt und wurde neben seiner neuen roemischen Einteilung in
Zwoelftel auch nach griechischer Art in vier Hand- (palmus) und
sechzehn Fingerbreiten (digitus) geteilt. Ferner wurde das roemische
Gewicht in ein festes Verhaeltnis zu dem attischen gesetzt, welches in
ganz Sizilien herrschte, nicht aber in Kyme - wieder ein bedeutsamer
Beweis, dass der latinische Verkehr vorzugsweise nach der Insel sich
zog; vier roemische Pfund wurden gleich drei attischen Minen oder
vielmehr das roemische Pfund gleich anderthalb sizilischen Litren oder
Halbminen gesetzt. Das seltsamste und buntscheckigste Bild aber bieten
die roemischen Koerpermasse teils in den Namen, die aus den
griechischen entweder durch Verderbnis (amphora, modius nach μέδιμνος
congius aus χοεύς, hemina, cyathus) oder durch Uebersetzung (acetabulum
von οξύβαφον) entstanden sind, waehrend umgekehrt ξέστης Korruption von
sextarius ist; teils in den Verhaeltnissen. Nicht alle, aber die
gewoehnlichen Masse sind identisch: fuer Fluessigkeiten der Congius
oder Chus, der Sextarius, der Cyathus, die beiden letzteren auch fuer
trockene Waren, die roemische Amphora ist im Wassergewicht dem
attischen Talent gleichgesetzt und steht zugleich im festen
Verhaeltnisse zu dem griechischen Metretes von 3 : 2, zu dem
griechischen Medimnos von 2 : 1. Fuer den, der solche Schrift zu lesen
versteht, steht in diesen Namen und Zahlen die ganze Regsamkeit und
Bedeutung jenes sizilisch-latinischen Verkehrs geschrieben.
Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht auf; wohl aber benutzte der
Roemer das griechische Alphabet, als ihm dies zukam, um aus den ihm
unnuetzen Zeichen der drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50 und 1000,
vielleicht auch die Ziffer 100 zu gestalten. In Etrurien scheint man
auf aehnlichem Wege wenigstens das Zeichen fuer 100 gewonnen zu haben.
Spaeter setzte sich wie gewoehnlich das Ziffersystem der beiden
benachbarten Voelker ins gleiche, indem das roemische im wesentlichen
in Etrurien angenommen ward.
In gleicher Weise ist der roemische und wahrscheinlich ueberhaupt der
italische Kalender, nachdem er sich selbstaendig zu entwickeln begonnen
hatte, spaeter unter griechischen Einfluss gekommen. In der
Zeiteinteilung draengt sich die Wiederkehr des Sonnenauf- und
-unterganges und des Neu- und Vollmondes am unmittelbarsten dem
Menschen auf; demnach haben Tag und Monat, nicht nach zyklischer
Vorberechnung, sondern nach unmittelbarer Beobachtung bestimmt, lange
Zeit ausschliesslich die Zeit gemessen. Sonnenauf- und -untergang
wurden auf dem roemischen Markte durch den oeffentlichen Ausrufer bis
in spaete Zeit hinab verkuendigt, aehnlich vermutlich einstmals an
jedem der vier Mondphasentage die von da bis zum naechstfolgenden
verfliessende Tagzahl durch die Priester abgerufen. Man rechnete also
in Latium und vermutlich aehnlich nicht bloss bei den Sabellern,
sondern auch bei den Etruskern nach Tagen, welche, wie schon gesagt,
nicht von dem letztverflossenen Phasentag vorwaerts, sondern von dem
naechsterwarteten rueckwaerts gezaehlt wurden; nach Mondwochen, die bei
der mittleren Dauer von 7⅜ Tagen zwischen sieben- und achttaegiger
Dauer wechselten; und nach Mondmonaten, die gleichfalls bei der
mittleren Dauer des synodischen Monats von 29 Tagen 12 Stunden 44
Minuten bald neunundzwanzig-, bald dreissigtaegig waren. Eine gewisse
Zeit hindurch ist den Italikern der Tag die kleinste, der Mond die
groesste Zeiteinteilung geblieben. Erst spaeterhin begann man Tag und
Nacht in je vier Teile zu zerlegen, noch viel spaeter der
Stundenteilung sich zu bedienen; damit haengt auch zusammen, dass in
der Bestimmung des Tagesanfangs selbst die sonst naechstverwandten
Staemme auseinandergehen, die Roemer denselben auf die Mitternacht, die
Sabeller und die Etrusker auf den Mittag setzen. Auch das Jahr ist,
wenigstens als die Griechen von den Italikern sich schieden, noch nicht
kalendarisch geordnet gewesen, da die Benennungen des Jahres und der
Jahresteile bei den Griechen und den Italikern voellig selbstaendig
gebildet sind. Doch scheinen die Italiker schon in der vorhellenischen
Zeit wenn nicht zu einer festen kalendarischen Ordnung, doch zur
Aufstellung sogar einer doppelten groesseren Zeiteinheit
fortgeschritten zu sein. Die bei den Roemern uebliche Vereinfachung der
Rechnung nach Mondmonaten durch Anwendung des Dezimalsystems, die
Bezeichnung einer Frist von zehn Monaten als eines “Ringes” (annus)
oder eines Jahrganzen traegt alle Spuren des hoechsten Altertums an
sich. Spaeter, aber auch noch in einer sehr fruehen und unzweifelhaft
ebenfalls jenseits der griechischen Einwirkung liegenden Zeit ist, wie
schon gesagt wurde, das Duodezimalsystem in Italien entwickelt und, da
es eben aus der Beobachtung des Sonnenlaufs als des Zwoelffachen des
Mondlaufs hervorgegangen ist, sicher zuerst und zunaechst auf die
Zeitrechnung bezogen worden; damit wird es zusammenhaengen, dass in den
Individualnamen der Monate - welche erst entstanden sein koennen, seit
der Monat als Teil eines Sonnenjahres aufgefasst wurde -, namentlich in
den Namen des Maerz und des Mai, nicht Italiker und Griechen, aber wohl
die Italiker unter sich uebereinstimmen. Es mag also das Problem, einen
zugleich dem Mond und der Sonne entsprechenden praktischen Kalender
herzustellen - diese in gewissem Sinne der Quadratur des Zirkels
vergleichbare Aufgabe, die als unloesbar zu erkennen und zu beseitigen
es vieler Jahrhunderte bedurft hat -, in Italien bereits vor der
Epoche, wo die Beruehrungen mit den Griechen begannen, die Gemueter
beschaeftigt haben; indes diese rein nationalen Loesungsversuche sind
verschollen. Was wir von dem aeltesten Kalender Roms und einiger andern
latinischen Staedte wissen - ueber die sabellische und etruskische
Zeitmessung ist ueberall nichts ueberliefert -, beruht entschieden auf
der aeltesten griechischen Jahresordnung, die der Absicht nach zugleich
den Phasen des Mondes und den Sonnenfahrzeiten folgte und aufgebaut war
auf der Annahme eines Mondumlaufs von 29½ Tagen, eines Sonnenumlaufs
von 12½ Mondmonaten oder 368¾ Tagen und dem stetigen Wechsel der vollen
oder dreissigtaegigen und der hohlen oder neunundzwanzigtaegigen Monate
sowie der zwoelf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, daneben aber durch
willkuerliche Aus- und Einschaltungen in einiger Harmonie mit den
wirklichen Himmelserscheinungen gehalten ward. Es ist moeglich, dass
diese griechische Jahrordnung zunaechst unveraendert bei den Latinern
in Gebrauch gekommen ist; die aelteste roemische Jahrform aber, die
sich geschichtlich erkennen laesst, weicht zwar nicht im zyklischen
Ergebnis und ebenso wenig in dem Wechsel der zwoelf- und der
dreizehnmonatlichen Jahre, wohl aber wesentlich in der Benennung wie in
der Abmessung der einzelnen Monate von ihrem Muster ab. Dies roemische
Jahr beginnt mit Fruehlingsanfang; der erste Monat desselben und der
einzige, der von einem Gott den Namen traegt, heisst nach dem Mars
(Martius), die drei folgenden vom Sprossen (aprilis), Wachsen (maius)
und Gedeihen (iunius), der fuenfte bis zehnte von ihren Ordnungszahlen
(quinctilis, sextilis, september, october, november, december), der
elfte vom Anfangen (ianuarius, 1, 178), wobei vermutlich an den nach
dem Mittwinter und der Arbeitsruhe folgenden Wiederbeginn der
Ackerbestellung gedacht ist, der zwoelfte und im gewoehnlichen Jahr der
letzte vom Reinigen (februarius). Zu dieser im stetigen Kreislauf
wiederkehrenden Reihe tritt im Schaltjahr noch ein namenloser
“Arbeitsmonat” (mercedonius) am Jahresschluss, also hinter dem Februar
hinzu. Ebenso wie in den wahrscheinlich aus dem altnationalen
heruebergenommenen Namen der Monate ist der roemische Kalender in der
Dauer derselben selbstaendig: fuer die vier aus je sechs dreissig- und
sechs neunundzwanzigtaegigen Monaten und einem jedes zweite Jahr
eintretenden, abwechselnd dreissig- und neunundzwanzigtaegigen
Schaltmonat zusammengesetzten Jahre des griechischen Zyklus (354 + 384
+ 354 + 383 = 1475 Tage) sind in ihm gesetzt worden vier Jahre von je
vier - dem ersten, dritten, fuenften und achten - einunddreissig- und
je sieben neunundzwanzigtaegigen Monaten, ferner einem in drei Jahren
acht-, in dem vierten neunundzwanzigtaegigen Februar und einem jedes
andere Jahr eingelegten siebenundzwanzigtaegigen Schaltmonat (355 + 383
+ 355 + 382 = 1475 Tage). Ebenso ging dieser Kalender ab von der
urspruenglichen Einteilung des Monats in vier, bald sieben-, bald
achttaegige Wochen; er liess die achttaegige Woche ohne Ruecksicht auf
die sonstigen Kalenderverhaeltnisse durch die Jahre laufen, wie unsere
Sonntage es tun, und setzte auf deren Anfangstage (noundinae) den
Wochenmarkt. Er setzte daneben ein fuer allemal das erste Viertel in
den einunddreissigtaegigen Monaten auf den siebenten, in den
neunundzwanzigtaegigen auf den fuenften, Vollmond in jenen auf den
fuenfzehnten, in diesen auf den dreizehnten Tag. Bei dem also fest
geordneten Verlauf der Monate brauchte von jetzt ab allein die Zahl der
zwischen dem Neumond und dem ersten Viertel liegenden Tage angekuendigt
zu werden; davon empfing der Tag des Neumonds den Namen des Rufetages
(kalendae). Der Anfangstag des zweiten, immer achttaegigen
Zeitabschnitts des Monats wurde - der roemischen Sitte gemaess, den
Zieltag der Frist mit in dieselbe einzuzaehlen - bezeichnet als Neuntag
(nonae). Der Tag des Vollmonds behielt den alten Namen idus (vielleicht
Scheidetag). Das dieser seltsamen Neugestaltung des Kalenders zu Grunde
liegende Motiv scheint hauptsaechlich der Glaube an die heilbringende
Kraft der ungeraden Zahl gewesen zu sein ^2, und wenn er im allgemeinen
an die aelteste griechische Jahrform sich anlehnt, so tritt in seinen
Abweichungen von dieser bestimmt der Einfluss der damals in
Unteritalien uebermaechtigen, namentlich in Zahlenmystik sich
bewegenden Lehren des Pythagoras hervor. Die Folge aber war, dass
dieser roemische Kalender, so deutlich er auch die Spur an sich traegt,
sowohl mit dem Mond- wie mit dem Sonnenlauf harmonieren zu wollen, doch
in der Tat mit dem Mondlauf keineswegs so uebereinkam, wie wenigstens
im ganzen sein griechisches Vorbild, den Sonnenfahrzeiten aber, eben
wie der aelteste griechische, nicht anders als mittels haeufiger
willkuerlicher Ausschaltungen folgen konnte, und da man den Kalender
schwerlich mit groesserem Verstande gehandhabt als eingerichtet hat,
hoechst wahrscheinlich nur sehr unvollkommen folgte. Auch liegt in der
Festhaltung der Rechnung nach Monaten oder, was dasselbe ist, nach
zehnmonatlichen Jahren ein stummes, aber nicht misszuverstehendes
Eingestaendnis der Unregelmaessigkeit und Unzuverlaessigkeit des
aeltesten roemischen Sonnenjahres. Seinem wesentlichen Schema nach wird
dieser roemische Kalender mindestens als allgemein latinisch angesehen
werden koennen. Bei der allgemeinen Wandelbarkeit des Jahresanfangs und
der Monatsnamen sind kleinere Abweichungen in der Bezifferung und den
Benennungen mit der Annahme einer gemeinschaftlichen Grundlage wohl
vereinbar; ebenso konnten bei jenem Kalenderschema, das tatsaechlich
von dem Mondumlauf absieht, die Latiner leicht zu ihren willkuerlichen,
etwa nach Jahrfesten abgegrenzten Monatlaengen kommen, wie denn
beispielsweise in den albanischen die Monate zwischen 16 und 36 Tagen
schwanken. Wahrscheinlich also ist die griechische Trieteris von
Unteritalien aus fruehzeitig wenigstens nach Latium, vielleicht auch zu
anderen italischen Staemmen gelangt und hat dann in den einzelnen
Stadtkalendern weitere untergeordnete Umgestaltungen erfahren.
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^2 Aus derselben Ursache sind saemtliche Festtage ungerade, sowohl die
in jedem Monat wiederkehrenden (kalendae am 1., nonae am 5. oder 7.,
idus am 13. oder 15.) als auch, mit nur zwei Ausnahmen, die Tage der
oben erwaehnten 45 Jahresfeste. Dies geht so weit, dass bei
mehrtaegigen Festen dazwischen die geraden Tage ausfallen, also z. B.
das der Carmentis am 11., 15. Januar, das Hainfest am 19., 21. Juli,
die Gespensterfeier am 9., 11., 13. Mai begangen wird.
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Zur Messung mehrjaehriger Zeitraeume konnte man sich der
Regierungsjahre der Koenige bedienen; doch ist es zweifelhaft, ob diese
dem Orient gelaeufige Datierung in Griechenland und Italien in
aeltester Zeit vorgekommen ist. Dagegen scheint an die vierjaehrige
Schaltperiode und die damit verbundene Schatzung und Suehnung der
Gemeinde eine der griechischen Olympiadenzaehlung der Anlage nach
gleiche Zaehlung der Lustren angeknuepft zu haben, die indes infolge
der bald in der Abhaltung der Schatzungen einreissenden
Unregelmaessigkeit ihre chronologische Bedeutung frueh wieder
eingebuesst hat.
Juenger als die Messkunst ist die Kunst der Lautschrift. Die Italiker
haben sowenig wie die Hellenen von sich aus eine solche entwickelt,
obwohl in den italischen Zahlzeichen, etwa auch in dem uralt italischen
und nicht aus hellenischem Einfluss hervorgegangenen Gebrauch des
Losziehens mit Holztaefelchen, die Ansaetze zu einer solchen
Entwicklung gefunden werden koennen. Wie schwierig die erste
Individualisierung der in so mannigfaltigen Verbindungen auftretenden
Laute gewesen sein muss, beweist am besten die Tatsache, dass fuer die
gesamte aramaeische, indische, griechisch-roemische und heutige
Zivilisation ein einziges, von Volk zu Volk und von Geschlecht zu
Geschlecht fortgepflanztes Alphabet ausgereicht hat und heute noch
ausreicht; und auch dieses bedeutsame Erzeugnis des Menschengeistes ist
gemeinsame Schoepfung der Aramaeer und der Indogermanen. Der semitische
Sprachstamm, in dem der Vokal untergeordneter Natur ist und nie ein
Wort beginnen kann, erleichtert eben deshalb die Individualisierung des
Konsonanten; weshalb denn auch hier das erste, der Vokale aber noch
entbehrende Alphabet erfunden worden ist. Erst die Inder und die
Griechen haben, jedes Volk selbstaendig und in hoechst abweichender
Weise, aus der durch den Handel ihnen zugefuehrten aramaeischen
Konsonantenschrift das vollstaendige Alphabet erschaffen durch
Hinzufuegung der Vokale, welche erfolgte durch die Verwendung von vier
fuer die Griechen als Konsonantenzeichen unbrauchbarer Buchstaben fuer
die vier Vokale a e i o und durch Neubildung des Zeichens fuer u, also
durch Einfuehrung der Silbe in die Schrift statt des blossen
Konsonanten, oder wie Palamedes bei Euripides sagt:
Heilmittel also ordnend der Vergessenheit
Fuegt ich lautlos’ und lautende in Silben ein
Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen.
Dies aramaeisch-hellenische Alphabet ist denn auch den Italikern
zugebracht worden und zwar durch die italischen Hellenen, nicht aber
durch die Ackerkolonien Grossgriechenlands, sondern durch die Kaufleute
etwa von Kyme oder Tarent, von denen es zunaechst nach den uralten
Vermittlungsstaetten des internationalen Verkehrs in Latium und
Etrurien, nach Rom und Caere gelangt sein wird. Das Alphabet, das die
Italiker empfingen, ist keineswegs das aelteste hellenische: es hatte
schon mehrfache Modifikationen erfahren, namentlich den Zusatz der drei
Buchstaben ξ φ χ und die Abaenderung der Zeichen fuer υ γ λ ^3. Auch
das ist schon bemerkt worden, dass das etruskische und das latinische
Alphabet nicht eines aus dem anderen, sondern beide unmittelbar aus dem
griechischen abgeleitet sind; ja es ist sogar dies Alphabet nach
Etrurien und nach Latium in wesentlich abweichender Form gelangt. Das
etruskische Alphabet kennt ein doppeltes s (Sigma s und San sch) und
nur ein einfaches k ^4 und vom r nur die aeltere Form P; das latinische
kennt, soviel wir wissen, nur ein einziges s, dagegen ein doppeltes k
(Kappa k und Koppa q) und vom r fast nur die juengere Form R. Die
aelteste etruskische Schrift kennt noch die Zeile nicht und windet sich
wie die Schlange sich ringelt, die juengere schreibt in abgesetzten
Parallelzeilen von rechts nach links; die latinische Schrift kennt,
soweit unsere Denkmaeler zurueckreichen, nur die letztere Schreibung in
gleichgerichteten Zeilen, die urspruenglich wohl beliebig von links
nach rechts oder von rechts nach links laufen konnten, spaeterhin bei
den Roemern in jener, bei den Faliskern in dieser Richtung liefen. Das
nach Etrurien gebrachte Musteralphabet muss trotz seines relativ
geneuerten Charakters dennoch in eine sehr alte, wenn auch nicht
positiv zu bestimmende Zeit hinaufreichen: denn da die beiden
Sibilanten Sigma und San von den Etruskern stets als verschiedene Laute
nebeneinander gebraucht worden sind, so muss das griechische Alphabet,
das nach Etrurien kam, sie wohl auch noch in dieser Weise beide als
lebendige Lautzeichen besessen haben; unter allen uns bekannten
Denkmaelern der griechischen Sprache aber zeigt auch nicht eines Sigma
und San nebeneinander im Gebrauch. Das lateinische Alphabet traegt
allerdings, wie wir es kennen, im ganzen einen juengeren Charakter;
doch ist es nicht unwahrscheinlich, dass in Latium nicht, wie in
Etrurien, bloss eine einmalige Rezeption stattgefunden hat, sondern die
Latiner infolge ihres lebhaften Verkehrs mit den griechischen Nachbarn
laengere Zeit sich mit dem dort ueblichen Alphabet im Gleichgewicht
hielten und den Schwankungen desselben folgten. So finden wir zum
Beispiel, dass die Formen /W, P ^5 und E den Roemern nicht unbekannt
waren, aber die juengeren AA, R und >, dieselben im gemeinen Gebrauch
ersetzten; was sich nur erklaeren laesst, wenn die Latiner laengere
Zeit fuer ihre griechischen Aufzeichnungen wie fuer die in der
Muttersprache sich des griechischen Alphabets als solchen bedienten.
Deshalb ist es auch bedenklich, aus dem verhaeltnismaessig juengeren
Charakter desjenigen griechischen Alphabets, das wir in Rom finden, und
dem aelteren des nach Etrurien gebrachten den Schluss zu ziehen, dass
in Etrurien frueher geschrieben worden ist als in Rom.
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^3 Die Geschichte des Alphabets bei den Hellenen besteht im
wesentlichen darin, dass gegenueber dem Uralphabet von 23 Buchstaben,
das heisst dem vokalisierten und mit dem u vermehrten phoenikischen,
die verschiedenartigsten Vorschlaege zur Ergaenzung und Verbesserung
desselben gemacht worden sind und dass jeder dieser Vorschlaege seine
eigene Geschichte gehabt hat. Die wichtigsten dieser Vorschlaege, die
auch fuer die Geschichte der italischen Schrift im Auge zu behalten
vor. Interesse ist, sind die folgenden.
I. Einfuehrung eigener Zeichen fuer die Laute ξ φ χ. Dieser Vorschlag
ist so alt, dass mit einziger Ausnahme desjenigen der Inseln Thera,
Melos und Kreta alle griechischen und schlechterdings alle aus dem
griechischen abgeleiteten Alphabete unter dem Einfluss desselben
stehen. Urspruenglich ging er wohl dahin, die Zeichen Χ ξι, Φ φι, Ψ χι
dem Alphabet am Schluss anzufuegen, und in dieser Gestalt hat er auf
dem Festland von Hellas mit Ausnahme von Athen und Korinth und ebenso
bei den sizilischen und italischen Griechen Annahme gefunden. Die
kleinasiatischen Griechen dagegen und die der Inseln des Archipels,
ferner auf dem Festland die Korinther scheinen, als dieser Vorschlag zu
ihnen gelangte, fuer den Laut ~i bereits das fuenfzehnte Zeichen des
phoenikischen Alphabets (Samech) Ξ im Gebrauch gehabt zu haben; sie
verwendeten deshalb von den drei neuen Zeichen zwar das Φ auch fuer φι,
aber das Χ nicht fuer ξι sondern fuer χι. Das dritte, urspruenglich
fuer χι erfundene Zeichen liess man wohl meistenteils fallen; nur im
kleinasiatischen Festland hielt man es fest, gab ihm aber den Wert ψι.
Der kleinasiatischen Schreibweise folgte auch Athen, nur dass hier
nicht bloss das ψι, sondern auch das ξι nicht angenommen, sondern
dafuer wie frueher der Doppelkonsonant geschrieben ward.
II. Ebenso frueh, wenn nicht noch frueher, hat man sich bemueht, die
naheliegende Verwechslung der Formen fuer i und s zu verhueten; denn
saemtliche uns bekannte griechische Alphabete tragen die Spuren des
Bestrebens, beide Zeichen anders und schaerfer zu unterscheiden. Aber
schon in aeltester Zeit muessen zwei Aenderungsvorschlaege gemacht
sein, deren jeder seinen eigenen Verbreitungskreis gefunden hat:
entweder man verwendete fuer den Sibilanten, wofuer das phoenikische
Alphabet zwei Zeichen, das vierzehnte (M) fuer sch und das achtzehnte
(Σ) fuer s, darbot, statt des letzteren, lautlich angemesseneren
vielmehr jenes - und so schrieb man in aelterer Zeit auf den oestlichen
Inseln, in Korinth und Kerkyra und bei den italischen Achaeern - oder
man ersetzte das Zeichen des i durch einfachen Strich І, was bei weitem
das Gewoehnlichere war und in nicht allzu spaeter Zeit wenigstens
insofern allgemein ward, als das gebrochene i ueberall verschwand,
wenngleich einzelne Gemeinden das s in der Form M auch neben dem І
festhielten.
III. Juenger ist die Ersetzung des leicht mit Γ γ zu verwechselnden λ Λ
durch V, der wir in Athen und Boeotien begegnen, waehrend Korinth und
die von Korinth abhaengigen Gemeinden denselben Zweck dadurch
erreichten, dass sie dem γ statt der haken- die halbkreisfoermige
Gestalt C gaben.
IV. Die ebenfalls der Verwechslung sehr ausgesetzten Formen fuer ρ Ρ p
p und r P wurden unterschieden durch Umgestaltung des letzteren in R;
welche juengere Form nur den kleinasiatischen Griechen, den Kretern,
den italischen Achaeern und wenigen anderen Landschaften fremd
geblieben ist, dagegen sowohl in dem eigentlichen wie in
Grossgriechenland und Sizilien weit aeberwiegt. Doch ist die aeltere
Form des r p hier nicht so frueh und so voellig verschwunden wie die
aeltere Form des l; diese Neuerung faellt daher ohne Zweifel spaeter.
Die Differenzierung des langen und kurzen e und des langen und kurzen o
ist in aelterer Zeit beschraenkt geblieben auf die Griechen Kleinasiens
und der Inseln des Aegaeischen Meeres.
Alle diese technischen Verbesserungen sind insofern gleicher Art und
geschichtlich von gleichem Wert, als eine jede derselben zu einer
bestimmten Zeit und an einem bestimmten Orte aufgekommen ist und sodann
ihren eigenen Verbreitungsweg genommen und ihre besondere Entwicklung
gefunden hat. Die vortreffliche Untersuchung A. Kirchhoffs (Studien zur
Geschichte des griechischen Alphabets. Guetersloh 1863), welche auf die
bisher so dunkle Geschichte des hellenischen Alphabets ein helles Licht
geworfen und auch fuer die aeltesten Beziehungen zwischen Hellenen und
Italikern wesentliche Daten ergeben, namentlich die bisher ungewisse
Heimat des etruskischen Alphabets unwiderleglich festgestellt hat,
leidet insofern an einer gewissen Einseitigkeit, als sie auf einen
einzelnen dieser Vorschlaege verhaeltnismaessig zu grosses Gewicht
legt. Wenn ueberhaupt hier Systeme geschieden werden sollen, darf man
die Alphabete nicht nach der Geltung des X als ξ oder als χ in zwei
Klassen teilen, sondern wird man das Alphabet von 23 und das von 25
oder 26 Buchstaben und etwa in dem letzteren noch das
kleinasiatisch-ionische, aus dem das spaetere Gemeinalphabet
hervorgegangen ist, und das gemeingriechische der aelteren Zeit zu
unterscheiden haben. Es haben aber vielmehr im Alphabet die einzelnen
Landschaften sich den verschiedenen Modifikationsvorschlaegen
gegenueber wesentlich eklektisch verhalten und ist der eine hier, der
andere dort rezipiert worden. Eben insofern ist die Geschichte des
griechischen Alphabets so lehrreich, als sie zeigt, wie in Handwerk und
Kunst einzelne Gruppen der griechischen Landschaften die Neuerungen
austauschten, andere in keinem solchen Wechselverhaeltnis standen. Was
insbesondere Italien betrifft, so ist schon auf den merkwuerdigen
Gegensatz der achaeischen Ackerstaedte zu den chalkidischen und
dorischen mehr kaufmaennischen Kolonien aufmerksam gemacht worden; in
jenen sind durchgaengig die primitiven Formen festgehalten, in diesen
die verbesserten Formen angenommen, selbst solche, die von
verschiedenen Seiten kommend sich gewissermassen widersprechen, wie das
C Y neben dem V l. Die italischen Alphabete stammen, wie Kirchhoff
gezeigt hat, durchaus von dem Alphabet der italischen Griechen und zwar
von dem chalkidisch-dorischen her; dass aber die Etrusker und die
Latiner nicht die einen von den andern, sondern beide unmittelbar von
den Griechen das Alphabet empfingen, setzt besonders die verschiedene
Form des r ausser Zweifel. Denn waehrend von den vier oben bezeichneten
Modifikationen des Alphabets, die die italischen Griechen ueberhaupt
angehen (die fuenfte blieb auf Kleinasien beschraenkt), die drei ersten
bereits durchgefuehrt waren, bevor dasselbe auf die Etrusker und
Latiner ueberging, war die Differenzierung von p und r noch nicht
geschehen, als dasselbe nach Etrurien kam, dagegen wenigstens begonnen,
als die Latiner es empfingen, weshalb fuer r die Etrusker die Form R
gar nicht kennen, dagegen bei den Faliskern und den Latinern mit der
einzigen Ausnahme des Dresselschen Tongefaesses ausschliesslich die
juengere Form begegnet.
^4 Dass das Koppa den Etruskern von jeher gefehlt hat, scheint nicht
zweifelhaft: denn nicht bloss begegnet sonst nirgends eine sichere Spur
desselben, sondern es fehlt auch in dem Musteralphabet des galassischen
Gefaesses. Der Versuch, es in dem Syllabarium desselben nachzuweisen,
ist auf jeden Fall verfehlt, da dieses nur auf die auch spaeterhin
gemein gebraeuchlichen etruskischen Buchstaben Ruecksicht nimmt und
nehmen kann zu diesen aber das Koppa notorisch nicht gehoert; ueberdies
kann das am Schluss stehende Zeichen seiner Stellung nach nicht wohl
einen anderen Wert haben als den des f, das im etruskischen Alphabet
eben das letzte ist und das in dem, die Abweichungen .des etruskischen
Alphabets von seinem Muster darlegenden Syllabarium nicht fehlen
durfte. Auffallend bleibt es freilich, dass in dem nach Etrurien
gelangten griechischen Alphabet das Koppa mangelte da es sonst in dem
chalkidisch-dorischen sich lange behauptet hat; aber es kann dies
fueglich eine lokale Eigentuemlichkeit derjenigen Stadt gewesen sein,
deren Alphabet zunaechst nach Etrurien gekommen ist. Darin, ob ein als
ueberfluessig werdendes Zeichen im Alphabet stehenbleibt oder
ausfaellt, hat zu allen Zeiten Willkuer und Zufall gewaltet; so hat das
attische Alphabet das achtzehnte phoenikische Zeichen eingebuesst, die
uebrigen aus der Lautschrift verschwundenen im Alphabet festgehalten.
^5 Die vor kurzem bekannt gewordene goldene Spange von Praeneste (RM 2,
1887), unter den verstaendlichen Denkmaelern lateinischer Sprache und
lateinischer Schrift das weitaus aelteste zeigt die aeltere Form des m,
das raetselhafte Tongefaess vom Quirinal (herausgegeben von A. Dressel
in den AdI 52, 1880) die aeltere Form des r.
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Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buchstabenschatzes auf
die Empfaenger machte und wie lebhaft sie die in diesen unscheinbaren
Zeichen schlummernde Macht ahnten, beweist ein merkwuerdiges Gefaess
aus einer vor Erfindung des Bogens gebauten Grabkammer von Caere,
worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien kam, und
daneben ein daraus gebildetes etruskisches Syllabarium, jenem des
Palamedes vergleichbar, verzeichnet ist - offenbar eine heilige
Reliquie der Einfuehrung und der Akklimatisierung der Buchstabenschrift
in Etrurien.
Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets ist fuer die
Geschichte dessen weitere Entwicklung auf italischem Boden, ja
vielleicht noch wichtiger; denn hierdurch faellt ein Lichtstrahl auf
den italienischen Binnenverkehr, der noch weit mehr im Dunkeln liegt
als der Verkehr an den Kuesten mit den Fremden. In der aeltesten Epoche
der etruskischen Schrift, in der man sich im wesentlichen des
eingefuehrten Alphabets unveraendert bediente, scheint der Gebrauch
desselben sich auf die Etrusker am Po und in der heutigen Toskana
beschraenkt zu haben; dieses Alphabet ist alsdann, offenbar von Atria
und Spina aus, suedlich an der Ostkueste hinab bis in die Abruzzen,
noerdlich zu den Venetern und spaeter sogar zu den Kelten an und in den
Alpen, ja jenseits derselben gelangt, sodass die letzten Auslaeufer
desselben bis nach Tirol und Steiermark reichen. Die juengere Epoche
geht aus von einer Reform des Alphabets, welche sich hauptsaechlich
erstreckt auf die Einfuehrung abgesetzter Zeilenschrift, auf die
Unterdrueckung des o, das man im Sprechen vom u nicht mehr zu
unterscheiden wusste, und auf die Einfuehrung eines neuen Buchstabens
f, wofuer dem ueberlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen
mangelte. Diese Reform ist offenbar bei den westlichen Etruskern
entstanden und hat, waehrend sie jenseits des Apennin keinen Eingang
fand, dagegen bei saemtlichen sabellischen Staemmen, zunaechst bei den
Umbrern sich eingebuergert; im weiteren Verlaufe sodann hat das
Alphabet bei jedem einzelnen Stamm, den Etruskern am Arno und um Capua,
den Umbrern und Samniten seine besonderen Schicksale erfahren, haeufig
die Mediae ganz oder zum Teil verloren, anderswo wieder neue Vokale und
Konsonanten entwickelt. Jene westetruskische Reform des Alphabets aber
ist nicht bloss so alt wie die aeltesten in Etrurien gefundenen
Graeber, sondern betraechtlich aelter, da das erwaehnte, wahrscheinlich
in einem derselben gefundene Syllabarium das reformierte Alphabet
bereits in einer wesentlich modifizierten und modernisierten Gestalt
gibt; und da das reformierte selbst wieder, gegen das primitive
gehalten, relativ jung ist, so versagt sich fast der Gedanke dem
Zurueckgehen in jene Zeit, wo dies Alphabet nach Italien gelangte.
Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Alphabets im
Norden, Osten und Sueden der Halbinsel, so hat sich dagegen das
latinische Alphabet auf Latium beschraenkt und hier im ganzen mit
geringen Veraenderungen sich behauptet; nur fielen γ κ und ζ ς
allmaehlich lautlich zusammen, wovon die Folge war, dass je eins der
homophonen Zeichen (κ ζ) aus der Schrift verschwand. In Rom waren diese
nachweislich schon vor dem Ende des vierten Jahrhunderts der Stadt
beseitigt ^6, und unsere gesamte monumentale und literarische
Ueberlieferung mit einer einzigen Ausnahme ^7 kennt sie nicht. Wer nun
erwaegt, dass in den aeltesten Abkuerzungen der Unterschied von γ c und
κ k noch regelmaessig durchgefuehrt wird ^8, dass also der Zeitraum, wo
die Laute in der Aussprache zusammenfielen, und vor diesem wieder der
Zeitraum, in dem die Abkuerzungen sich fixierten, weit jenseits des
Beginns der Samnitenkriege liegt; dass endlich zwischen der Einfuehrung
der Schrift und der Feststellung eines konventionellen
Abkuerzungssystems notwendig eine bedeutende Frist verstrichen sein
muss, der wird wie fuer Etrurien so fuer Latium den Anfang der
Schreibkunst in eine Epoche hinaufruecken, die dem ersten Eintritt der
aegyptischen Siriusperiode in historischer Zeit, dem Jahre 1321 vor
Christi Geburt, naeher liegt als dem Jahre 776, mit dem in Griechenland
die Olympiadenchronologie beginnt ^9. Fuer das hohe Alter der
Schreibkunst in Rom sprechen auch sonst zahlreiche und deutliche
Spuren. Die Existenz von Urkunden aus der Koenigszeit ist hinreichend
beglaubigt: so des Sondervertrags zwischen Gabii und Rom, den ein
Koenig Tarquinius, und schwerlich der letzte dieses Namens, abschloss,
und der, geschrieben auf das Fell des dabei geopferten Stiers, in dem
an Altertuemern reichen, wahrscheinlich dem gallischen Brande
entgangenen Tempel des Sancus auf dem Quirinal aufbewahrt ward; des
Buendnisses, das Koenig Servius Tullius mit Latium abschloss und das
noch Dionysios auf einer kupfernen Tafel im Dianatempel auf dem Aventin
sah - freilich wohl in einer nach dem Brand mit Hilfe eines latinischen
Exemplars hergestellten Kopie, denn dass man in der Koenigszeit schon
in Metall grub, ist nicht wahrscheinlich. Auf den Stiftungsbrief dieses
Tempels beziehen sich noch die Stiftungsbriefe der Kaiserzeit als auf
die aelteste derartige roemische Urkunde und das gemeinschaftliche
Muster fuer alle. Aber schon damals ritzte man (exarare, scribere
verwandt mit scrobes ^10) oder malte (linere, daher littera) auf
Blaetter (folium), Bast (liber) oder Holztafeln (tabula, albuni),
spaeter auch auf Leder und Leinen. Auf leinene Rollen waren die
heiligen Urkunden der Samniten wie der anagninischen Priesterschaft
geschrieben, ebenso die aeltesten, im Tempel der Goettin der Erinnerung
(Iuno moneta) auf dem Kapitol bewahrten Verzeichnisse der roemischen
Magistrate. Es wird kaum noch noetig sein, zu erinnern an das uralte
Marken des Hutviehs (scriptura), an die Anrede im Senat “Vaeter und
Eingeschriebene” (patres conscripti), an das hohe Alter der
Orakelbuecher, der Geschlechtsregister, des albanischen und des
roemischen Kalenders. Wenn die roemische Sage schon in der fruehesten
Zeit der Republik von Hallen am Markte spricht, in denen die Knaben und
Maedchen der Vornehmen lesen und schreiben lernten, so kann das, aber
muss nicht notwendig erfunden sein. Nicht die Unkunde der Schrift,
vielleicht nicht einmal der Mangel an Dokumenten hat uns die Kunde der
aeltesten roemischen Geschichte entzogen, sondern die Unfaehigkeit der
Historiker derjenigen Zeit, die zur Geschichtsforschung berufen war,
die archivalischen Nachrichten zu verarbeiten, und ihre Verkehrtheit,
fuer die aelteste Epoche Schilderung von Motiven und Charakteren,
Schlachtberichte und Revolutionserzaehlungen zu begehren und ueber
deren Erfindung zu vernachlaessigen, was die vorhandene schriftliche
Ueberlieferung dem ernsten und entsagenden Forscher nicht verweigert
haben wuerde.
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^6 In diese Zeit wird diejenige Aufzeichnung der Zwoelf Tafeln zu
setzen sein, welche spaeterhin den roemischen Philologen vorlag und von
der wir Truemmer besitzen. Ohne Zweifel ist das Gesetzbuch gleich bei
seiner Entstehung niedergeschrieben worden; aber dass jene Gelehrten
selber ihren Text nicht auf das Urexemplar zurueckfuehrten, sondern auf
eine nach dem gallischen Brande vorgenommene offizielle Niederschrift,
beweist die Erzaehlung von der damals erfolgten Wiederherstellung der
Tafeln, und erklaert sich leicht eben daraus, dass ihr Text keineswegs
die ihnen nicht unbekannte aelteste Orthographie aufwies, auch
abgesehen davon, dass bei einem derartigen, ueberdies noch zum
Auswendiglernen fuer die Jugend verwendeten Schriftstueck philologisch
genaue Ueberlieferung unmoeglich angenommen werden kann.
^7 Dies ist die 1, 227 angefuehrte Inschrift der Spange von Praeneste.
Dagegen hat selbst schon auf der ficoronischen Kiste c den spaeteren
Wert von κ.
^8 So ist C Gaius, CN Gnaeus, aber K Kaeso. Fuer die juengeren
Abkuerzungen gilt dieses natuerlich nicht; hier wird γ nicht durch c,
sondern durch G (GAL Galeria), κ in der Regel durch C (C centum, Cos
consul, COL Collina), vor a durch K (KAR karmentalia, MERK merkatus)
bezeichnet. Denn eine Zeitlang hat man den Laut K vor den Vokalen e i o
und vor allen Konsonanten durch C ausgedrueckt, dagegen vor a durch K,
vor u durch das alte Zeichen des Koppa Q.
^9 Wenn dies richtig ist, so muss die Entstehung der Homerischen
Gedichte, wenn auch natuerlich nicht gerade die der uns vorliegenden
Redaktion, weit vor die Zeit fallen, in welche Herodot die Bluete des
Homeros setzt (100 vor Rom 850); denn die Einfuehrung des hellenischen
Alphabets in Italien gehoert wie der Beginn des Verkehrs zwischen
Hellas und Italien selbst erst der nachhomerischen Zeit an.
^10 Ebenso altsaechsisch writan eigentlich reissen, dann schreiben.
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Die Geschichte der italischen Schrift bestaetigt also zunaechst die
schwache und mittelbare Einwirkung des hellenischen Wesens auf die
Sabeller im Gegensatz zu den westlicheren Voelkern. Dass jene das
Alphabet von den Etruskern, nicht von den Roemern empfingen, erklaert
sich wahrscheinlich daraus, dass sie das Alphabet schon besassen, als
sie den Zug auf den Ruecken des Apennin antraten, die Sabiner wie die
Samniten also dasselbe schon vor ihrer Entlassung aus dem Mutterlande
in ihre neuen Sitze mitbrachten. Andererseits enthaelt diese Geschichte
der Schrift eine heilsame Warnung gegen die Annahme, welche die
spaetere, der etruskischen Mystik und Altertumstroedelei ergebene
roemische Bildung aufgebracht hat und welche die neuere und neueste
Forschung geduldig wiederholt, dass die roemische Zivilisation ihren
Keim und ihren Kern aus Etrurien entlehnt habe. Waere dies wahr, so
muesste hier vor allem eine Spur sich davon zeigen; aber gerade
umgekehrt ist der Keim der latinischen Schreibkunst griechisch, ihre
Entwicklung so national, dass sie nicht einmal das so wuenschenswerte
etruskische Zeichen fuer f sich angeeignet hat ^11. Ja wo Entlehnung
sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr die Etrusker, die von
den Roemern wenigstens das Zeichen fuer 50 uebernommen haben.
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^11 Das Raetsel, wie die Latiner dazu gekommen sind, das griechische
dem v entsprechende Zeichen fuer das lautlich ganz verschiedene f zu
verwenden, hat die Spange von Praeneste geloest mit ihrem fhefhaked
fuer fecit und damit zugleich die Herleitung des lateinischen Alphabets
von den chalkidischen Kolonien Unteritaliens bestaetigt. Denn in einer,
demselben Alphabet angehoerigen boeotischen Inschrift findet sich in
dem Worte fhekadamoe (Gustav Meyer, Griechische Grammatik, § 244 a. E.)
dieselbe Lautverbindung, und ein aspiriertes v mochte allerdings dem
lateinischen f lautlich sich naehern.
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Endlich ist es charakteristisch, dass in allen italischen Staemmen die
Entwicklung des griechischen Alphabets zunaechst in einer Verderbung
desselben besteht. So sind die Mediae in den saemtlichen etruskischen
Dialekten untergegangen, waehrend die Umbrer γ d, die Samniten d, die
Roemer γ einbuessten und diesen auch d mit r zu verschmelzen drohte.
Ebenso fielen den Etruskern schon frueh o und u zusammen, und auch bei
den Lateinern finden sich Ansaetze derselben Verderbnis. Fast das
Umgekehrte zeigt sich bei den Sibilanten; denn waehrend der Etrusker
die drei Zeichen z s sch festhaelt, der Umbrer zwar das letzte
wegwirft, aber dafuer zwei neue Sibilanten entwickelt, beschraenkt sich
der Samnite und der Falisker auf s und z gleich dem Griechen, der
spaetere Roemer sogar auf s allein. Man sieht, die feineren
Lautverschiedenheiten wurden von den Einfuehrern des Alphabets,
gebildeten und zweier Sprachen maechtigen Leuten, wohl empfunden; aber
nach der voelligen Loesung der nationalen Schrift von dem hellenischen
Mutteralphabet fielen allmaehlich die Mediae und ihre Tenues zusammen
und wurden die Sibilanten und Vokale zerruettet, von welchen
Lautverschiebungen oder vielmehr Lautzerstoerungen namentlich die erste
ganz ungriechisch ist. Die Zerstoerung der Flexions- und
Derivationsformen geht mit dieser Lautzerruettung Hand in Hand. Die
Ursache dieser Barbarisierung ist also im allgemeinen keine andere als
die notwendige Verderbnis, welche an jeder Sprache fortwaehrend zehrt,
wo ihr nicht literarisch und rationell ein Damm entgegengesetzt wird;
nur dass von dem, was sonst spurlos voruebergeht, hier in der
Lautschrift sich Spuren bewahrten. Dass diese Barbarisierung die
Etrusker in staerkerem Masse erfasste als irgendeinen der italischen
Staemme, stellt sich zu den zahlreichen Beweisen ihrer minderen
Kulturfaehigkeit; wenn dagegen, wie es scheint, unter den Italikern am
staerksten die Umbrer, weniger die Roemer, am wenigsten die suedlichen
Sabeller von der gleichen Sprachverderbnis ergriffen wurden, so wird
der regere Verkehr dort mit den Etruskern, hier mit den Griechen
wenigstens mit zu dieser Erscheinung beigetragen haben.
KAPITEL XV.
Die Kunst
Dichtung ist leidenschaftliche Rede, deren bewegter Klang die Weise;
insofern ist kein Volk ohne Poesie und Musik. Allein zu den poetisch
vorzugsweise begabten Nationen gehoerte und gehoert die italienische
nicht; es fehlt dem Italiener die Leidenschaft des Herzens, die
Sehnsucht, das Menschliche zu idealisieren und das Leblose zu
vermenschlichen, und damit das Allerheiligste der Dichtkunst. Seinem
scharfen Blick, seiner anmutigen Gewandtheit gelingen vortrefflich die
Ironie und der Novellenton, wie wir sie bei Horaz und bei Boccaccio
finden, der launige Liebes- und Liederscherz, wie Catullus und die
guten neapolitanischen Volkslieder ihn zeigen, vor allem die niedere
Komoedie und die Posse. Auf italischem Boden entstand in alter Zeit die
parodische Tragoedie, in neuer das parodische Heldengedicht. In der
Rhetorik und Schauspielkunst vor allem tat und tut es den Italienern
keine andere Nation gleich. Aber in den vollkommenen Kunstgattungen
haben sie es nicht leicht ueber Fertigkeiten gebracht, und keine ihrer
Literaturepochen hat ein wahres Epos und ein echtes Drama erzeugt. Auch
die hoechsten in Italien gelungenen literarischen Leistungen,
goettliche Gedichte wie Dantes Commedia und Geschichtbuecher wie
Sallustius und Macchiavelli, Tacitus und Colletta sind doch von einer
mehr rhetorischen als naiven Leidenschaft getragen. Selbst in der Musik
ist in alter wie in neuer Zeit das eigentlich schoepferische Talent
weit weniger hervorgetreten als die Fertigkeit, die rasch zur
Virtuositaet sich steigert und an der Stelle der echten und innigen
Kunst ein hohles und herzvertrocknendes Idol auf den Thron hebt. Es ist
nicht das innerliche Gebiet, insoweit in der Kunst ueberhaupt ein
Innerliches und ein Aeusserliches unterschieden werden kann, das dem
Italiener als eigene Provinz anheimgefallen ist; die Macht der
Schoenheit muss, um voll auf ihn zu wirken, nicht im Ideal vor seine
Seele, sondern sinnlich ihm vor die Augen gerueckt werden. Darum ist er
denn auch in den bauenden und bildenden Kuensten recht eigentlich zu
Hause und darin in der alten Kulturepoche der beste Schueler des
Hellenen, in der neuen der Meister aller Nationen geworden.
Es ist bei der Lueckenhaftigkeit unserer Ueberlieferung nicht moeglich,
die Entwicklung der kuenstlerischen Ideen bei den einzelnen
Voelkergruppen Italiens zu verfolgen; und namentlich laesst sich nicht
mehr von der italischen Poesie reden, sondern nur von der Poesie
Latiums. Die latinische Dichtkunst ist wie jede andere ausgegangen von
der Lyrik oder vielmehr von dem urspruenglichen Festjubel, in welchem
Tanz, Spiel und Lied noch in ungetrennter Einheit sich durchdringen. Es
ist dabei bemerkenswert, dass in den aeltesten Religionsgebraeuchen der
Tanz und demnaechst das Spiel weit entschiedener hervortreten als das
Lied. In dem grossen Feierzug, mit dem das roemische Siegesfest
eroeffnet ward, spielten naechst den Goetterbildern und den Kaempfern
die vornehmste Rolle die ernsten und die lustigen Taenzer: jene
geordnet in drei Gruppen, der Maenner, der Juenglinge und der Knaben,
alle in roten Roecken mit kupfernem Leibgurt, mit Schwertern und kurzen
Lanzen, die Maenner ueberdies behelmt, ueberhaupt in vollem
Waffenschmuck; diese in zwei Scharen geteilt, der Schafe in Schafpelzen
mit buntem Ueberwurf, der Boecke nackt bis auf den Schurz mit einem
Ziegenfell als Umwurf. Ebenso waren vielleicht die aelteste und
heiligste von allen Priesterschaften die “Springer” und durften die
Taenzer (ludii, ludiones) ueberhaupt bei keinem oeffentlichen Aufzug
und namentlich bei keiner Leichenfeier fehlen, weshalb denn der Tanz
schon in alter Zeit ein gewoehnliches Gewerbe ward. Wo aber die Taenzer
erscheinen, da stellen auch die Spielleute oder, was in aeltester Zeit
dasselbe ist, die Floetenblaeser sich ein. Auch sie fehlen bei keinem
Opfer, bei keiner Hochzeit und bei keinem Begraebnis, und neben der
uralten oeffentlichen Priesterschaft der Springer steht gleich alt,
obwohl im Range bei weitem niedriger, die Pfeifergilde (collegium
tibicinum, 1, 205), deren echte Musikantenart bezeugt wird durch das
alte und selbst der strengen roemischen Polizei zum Trotz behauptete
Vorrecht, an ihrem Jahresfest maskiert und suessen Weines voll auf den
Strassen sich herumzutreiben. Wenn also der Tanz als ehrenvolle
Verrichtung, das Spiel als untergeordnete, aber notwendige Taetigkeit
auftritt und darum oeffentliche Genossenschaften fuer beide bestellt
sind, so erscheint die Dichtung mehr als ein Zufaelliges und
gewissermassen Gleichgueltiges, mochte sie nun fuer sich entstehen oder
dem Taenzer zur Begleitung seiner Spruenge dienen.
Den Roemern galt als das aelteste dasjenige Lied, das in der gruenen
Waldeseinsamkeit die Blaetter sich selber singen. Was der “guenstige
Geist” (faunus, von favere) im Haine fluestert und floetet, das
verkuenden die, denen es gegeben ist, ihm zu lauschen, den Menschen
wieder in rhythmisch gemessener Rede (casmen, spaeter carmen, von
canere). Diesen weissagenden Gesaengen der vom Gott ergriffenen Maenner
und Frauen (vates) verwandt sind die eigentlichen Zaubersprueche, die
Besprechungsformeln gegen Krankheiten und anderes Ungemach und die
boesen Lieder, durch welche man dem Regen wehrt und den Blitz herabruft
oder auch die Saat von einem Feld auf das andere lockt; nur dass in
diesen wohl von Haus aus neben den Wort- auch reine Klangformeln
erscheinen ^1. Fester ueberliefert und gleich uralt sind die
religioesen Litaneien, wie die Springer und andere Priesterschaften sie
sangen und tanzten und von denen die einzige bis auf uns gekommene, ein
wahrscheinlich als Wechselgesang gedichtetes Tanzlied der Ackerbrueder
zum Preise des Mars, wohl auch hier eine Stelle verdient:
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^1 So gibt der aeltere Cato (agr. 160) als kraeftig gegen Verrenkungen
den Spruch: hauat hauat hauat ista pista sista damia bodannaustra, der
vermutlich seinem Erfinder ebenso dunkel war, wie er es uns ist.
Natuerlich finden sich daneben auch Wortformeln; so z. B. hilft es
gegen Gicht, wenn man nuechtern eines andern gedenkt und dreimal
neunmal, die Erde beruehrend und ausspuckend, die Worte spricht: “Ich
denke dein, hilf meinen Fuessen. Die Erde empfange das Unheil,
Gesundheit sei mein Teil” (terra pestem teneto, salus hic maneto. Varro
rust. 1, 2, 27).
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Enos, Lases, iuvate!
Ne velue rue, Marmar, sins incurrere in pleores!
Satur fu, fere Mars! Timen sali! sta! berber!
Semunis alternei advocapit conctos!
Enos, Marmar, invato!
Triumpe! ^2
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^2 Nos, Lares, iuvate! Ne veluem (= malam luem) ruem (= ruinam),
Mamers, sinas incurrere in plures! Satur esto, fere Mars! In limen
insili! sta! verbera (limen?)! Semones alterni advocate cunctos! Nos,
Mamers, iuvato! Tripudia! Die ersten fuenf Zeilen werden je dreimal,
der Schlussruf fuenfmal wiederholt. Die Uebersetzung ist vielfach
unsicher, besonders der dritten Zeile.
Die drei Inschriften des Tongefaesses vom Quirinal lauten: ioue sat
deiuosqoi med mitat nei ted endo gosmis uirgo sied - asted noisi ope
toitesiai pakariuois - duenos med feked (= onus me fecit) enmanom einom
dze noine (wahrscheinlich = die noni) med malo statod. Sicher
verstaendlich sind nur einzelne Woerter; bemerkenswert vor allem, dass
Formen, die wir bisher nur als umbrische und oskische kannten, wie das
Adjektiv pacer und die Partikel einom im Wert von et, hier
wahrscheinlich doch als altlateinische uns entgegentreten.
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an die Goetter Uns, Laren, helfet!
Nicht Sterben und Verderben, Mars, Mars,
lass einstuermen auf mehrere.
Satt sei, grauser Mars!
an die einzelnen Auf die Schwelle springe! stehe! tritt sie!
Brueder
an alle
Brueder Den Semonen, erst ihr, dann ihr, rufet zu,
allen
an den Gott Uns, Mars, Mars, hilf!
an die einzelnen Springe!
Brueder
Das Latein dieses Liedes und der verwandten Bruchstuecke der
Baliarischen Gesaenge, welche schon den Philologen der augustischen
Zeit als die aeltesten Urkunden ihrer Muttersprache galten, verhaelt
sich zu dem Latein der Zwoelf Tafeln etwa wie die Sprache der
Nibelungen zu der Sprache Luthers; und wohl duerfen wir der Sprache wie
dem Inhalt nach diese ehrwuerdigen Litaneien den indischen Veden
vergleichen.
Schon einer juengeren Epoche gehoeren die Lob- und Schimpflieder an.
Dass es in Latium der Spottlieder schon in alten Zeiten im Ueberfluss
gab, wuerde sich aus dem Volkscharakter der Italiener abnehmen lassen,
auch wenn nicht die sehr alten polizeilichen Massnahmen dagegen es
ausdruecklich bezeugten. Wichtiger aber wurden die Lobgesaenge. Wenn
ein Buerger zur Bestattung weggetragen ward, so folgte der Bahre eine
ihm anverwandte oder befreundete Frau und sang ihm unter Begleitung
eines Floetenspielers das Leichenlied (nenia). Desgleichen wurden bei
dem Gastmahl von den Knaben, die nach der damaligen Sitte die Vaeter
auch zum Schmaus ausser dem eigenen Hause begleiteten, Lieder zum Lobe
der Ahnen abwechselnd bald ebenfalls zur Floete gesungen, bald auch
ohne Begleitung bloss gesagt (assa voce canere). Dass auch die Maenner
bei dem Gastmahl der Reihe nach sangen, ist wohl erst spaetere
vermutlich den Griechen entlehnte Sitte. Genaueres wissen wir von
diesen Ahnenliedern nicht; aber es versteht sich, dass sie schilderten
und erzaehlten und insofern neben und aus dem lyrischen Moment der
Poesie das epische entwickelten.
Andere Elemente der Poesie waren taetig in dem uralten, ohne Zweifel
ueber die Scheidung der Staemme zurueckreichenden Volkskarneval, dem
lustigen Tanz oder der Satura (I, 44). Der Gesang wird dabei nie
gefehlt haben; es lag aber in den Verhaeltnissen, dass bei diesen
vorzugsweise an Gemeindefesten und den Hochzeiten aufgefuehrten und
gewiss vorwiegend praktischen Spaessen leicht mehrere Taenzer oder auch
mehrere Taenzerscharen ineinander griffen und der Gesang eine gewisse
Handlung in sich aufnahm, welche natuerlich ueberwiegend einen
scherzhaften und oft einen ausgelassenen Charakter trug. So entstanden
hier nicht bloss die Wechsellieder, wie sie spaeter unter dem Namen der
fescenninischen Gesaenge auftreten, sondern auch die Elemente einer
volkstuemlichen Komoedie, die bei dem scharfen Sinn der Italiener fuer
das Aeusserliche und das Komische und bei ihrem Behagen an Gestenspiel
und Verkleidung auf einen vortrefflich geeigneten Boden gepflanzt war.
Erhalten ist nichts von diesen Inkunabeln des roemischen Epos und
Drama. Dass die Ahnenlieder traditionell waren, versteht sich von
selbst und wird zum Ueberfluss dadurch bewiesen, dass sie regelmaessig
von Kindern vorgetragen wurden; aber schon zu des aelteren Cato Zeit
waren dieselben vollstaendig verschollen. Die Komoedien aber, wenn man
den Namen gestatten will, sind in dieser Epoche und noch lange nachher
durchaus improvisiert worden. Somit konnte von dieser Volkspoesie und
Volksmelodie nichts fortgepflanzt werden als das Mass, die musikalische
und chorische Begleitung und vielleicht die Masken.
Ob es in aeltester Zeit das gab, was wir Versmass nennen, ist
zweifelhaft; die Litanei der Arvalbrueder fuegt sich schwerlich einem
aeusserlich fixierten metrischen Schema und erscheint uns mehr als eine
bewegte Rezitation. Dagegen begegnet in spaeterer Zeit eine uralte
Weise, das sogenannte saturnische ^3 oder faunische Mass, welches den
Griechen fremd ist und vermutlich gleichzeitig mit der aeltesten
latinischen Volkspoesie entstand. Das folgende, freilich einer weit
spaeteren Zeit angehoerende Gedicht mag von demselben eine Vorstellung
geben.
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^3 Der Name bezeichnet wohl nichts als das “Liedermass”, insofern die
sătura urspruenglich das beim Karneval gesungene Lied ist. Von
demselben Stamm ist auch der Saeegott Saeturnus oder Saiturnus, spaeter
Sāturnus benannt; sein Fest, die Saturnalien, ist allerdings eine Art
Karneval, und es ist moeglich, dass die Possen urspruenglich
vorzugsweise an diesem aufgefuehrt wurden. Aber Beweise einer Beziehung
der Satura zu den Saturnauen fehlen, und vermutlich gehoert die
unmittelbare Verknuepfung des versus sāturnius mit dem Gott Saturnus
und die damit zusammenhaengende Dehnung der ersten Silbe erst der
spaeteren Zeit an.
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Quod ré suá difeídens - ásperé afleícta
Paréns timéns heíc vóvit - vóto hóc soúto
Decumá factá poloúcta - leíbereís lubéntes
Donú danúnt - Hércolei - máxsumé - méreto
Semól te oránt se vóti - crébro cóndémnes
Was, Missgeschick befuerchtend - schwer betroffnem Wohlstand,
Sorgvoll der Ahn gelobt hier, - des Geloebnis eintraf,
Zu Weih’ und Schmaus den Zehnten - bringen gern die Kinder
Dem Hercoles zur Gabe - dar, dem hochverdienten;
Sie flehn zugleich dich an, dass - oft du sie erhoerest.
In saturnischer Weise scheinen die Lob- wie die Scherzlieder
gleichmaessig gesungen worden zu sein, zur Floete natuerlich und
vermutlich so, dass namentlich der Einschnitt in jeder Zeile scharf
angegeben ward, bei Wechselliedern hier auch wohl der zweite Saenger
den Vers aufnahm. Es ist die saturnische Messung, wie jede andere im
roemischen und griechischen Altertum vorkommende, quantitativer Art,
aber wohl unter allen antiken Versmassen sowohl das am mindesten
durchgebildete, da es ausser anderen mannigfaltigen Lizenzen sich die
Weglassung der Senkungen im weitesten Umfang gestattet, als auch das
der Anlage nach unvollkommenste, indem diese einander entgegengesetzten
iambischen und trochaeischen Halbzeilen wenig geeignet sind, einen fuer
hoehere poetische Leistungen genuegenden rhythmischen Bau zu
entwickeln.
Die Grundelemente der volkstuemlichen Musik und Choreutik Latiums, die
ebenfalls in dieser Zeit sich festgestellt haben muessen, sind fuer uns
verschollen; ausser dass uns von der latinischen Floete berichtet wird
als einem kurzen und duennen, nur mit vier Loechern versehenen,
urspruenglich, wie der Name zeigt, aus einem leichten
Tierschenkelknochen verfertigten musikalischen Instrument.
Dass endlich die spaeteren stehenden Charaktermasken der latinischen
Volkskomoedie oder der sogenannten Atellane: Maccus der Harlekin, Bucco
der Vielfrass, Pappus der gute Papa, der weise Dossennus - Masken, die
man so artig wie schlagend mit den beiden Bedienten, dem Pantalon und
dem Dottore der italienischen Pulcinellkomoedie verglichen hat -, dass
diese Masken bereits der aeltesten latinischen Volkskunst angehoeren,
laesst sich natuerlich nicht eigentlich beweisen; da aber der Gebrauch
der Gesichtsmasken in Latium fuer die Volksbuehne von unvordenklichem
Alter ist, waehrend die griechische Buehne in Rom erst ein Jahrhundert
nach ihrer Begruendung dergleichen Masken an nahm, da jene
Atellanenmasken ferner entschieden italischen Ursprungs sind und da
endlich die Entstehung wie die Durchfuehrung improvisierter Kunstspiele
ohne feste, dem Spieler seine Stellung im Stueck ein fuer allemal
zuweisende Masken nicht wohl denkbar ist, so wird man die festen Masken
an die Anfaenge des roemischen Schauspiels anknuepfen oder vielmehr sie
als diese Anfaenge selbst betrachten duerfen.
Wenn unsere Kunde ueber die aelteste einheimische Bildung und Kunst von
Latium spaerlich fliesst, so ist es begreiflich, dass wir noch weniger
wissen ueber die fruehesten Anregungen, die hier den Roemern von aussen
her zuteil wurden. In gewissem Sinn kann schon die Kunde der
auslaendischen, namentlich der griechischen Sprache hierher gezaehlt
werden, welche letztere den Latinern natuerlich im allgemeinen fremd
war, wie dies schon die Anordnung hinsichtlich der Sibyllinischen
Orakel beweist, aber doch unter den Kaufleuten nicht gerade selten
gewesen sein kann; und dasselbe wird zu sagen sein von der eng mit der
Kunde des Griechischen zusammenhaengenden Kenntnis des Lesens und
Schreibens. Indes die Bildung der antiken Welt ruhte weder auf der
Kunde fremder Sprachen noch auf elementaren technischen Fertigkeiten;
wichtiger als jene Mitteilungen wurden fuer die Entwicklung Latiums die
musischen Elemente, die sie bereits in fruehester Zeit von den Hellenen
empfingen. Denn lediglich die Hellenen und weder Phoeniker noch
Etrusker sind es gewesen, welche in dieser Beziehung eine Einwirkung
auf die Italiker uebten; nirgends begegnet bei den letzteren eine
musische Anregung, die auf Karthago oder Caere zurueckwiese, und es
darf wohl ueberhaupt die phoenikische wie die etruskische den Bastard-
und darum auch nicht weiterzeugenden Formen der Zivilisation zugezaehlt
werden ^4. Griechische Befruchtung aber blieb nicht aus. Die
griechische siebensaitige Lyra, die “Saiten” (fides, von σφίδη Darm;
auch barbitus βάρβυτος) ist nicht, wie die Floete, in Latium
einheimisch und hat dort stets als fremdlaendisches Instrument
gegolten; aber wie frueh sie daselbst Aufnahme gefunden hat, beweist
teils die barbarische Verstuemmelung des griechischen Namens, teils
ihre Anwendung selbst im Ritual ^5. Dass von dem Sagenschatz der
Griechen bereits in dieser Zeit nach Latium floss, zeigt schon die
bereitwillige Aufnahme der griechischen Bildwerke mit ihren durchaus
auf dem poetischen Schaue der Nation ruhenden Darstellungen; und auch
die altlatinischen Barbarisierungen der Persephone in Prosepna, des
Bellerophontes in Melerpanta, des Kyklops in Codes, des Laomedon in
Alumentus, des Ganymedes in Catamitus, des Neilos in Melus, der Semele
in Stimula lassen erkennen, in wie ferner Zeit schon solche
Erzaehlungen von Latinern vernommen und wiederholt worden sind. Endlich
aber und vor allem kann das roemische Haupt- und Stadtfest (ludi
maximi, Romani) wo nicht seine Entstehung, doch seine spaetere
Einrichtung nicht wohl anders als unter griechischem Einfluss erhalten
haben. Es ward als ausserordentliche Dankfeier, regelmaessig auf Grund
eines von dem Feldherrn vor der Schlacht getanen Geluebdes und darum
gewoehnlich bei der Heimkehr der Buergerwehr im Herbst, dem
kapitolinischen Jupiter und den mit ihm zusammen hausenden Goettern
ausgerichtet. Im Festzuge begab man sich nach dem zwischen Palatin und
Aventin abgesteckten und mit einer Arena und Zuschauerplaetzen
versehenen Rennplatz: voran die ganze Knabenschaft Roms, geordnet nach
den Abteilungen der Buergerwehr zu Pferde und zu Fuss; sodann die
Kaempfer und die frueher beschriebenen Taenzergruppen, jede mit der ihr
eigenen Musik; hierauf die Diener der Goetter mit den Weihrauchfaessern
und dem anderen heiligen Geraet; endlich die Bahren mit den
Goetterbildern selbst. Das Schaufest selbst war das Abbild des Krieges,
wie er in aeltester Zeit gewesen, der Kampf zu Wagen, zu Ross und zu
Fuss. Zuerst liefen die Streitwagen, deren jeder nach homerischer Art
einen Wagenlenker und einen Kaempfer trug, darauf die abgesprungenen
Kaempfer, alsdann die Reiter, deren jeder nach roemischer Fechtart mit
einem Reit- und einem Handpferd erschien (desultor); endlich massen die
Kaempfer zu Fuss, nackt bis auf einen Guertel um die Hueften, sich
miteinander im Wettlauf, im Ringen und im Faustkampf. In jeder Gattung
der Wettkaempfe ward nur einmal und zwischen nicht mehr als zwei
Kaempfern gestritten. Den Sieger lohnte der Kranz, und wie man den
schlichten Zweig in Ehren hielt, beweist die gesetzliche Gestattung,
ihm denselben, wenn er starb, auf die Bahre zu legen. Das Fest dauerte
also nur einen Tag, und wahrscheinlich liessen die Wettkaempfe an
diesem selbst noch Zeit genug fuer den eigentlichen Karneval, wobei
denn die Taenzergruppen ihre Kunst und vor allem ihre Possen entfaltet
haben moegen und wohl auch andere Darstellungen, zum Beispiel
Kampfspiele der Knabenreiterei, ihren Platz fanden ^6. Auch die im
ernsten Kriege gewonnenen Ehren spielten bei diesem Feste eine Rolle;
der tapfere Streiter stellte an diesem Tage die Ruestungen der
erschlagenen Gegner aus und trug ebenso wie der Sieger im Wettspiel den
Kranz, mit dem die dankbare Gemeinde ihn geschmueckt hatte.
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^4 Die Erzaehlung, dass ehemals die roemischen Knaben etruskische wie
spaeterhin griechische Bildung empfangen haetten (Liv. 9, 36), ist mit
dem urspruenglichen Wesen der roemischen Jugendbildung ebenso
unvereinbar, wie es nicht abzusehen ist, was denn die roemischen Knaben
in Etrurien lernten. Dass das Studium der etruskischen Sprache damals
in Rom die Rolle gespielt habe wie etwa jetzt bei uns das
Franzoesischlernen, werden doch selbst die eifrigsten heutigen Bekenner
des Tages-Kultus nicht behaupten; und von der etruskischen Haruspicin
etwas zu verstehen, galt selbst bei denen, die sich ihrer bedienten,
einem Nichtetrusker fuer schimpflich oder vielmehr fuer unmoeglich (K.
O. Mueller, Die Etrusker. Breslau 1828. Bd. 2, S. 4). Vielleicht ist
die Angabe von den etruskisierenden Archaeologen der letzten Zeit der
Republik herausgesponnen aus pragmatisierenden Erzaehlungen der
aelteren Annalen, welche zum Beispiel den Mucius Scaevola seiner
Unterhaltung mit Porsena zuliebe als Kind etruskisch lernen lassen
(Dion. Hal. 5, 28; Plut. Publ. 17; vgl. Dion. Hal. 3, 70). Aber es gab
allerdings eine Epoche, wo die Herrschaft Roms ueber Italien eine
gewisse Kenntnis der Landessprache bei den vornehmen Roemern
erforderte.
^5 Den Gebrauch der Leier im Ritual bezeugen Cic. De orat. 3, 51,197;
Cic. Tusc. 4, 2, 4; Dion. Hal. 7, 72; App. Pun. 66 und die Inschrift
Orelli 2448, vgl. 1803. Ebenso ward sie bei den Nenien angewandt (Varro
bei Nonius unter nenia und praeficae). Aber das Leierspiel blieb darum
nicht weniger unschicklich (Scipio bei Macr. Sat. 2, 10 und sonst); von
dem Verbot der Musik im Jahre 639 wurden nur der “latinische
Floetenspieler samt dem Saengern, nicht der Saitenspieler ausgenommen,
und die Gaeste bei dem Mahle sangen nur zur Floete (Cato bei Cic. Tusc.
1, 2, 3; 4, 2, 3; Varro bei Nonius unter assa voce; Hor. carm. 4, 15,
30). Quintilian, der das Gegenteil sagt (inst. 1, 10, 20), hat, was
Cicero (De orat. 3, 51) von den Goetterschmaeusen erzaehlt, ungenau auf
Privatgastmaehler uebertragen.
^6 Das Stadtfest kann urspruenglich nur einen Tag gewaehrt haben, da es
noch im sechsten Jahrhundert aus vier Tagen szenischer und einem Tag
circensischer Spiele bestand (F. W. Ritschl, Parerga zu Plautus und
Terentius. Leipzig 1845. Bd. 1, S. 313) und notorisch die szenischen
Spiele erst spaeter hinzugekommen sind. Dass in jeder Kampfgattung
urspruenglich nur einmal gestritten ward, folgt aus Liv. 44, 9; wenn
spaeter an einem Spieltag bis zu fuenfundzwanzig Wagenpaare
nacheinander liefen (Varro bei Serv. georg. 3, 18), so ist das
Neuerung. Dass nur zwei Wagen und ebenso ohne Zweifel nur zwei Reiter
und zwei Ringer um den Preis stritten, folgt daraus, dass zu allen
Zeiten in den roemischen Wagenrennen nur so viel Wagen zugleich liefen,
als es sogenannte Faktionen gab und dieser urspruenglich nur zwei
waren, die weisse und die rote. Das zu den circensischen gehoerende
Reiterspiel der patrizischen Epheben, die sogenannte Troia, ward
bekanntlich von Caesar wieder ins Leben gerufen; ohne Zweifel knuepfte
es an den Aufzug der Knabenbuergerwehr zu Pferde, dessen Dionys (7, 72)
gedenkt.
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Solcher Art war das roemische Sieges- oder Stadtfest, und auch die
uebrigen oeffentlichen Festlichkeiten Roms werden wir uns aehnlich,
wenn auch in den Mitteln beschraenkter vorzustellen haben. Bei der
oeffentlichen Leichenfeier traten regelmaessig Taenzer und daneben,
wenn mehr geschehen sollte, noch Wettreiter auf, wo dann die
Buergerschaft durch den oeffentlichen Ausrufer vorher besonders zu dem
Begraebnis eingeladen ward.
Aber dieses mit den Sitten und den Uebungen Roms so eng verwachsene
Stadtfest trifft mit den hellenischen Volksfesten wesentlich zusammen:
so vor allem in dem Grundgedanken der Vereinigung einer religioesen
Feier und eines kriegerischen Wettkampfs; in der Auswahl der einzelnen
Uebungen, die bei dem Fest von Olympia nach Pindaros’ Zeugnis von Haus
aus im Laufen, Ringen, Faustkampf, Wagenrennen, Speer- und Steinwerfen
bestanden; in der Beschaffenheit des Siegespreises, der in Rom so gut
wie bei den griechischen Nationalfesten ein Kranz ist und dort wie hier
nicht dem Lenker, sondern dem Besitzer des Gespannes zuteil wird;
endlich in dem Hineinziehen allgemein patriotischer Taten und
Belohnungen in das allgemeine Volksfest. Zufaellig kann diese
Uebereinstimmung nicht sein, sondern nur entweder ein Rest uralter
Volksgemeinschaft oder eine Folge des aeltesten internationalen
Verkehrs; fuer die letztere Annahme spricht die ueberwiegende
Wahrscheinlichkeit. Das Stadtfest in der Gestalt, wie wir es kennen,
ist keine der aeltesten Einrichtungen Roms, da der Spielplatz selbst
erst zu den Anlagen der spaeteren Koenigszeit gehoert (I, 123); und so
gut wie die Verfassungsreform damals unter griechischem Einfluss
erfolgt ist (I, 109), kann gleichzeitig im Stadtfest eine aeltere
Belustigungsweise - der “Sprung” (triumpus, 1, 44) und etwa das in
Italien uralte und bei dem Fest auf dem Albaner Berg noch lange in
Uebung gebliebene Schaukeln - mit den griechischen Rennen verbunden und
bis zu einem gewissen Grade durch dieselben verdraengt worden sein. Es
ist ferner von dem ernstlichen Gebrauch der Streitwagen wohl in Hellas,
aber nicht in Latium eine Spur vorhanden. Endlich ist das griechische
Stadion (dorisch σπάδιον) als spatium mit der gleichen Bedeutung in
sehr frueher Zeit in die lateinische Sprache uebergegangen und liegt
sogar ein ausdrueckliches Zeugnis dafuer vor, dass die Roemer die
Pferde- und Wagenrennen von den Thurinern entlehnten, wogegen freilich
eine andere Angabe sie aus Etrurien herleitet. Demnach scheinen die
Roemer ausser den musikalischen und poetischen Anregungen auch den
fruchtbaren Gedanken des gymnastischen Wettstreits den Hellenen zu
verdanken.
Es waren also in Latium nicht bloss dieselben Grundlagen vorhanden, aus
denen die hellenische Bildung und Kunst erwuchs, sondern es hat auch
diese selbst in fruehester Zeit maechtig auf Latium gewirkt. Die
Elemente der Gymnastik besassen die Latiner nicht bloss insofern, als
der roemische Knabe wie jeder Bauernsohn Pferde und Wagen regieren und
den Jagdspiess fuehren lernte und als in Rom jeder Gemeindebuerger
zugleich Soldat war; sondern es genoss die Tanzkunst von jeher
oeffentlicher Pflege, und frueh trat mit den hellenischen Wettkaempfen
eine gewaltige Anregung hinzu. In der Poesie war die hellenische Lyrik
und Tragoedie aus aehnlichen Gesaengen erwachsen, wie das roemische
Festlied sie darbot, enthielt das Ahnenlied die Keime des Epos, die
Maskenposse die Keime der Komoedie; und auch hier mangelte griechische
Einwirkung nicht.
Um so merkwuerdiger ist es, dass alle diese Samenkoerner nicht
aufgingen oder verkuemmerten. Die koerperliche Erziehung der
latinischen Jugend blieb derb und tuechtig, aber fern von dem Gedanken
einer kuenstlerischen Ausbildung des Koerpers, wie die hellenische
Gymnastik sie verfolgte. Die oeffentlichen Wettkaempfe der Hellenen
veraenderten in Italien nicht gerade ihre Satzungen, aber ihr Wesen.
Waehrend sie Wettkaempfe der Buerger sein sollten und ohne Zweifel
anfangs auch in Rom waren, wurden sie Wettkaempfe von Kunstreitern und
Kunstfechtern; und wenn der Beweis freier und hellenischer Abstammung
die erste Bedingung der Teilnahme an den griechischen Festspielen war,
so kamen die roemischen bald in die Haende von freigelassenen und
fremden, ja selbst von unfreien Leuten. Folgeweise verwandelte sich der
Umstand der Mitstreiter in ein Zuschauerpublikum, und von dem Kranz des
Wettsiegers, den man mit Recht das Wahrzeichen von Hellas genannt hat,
ist in Latium spaeterhin kaum die Rede.
Aehnlich erging es der Poesie und ihren Schwestern. Nur die Griechen
und die Deutschen besitzen den freiwillig hervorsprudelnden
Liederquell; aus der goldenen Schale der Musen sind auf Italiens
gruenen Boden eben nur wenige Tropfen gefallen. Zur eigentlichen
Sagenbildung kam es nicht. Die italischen Goetter sind Abstraktionen
gewesen und geblieben und haben nie zu rechter persoenlicher Gestaltung
sich gesteigert oder, wenn man will, verdunkelt. Ebenso sind die
Menschen, auch die groessten und herrlichsten, dem Italiker ohne
Ausnahme Sterbliche geblieben und wurden nicht wie in Griechenland in
sehnsuechtiger Erinnerung und liebevoll gepflegter Ueberlieferung in
der Vorstellung der Menge zu goettergleichen Heroen erhoben. Vor allem
aber kam es in Latium nicht zur Entwicklung einer Nationalpoesie. Es
ist die tiefste und herrlichste Wirkung der musischen Kuenste und vor
allem der Poesie, dass sie die Schranken der buergerlichen Gemeinden
sprengen und aus den Staemmen ein Volk, aus den Voelkern eine Welt
erschaffen. Wie heutzutage in unserer und durch unsere Weltliteratur
die Gegensaetze der zivilisierten Nationen aufgehoben sind, so hat die
griechische Dichtkunst das duerftige und egoistische Stammgefuehl zum
hellenischen Volksbewusstsein und dieses zum Humanismus umgewandelt.
Aber in Latium trat nichts Aehnliches ein; es mochte Dichter in Alba
und in Rom geben, aber es entstand kein latinisches Epos, nicht einmal,
was eher noch denkbar waere, ein latinischer Bauernkatechismus von der
Art wie die Hesiodischen ‘Werke und Tage’. Es konnte wohl das
latinische Bundesfest ein musisches Nationalfest werden wie die
Olympien und Isthmien der Griechen. Es konnte wohl an Albas Fall ein
Sagenkreis anknuepfen, wie er um Ilions Eroberung sich spann, und jede
Gemeinde und jedes edle Geschlecht Latiums seine eigenen Anfaenge darin
wiederfinden oder hineinlegen. Aber weder das eine noch das andere
geschah und Italien blieb ohne nationale Poesie und Kunst.
Was hieraus mit Notwendigkeit folgt, dass die Entwicklung der musischen
Kuenste in Latium mehr ein Eintrocknen als ein Aufbluehen war, das
bestaetigt, auch fuer uns noch unverkennbar, die Ueberlieferung. Die
Anfaenge der Poesie eignen wohl ueberall mehr den Frauen als den
Maennern; Zaubergesang und Totenlied gehoeren vorzugsweise jenen und
nicht ohne Grund sind die Liedesgeister, die Casmenen oder Camenen und
die Carmentis Latiums, wie die Musen von Hellas weiblich gefasst
worden. Aber in Hellas kam die Zeit, wo der Dichter die Sangfrau
abloeste und Apollon an die Spitze der Musen trat; Latium hat keinen
nationalen Gott des Gesanges und die aeltere lateinische Sprache keine
Bezeichnung fuer den Dichter ^7. Die Liedesmacht ist hier
unverhaeltnismaessig schwaecher aufgetreten und rasch verkuemmert. Die
Uebung musischer Kuenste hat sich hier frueh teils auf Frauen und
Kinder, teils auf zuenftige und unzuenftige Handwerker beschraenkt.
Dass die Klagelieder von den Frauen, die Tischlieder von den Knaben
gesungen wurden, ist schon erwaehnt worden; auch die religioesen
Litaneien wurden vorzugsweise von Kindern ausgefuehrt. Die Spielleute
bildeten ein zuenftiges, die Taenzer und die Klagefrauen (praeficae)
unzuenftige Gewerbe. Wenn Tanz, Spiel und Gesang in Hellas stets
blieben, was sie auch in Latium urspruenglich gewesen waren, ehrenvolle
und dem Buerger wie seiner Gemeinde zur Zier gereichende
Beschaeftigungen, so zog sich in Latium der bessere Teil der
Buergerschaft mehr und mehr von diesen eitlen Kuensten zurueck, und um
so entschiedener, je mehr die Kunst sich oeffentlich darstellte und je
mehr sie von den belebenden Anregungen des Auslandes durchdrungen war.
Die einheimische Floete liess man sich gefallen, aber die Lyra blieb
geaechtet; und wenn das nationale Maskenspiel zugelassen ward, so
schien das auslaendische Ringspiel nicht bloss gleichgueltig, sondern
schaendlich. Waehrend die musischen Kuenste in Griechenland immer mehr
Gemeingut eines jeden einzelnen und aller Hellenen zusammen werden und
damit aus ihnen eine allgemeine Bildung sich entwickelt, schwinden sie
in Latium allgemach aus dem allgemeinen Volksbewusstsein, und indem sie
zu in jeder Beziehung geringen Handwerken herabsinken, kommt hier nicht
einmal die Idee einer der Jugend mitzuteilenden, allgemein nationalen
Bildung auf. Die Jugenderziehung blieb durchaus befangen in den
Schranken der engsten Haeuslichkeit. Der Knabe wich dem Vater nicht von
der Seite und begleitete ihn nicht bloss mit dem Pfluge und der Sichel
auf das Feld, sondern auch in das Haus des Freundes und in den
Sitzungssaal, wenn der Vater zu Gaste oder in den Rat geladen war.
Diese haeusliche Erziehung war wohl geeignet, den Menschen ganz dem
Hause und ganz dem Staate zu bewahren; auf der dauernden
Lebensgemeinschaft zwischen Vater und Sohn und auf der gegenseitigen
Scheu des werdenden Menschen vor dem fertigen und des reifen Mannes vor
der Unschuld der Jugend beruhte die Festigkeit der haeuslichen und
staatlichen Tradition, die Innigkeit des Familienbandes, ueberhaupt der
gewichtige Ernst (gravitas) und der sittliche und wuerdige Charakter
des roemischen Lebens. Wohl war auch diese Jugenderziehung eine jener
Institutionen schlichter und ihrer selbst kaum bewusster Weisheit, die
ebenso einfach sind wie tief; aber ueber der Bewunderung, die sie
erweckt, darf es nicht uebersehen werden, dass sie nur durchgefuehrt
werden konnte und nur durchgefuehrt ward durch die Aufopferung der
eigentlichen individuellen Bildung und durch voelligen Verzicht auf die
so reizenden wie gefaehrlichen Gaben der Musen.
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^7 Vates ist wohl zunaechst der Vorsaenger (denn so wird der vates der
Salier zu fassen sein) und naehert sich dann im aelteren Sprachgebrauch
dem griechischen προφήτης: es ist ein dem religioesen Ritual
angehoerendes Wort und hat, auch als es spaeter vom Dichter gebraucht
ward, immer den Nebenbegriff des gotterfuellten Saengers, des
Musenpriesters, behalten.
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Ueber die Entwicklung der musischen Kuenste bei den Etruskern und
Sabellern mangelt uns so gut wie jede Kunde ^8. Es kann hoechstens
erwaehnt werden, dass auch in Etrurien die Taenzer (histri, histriones)
und die Floetenspieler (subulones) frueh und wahrscheinlich noch
frueher als in Rom aus ihrer Kunst ein Gewerbe machten und nicht bloss
in der Heimat, sondern auch in Rom um geringen Lohn und keine Ehre sich
oeffentlich produzierten. Bemerkenswerter ist es, dass an dem
etruskischen Nationalfest, welches die saemtlichen Zwoelfstaedte durch
einen Bundespriester ausrichteten, Spiele wie die des roemischen
Stadtfestes gegeben wurden; indes die dadurch nahegelegte Frage,
inwieweit die Etrusker mehr als die Latiner zu einer nationalen, ueber
den einzelnen Gemeinden stehenden musischen Kunst gelangt sind, sind
wir zu beantworten nicht mehr imstande. Anderseits mag wohl in Etrurien
schon in frueherer Zeit der Grund gelegt sein zu der geistlosen
Ansammlung gelehrten, namentlich theologischen und astrologischen
Plunders, durch den die Tusker spaeterhin, als in dem allgemeinen
Verfall die Zopfgelehrsamkeit zur Bluete kam, mit den Juden, Chaldaeern
und Aegyptern die Ehre teilten, als Urquell goettlicher Weisheit
angestaunt zu werden.
Womoeglich noch weniger wissen wir von sabellischer Kunst; woraus
natuerlich noch keineswegs folgt, dass sie der der Nachbarstaemme
nachgestanden hat. Vielmehr laesst sich nach dem sonst bekannten
Charakter der drei Hauptstaemme vermuten, dass an kuenstlerischer
Begabung die Samniten den Hellenen am naechsten, die Etrusker ihnen am
fernsten gestanden haben moegen; und eine gewisse Bestaetigung dieser
Annahme gewaehrt die Tatsache, dass die bedeutendsten und
eigenartigsten unter den roemischen Poeten, wie Naevius, Ennius,
Lucilius, Horatius, den samnitischen Landschaften angehoeren, wogegen
Etrurien in der roemischen Literatur fast keine anderen Vertreter hat
als den Arretiner Maecenas, den unleidlichsten aller herzvertrockneten
und worteverkraeuselnden Hofpoeten, und den Volaterraner Persius, das
rechte Ideal eines hoffaertigen und mattherzigen, der Poesie
beflissenen Jungen.
Die Elemente der Baukunst sind, wie dies schon angedeutet ward, uraltes
Gemeingut der Staemme. Den Anfang aller Tektonik macht das Wohnhaus; es
ist dasselbe bei Griechen und Italikern. Von Holz gebaut und mit einem
spitzen Stroh- oder Schindeldach bedeckt, bildet es einen viereckigen
Wohnraum, welcher durch die mit dem Regenloch im Boden
korrespondierende Deckenoeffnung (cavum aedium) den Rauch entlaesst und
das Licht einfuehrt. Unter dieser “schwarzen Decke” (atrium) werden die
Speisen bereitet und verzehrt; hier werden die Hausgoetter verehrt und
das Ehebett wie die Bahre aufgestellt; hier empfaengt der Mann die
Gaeste und sitzt die Frau spinnend im Kreise ihrer Maegde. Das Haus
hatte keinen Flur, insofern man nicht den unbedeckten Raum zwischen der
Haustuer und der Strasse dafuer nehmen will, welcher seinen Namen
vestibulum, das ist der Ankleideplatz, davon erhielt, dass man im Hause
im Untergewand zu gehen pflegte und nur, wenn man hinaustrat, die Toga
umwarf. Auch eine Zimmereinteilung mangelte, ausser dass um den
Wohnraum herum Schlaf- und Vorratskammern angebracht werden konnten;
und an Treppen und aufgesetzte Stockwerke ist noch weniger zu denken.
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^8 Dass die Atellanen und Fescenninen nicht der kampanischen und
etruskischen, sondern der latinischen Kunst angehoeren, wird seiner
Zeit gezeigt werden.
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Ob und wieweit aus diesen Anfaengen eine national-italische Tektonik
hervorging, ist kaum zu entscheiden, da die griechische Einwirkung
schon in der fruehesten Zeit hier uebermaechtig eingegriffen und die
etwa vorhandenen volkstuemlichen Anfaenge fast ganz ueberwuchert hat.
Schon die aelteste italische Baukunst, welche uns bekannt ist, steht
nicht viel weniger unter dem Einfluss der griechischen als die Tektonik
der augustischen Zeit. Die uralten Graeber von Caere und Alsium sowie
wahrscheinlich auch das aelteste unter den kuerzlich aufgedeckten
praenestinischen sind ganz wie die Thesauren von Orchomenos und Mykenae
durch uebereinandergeschobene, allmaehlich einspringende und mit einem
grossen Deckstein geschlossene Steinlagen ueberdacht gewesen. In
derselben Weise ist ein sehr altertuemliches Gebaeude an der Stadtmauer
von Tusculum gedeckt, und ebenso gedeckt war urspruenglich das
Quellhaus (tullianum) am Fusse des Kapitols, bis des darauf gesetzten
Gebaeudes wegen die Spitze abgetragen ward. Die nach demselben System
angelegten Tore gleichen sich voellig in Arpinum und in Mykenae. Der
Emissar des Albaner Sees hat die groesste Aehnlichkeit mit dem des
Kopaischen. Die sogenannten kyklopischen Ringmauern kommen in Italien,
vorzugsweise in Etrurien, Umbrien, Latium und der Sabina haeufig vor
und gehoeren der Anlage nach entschieden zu den aeltesten Bauwerken
Italiens, obwohl der groesste Teil der jetzt vorhandenen wahrscheinlich
erst viel spaeter, einzelne sicher erst im siebenten Jahrhundert der
Stadt aufgefuehrt worden sind. Sie sind, eben wie die griechischen,
bald ganz roh aus grossen unbearbeiteten Felsbloecken mit dazwischen
eingeschobenen kleineren Steinen, bald quadratisch in horizontalen
Lagen ^9, bald aus vieleckig zugehauenen, ineinandergreifenden Bloecken
geschichtet; ueber die Wahl des einen oder des anderen dieser Systeme
entschied in der Regel wohl das Material, wie denn in Rom, wo man in
aeltester Zeit nur aus Tuff baute, deswegen der Polygonalbau nicht
vorkommt. Die Analogie der beiden ersten einfacheren Arten mag man auf
die des Baustoffs und des Bauzwecks zurueckfuehren; aber es kann
schwerlich fuer zufaellig gehalten werden, dass auch der kuenstliche
polygone Mauerbau und das Tor mit dem durchgaengig links einbiegenden
und die unbeschildete rechte Seite des Angreifers den Verteidigern
blosslegenden Torweg den italischen Festungen ebensowohl wie den
griechischen eignet. Bedeutsame Winke liegen auch darin, dass in
demjenigen Teil Italiens, der von den Hellenen zwar nicht unterworfen,
aber doch mit ihnen in lebhaftem Verkehr war, der eigentliche polygone
Mauerbau landueblich war und er in Etrurien nur in Pyrgi und in den
nicht sehr weit davon entfernten Staedten Cosa und Saturnia begegnet;
da die Anlage der Mauer von Pyrgi, zumal bei dem bedeutsamen Namen
(“Tuerme”), wohl ebenso sicher den Griechen zugeschrieben werden kann
wie die der Mauern von Tirynth, so steht hoechst wahrscheinlich in
ihnen noch uns eines der Muster vor Augen, an denen die Italiker den
Mauerbau lernten. Der Tempel endlich, der in der Kaiserzeit der
tuscanische hiess und als eine den verschiedenen griechischen
Tempelbauten koordinierte Stilgattung betrachtet ward, ist sowohl im
ganzen eben wie der griechische ein gewoehnlich viereckiger ummauerter
Raum (cella), ueber welchem Waende und Saeulen das schraege Dach
schwebend emportragen, als auch im einzelnen, vor allem in der Saeule
selbst und ihrem architektonischen Detail, voellig abhaengig von dem
griechischen Schema. Es ist nach allem diesem wahrscheinlich wie auch
an sich glaublich, dass die italische Baukunst vor der Beruehrung mit
den Hellenen sich auf Holzhuetten, Verhacke und Erd- und
Steinaufschuettungen beschraenkte und dass die Steinkonstruktion erst
in Aufnahme kam durch das Beispiel und die besseren Werkzeuge der
Griechen. Kaum zu bezweifeln ist es, dass die Italiker erst von diesen
den Gebrauch des Eisens kennenlernten und von ihnen die
Moertelbereitung (cal[e]x, calecare, von χάλιξ), die Maschine (machina
μηχανή), das Richtmass (groma, verdorben aus γνώμων γνώμα) und den
kuenstlichen Verschluss (clatri κλήθρον) ueberkamen. Demnach kann von
einer eigentuemlich italischen Architektur kaum gesprochen werden. Doch
mag in dem Holzbau des italischen Wohnhauses neben den durch
griechischen Einfluss hervorgerufenen Abaenderungen manches
Eigentuemliche festgehalten oder auch erst entwickelt worden sein und
dies dann wieder auf den Bau der italischen Goetterhaeuser
zurueckgewirkt haben. Die architektonische Entwicklung des Hauses aber
ging in Italien aus von den Etruskern. Der Latiner und selbst der
Sabeller hielten noch fest an der ererbten Holzhuette und der guten
alten Sitte, dem Gotte wie dem Geist nicht eine geweihte Wohnung,
sondern nur einen geweihten Raum anzuweisen, als der Etrusker schon
begonnen hatte, das Wohnhaus kuenstlerisch umzubilden und nach dem
Muster des menschlichen Wohnhauses auch dem Gotte einen Tempel und dem
Geist ein Grabgemach zu errichten. Dass man in Latium zu solchen
Luxusbauten erst unter etruskischem Einfluss vorschritt, beweist die
Bezeichnung des aeltesten Tempelbau- und des aeltesten Hausbaustils als
tuscanischer ^10. Was den Charakter dieser Uebertragung anlangt, so
ahmt der griechische Tempel wohl auch die allgemeinen Umrisse des
Zeltes oder des Wohnhauses nach; aber er ist wesentlich von Quadern
gebaut und mit Ziegeln gedeckt, und in dem durch den Stein und den
gebrannten Ton bestimmten Verhaeltnissen haben sich fuer ihn die
Gesetze der Notwendigkeit und der Schoenheit entwickelt. Dem Etrusker
dagegen blieb der scharfe griechische Gegensatz zwischen der von Holz
hergerichteten Menschen- und der steinernen Goetterwohnung fremd; die
Eigentuemlichkeiten des tuscanischen Tempels: der mehr dem Quadrat sich
naehernde Grundriss, der hoehere Giebel, die groessere Weite der
Zwischenraeume zwischen den Saeulen, vor allem die gesteigerte
Schraegung und das auffallende Vortreten der Dachbalkenkoepfe ueber die
tragenden Saeulen gehen saemtlich aus der groesseren Annaeherung des
Tempels an das Wohnhaus und aus den Eigentuemlichkeiten des Holzbaues
hervor.
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^9 Dieser Art sind die Servianischen Mauern gewesen. Sie bestehen teils
aus einer Verstaerkung der Huegelabhaenge durch vorgelegte bis zu vier
Metern starke Futtermauern, teils in den Zwischenraeumen, vor allem am
Viminal und Quirinal, wo vom Esquilinischen bis zum Collinischen Tore
die natuerliche Verteidigung fehlte, aus einem Erdwall, welcher nach
aussen durch eine aehnliche Futtermauer abgeschlossen wird. Auf diesen
Futtermauern ruhte die Brustwehr. Ein Graben, nach zuverlaessigen
Berichten der Alten 30 Fuss tief und 100 Fuss breit, zog sich vor dem
Wall hin, zu dem die Erde aus eben diesem Graben genommen war. Die
Brustwehr hat sich nirgends erhalten; von den Futtermauern sind in
neuerer Zeit ausgedehnte Ueberreste zum Vorschein gekommen. Die
Tuffbloecke derselben sind im laenglichen Rechteck behauen,
durchschnittlich 60 Zentimeter (= 2 roem. Fuss) hoch und breit,
waehrend die Laenge von 70 Zentimetern bis zu drei Metern wechselt, und
ohne Anwendung von Moertel, abwechselnd mit den Lang- und mit den
Schmalseiten nach aussen, in mehreren Reihen nebeneinander geschichtet.
Der im Jahre 1862 in der Villa Negroni aufgedeckte Teil des
Servianischen Walls am Viminalischen Tor ruht auf einem Fundament
gewaltiger Tuffbloecke von drei bis vier Metern Hoehe und Breite, auf
welchem dann aus Bloecken von demselben Material und derselben Groesse,
wie sie bei der Mauer sonst verwandt waren, die Aussenmauer sich erhob.
Der dahinter aufgeschuettete Erdwall scheint auf der oberen Flaeche
eine Breite bis zu etwa dreizehn Metern oder reichlich 40 roem. Fuss,
die ganze Mauerwehr mit Einrechnung der Aussenmauer von Quadern eine
Breite bis zu fuenfzehn Metern oder 50 roem. Fuss gehabt zu haben. Die
Stuecke aus Peperinbloecken, welche mit eisernen Klammern verbunden
sind, sind erst bei spaeteren Ausbesserungsarbeiten hinzugekommen.
Den Servianischen wesentlich gleichartig sind die in der Vigna Nussiner
am Abhang des Palatins nach der Kapitolseite und an anderen Punkten des
Palatin aufgefundenen Mauern, die von Jordan (Topographie der Stadt Rom
im Altertum. Bd. 2. Berlin 1885, S. 173) wahrscheinlich mit Recht fuer
Ueberreste der Burgmauer des palatinischen Rom erklaert worden sind.
^10 Ratio Tuscanica; cavum aedium Tuscanicum.
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Die bildenden und zeichnenden Kuenste sind juenger als die Architektur;
das Haus muss erst gebaut sein, ehe man daran geht, Giebel und Waende
zu schmuecken. Es ist nicht wahrscheinlich, dass diese Kuenste in
Italien schon waehrend der roemischen Koenigszeit recht in Aufnahme
gekommen sind; nur in Etrurien, wo Handel und Seeraub frueh grosse
Reichtuemer konzentrierten, wird die Kunst oder, wenn man lieber will,
das Handwerk in fruehester Zeit Fuss gefasst haben. Die griechische
Kunst, wie sie auf Etrurien gewirkt hat, stand, wie ihr Abbild beweist,
noch auf einer sehr primitiven Stufe und es moegen wohl die Etrusker in
nicht viel spaeterer Zeit von den Griechen gelernt haben, in Ton und
Metall zu arbeiten, als diejenige war, in der sie das Alphabet von
ihnen entlehnten. Von etruskischer Kunstfertigkeit dieser Epoche geben
die Silbermuenzen von Populonia, fast die einzigen mit einiger
Sicherheit dieser Epoche zuzuweisenden Arbeiten, nicht gerade einen
hohen Begriff; doch moegen von den etruskischen Bronzewerken, welche
die spaeteren Kunstkenner so hoch stellten, die besten eben dieser
Urzeit angehoert haben, und auch die etruskischen Terrakotten koennen
nicht ganz gering gewesen sein, da die aeltesten in den roemischen
Tempeln aufgestellten Werke aus gebrannter Erde, die Bildsaeule des
kapitolinischen Jupiter und das Viergespann auf seinem Dache, in Veii
bestellt worden waren und die grossen derartigen Aufsaetze auf den
Tempeldaechern ueberhaupt bei den spaeteren Roemern als “tuscanische
Werke” gingen.
Dagegen war bei den Italikern, nicht bloss bei den sabellischen
Staemmen, sondern selbst bei den Latinern, das eigene Bilden und
Zeichnen in dieser Zeit noch erst im Entstehen. Die bedeutendsten
Kunstwerke scheinen im Auslande gearbeitet worden zu sein. Der
angeblich in Veii verfertigten Tonbilder wurde schon gedacht; dass in
Etrurien verfertigte und mit etruskischen Inschriften versehene
Bronzearbeiten wenn nicht in Latium ueberhaupt, doch mindestens in
Praeneste gangbar waren, haben die neuesten Ausgrabungen bewiesen. Das
Bild der Diana in dem roemisch-latinischen Bundestempel auf dem
Aventin, welches als das aelteste Goetterbild in Rom galt ^11, glich
genau dem massaliotischen der ephesischen Artetuis und war vielleicht
in Elea oder Massalia gearbeitet. Es sind fast allein die seit alter
Zeit in Rom vorhandenen Zuenfte der Toepfer, Kupfer- und Goldschmiede,
welche das Vorhandensein eigenen Bildens und Zeichnens daselbst
beweisen; von ihrem Kunststandpunkt aber ist es nicht mehr moeglich,
eine konkrete Vorstellung zu gewinnen.
Versuchen wir aus den Archiven aeltester Kunstueberlieferung und
Kunstuebung geschichtliche Resultate zu gewinnen, so ist zunaechst
offenbar, dass die italische Kunst ebenso wie italisches Mass und
italische Schrift nicht unter phoenikischem, sondern ausschliesslich
unter hellenischem Einfluss sich entwickelt hat. Es ist nicht eine
einzige unter den italischen Kunstrichtungen, die nicht in der
altgriechischen Kunst ihr bestimmtes Musterbild faende, und insofern
hat die Sage ganz recht, wenn sie die Verfertigung der bemalten
Tonbilder, ohne Zweifel der aeltesten Kunstart, in Italien
zurueckfuehrt auf die drei griechischen Kuenstler: den “Bildner”,
“Ordner” und “Zeichner”, Eucheir, Diopos und Eugrammos, obwohl es mehr
als zweifelhaft ist, dass diese Kunst zunaechst von Korinth und
zunaechst nach Tarquinii kam. Von unmittelbarer Nachahmung
orientalischer Muster findet sich ebensowenig eine Spur als von einer
selbstaendig entwickelten Kunstform; wenn die etruskischen
Steinschneider an der urspruenglich aegyptischen Kaefer- oder
Skarabaeenform festhielten, so sind doch auch die Skarabaeen in
Griechenland in sehr frueher Zeit nachgeschnitten worden, wie denn ein
solcher Kaeferstein mit sehr alter griechischer Inschrift sich in
Aegina gefunden hat, und koennen also den Etruskern recht wohl durch
die Griechen zugekommen sein. Von dem Phoeniker mochte man kaufen; man
lernte nur von dem Griechen.
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^11 Wenn Varro (bei Aug. civ. 4, 31, vgl. Plut. Num. 8) sagt, dass die
Roemer mehr als 170 Jahre die Goetter ohne Bilder verehrt haetten, so
denkt er offenbar an dies uralte Schnitzbild, welches nach der
konventionellen Chronologie zwischen 176 und 219 (578 und 535) der
Stadt dediziert und ohne Zweifel das erste Goetterbild war, dessen
Weihung die dem Varro vorliegenden Quellen erwaehnten. Vgl. oben 1,
230.
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Auf die weitere Frage, von welchem griechischen Stamm den Etruskern die
Kunstmuster zunaechst zugekommen sind, laesst sich eine kategorische
Antwort nicht geben; doch bestehen bemerkenswerte Beziehungen zwischen
der etruskischen und der aeltesten attischen Kunst. Die drei
Kunstformen, die in Etrurien wenigstens spaeterhin in grosser, in
Griechenland nur in sehr beschraenkter Ausdehnung geuebt worden sind,
die Grabmalerei, die Spiegelzeichnung und die Steinschneidekunst, sind
bis jetzt auf griechischem Boden einzig in Athen und Aegina beobachtet
worden. Der tuskische Tempel entspricht genau weder dem dorischen noch
dem ionischen; aber in den wichtigsten Unterscheidungsmomenten, in dem
um die Cella herumgefuehrten Saeulengang sowie in der Unterlegung eines
besonderen Postaments unter jede einzelne Saeule, folgt der etruskische
Stil dem juengeren ionischen; und eben der noch vom dorischen Element
durchdrungene ionisch-attische Baustil steht in der allgemeinen Anlage
unter allen griechischen dem tuskischen am naechsten. Fuer Latium
mangelt es so gut wie ganz an sicheren kunstgeschichtlichen
Verkehrsspuren; wenn aber, wie sich dies ja genau genommen von selbst
versteht, die allgemeinen Handels- und Verkehrsbeziehungen auch fuer
die Kunstmuster entscheidend gewesen sind, so kann mit Sicherheit
angenommen werden, dass die kampanischen und sizilischen Hellenen wie
im Alphabet so auch in der Kunst die Lehrmeister Latiums gewesen sind;
und die Analogie der aventinischen Diana mit der ephesischen Artemis
widerspricht dem wenigstens nicht. Daneben war denn natuerlich die
aeltere etruskische Kunst auch fuer Latium Muster. Den sabellischen
Staemmen ist wie das griechische Alphabet so auch die griechische Bau-
und Bildkunst wenn ueberhaupt doch nur durch Vermittlung der
westlicheren italischen Staemme nahegetreten.
Wenn aber endlich ueber die Kunstbegabung der verschiedenen italischen
Nationen ein Urteil gefaellt werden soll, so ist schon hier
ersichtlich, was freilich in den spaeteren Stadien der Kunstgeschichte
noch bei weitem deutlicher hervortritt, dass die Etrusker wohl frueher
zur Kunstuebung gelangt sind und massenhafter und reicher gearbeitet
haben, dagegen ihre Werke hinter den latinischen und sabellischen an
Zweckrichtigkeit und Nuetzlichkeit nicht minder wie an Geist und
Schoenheit zurueckstehen. Es zeigt sich dies allerdings fuer jetzt nur
noch in der Architektur. Der ebenso zweckmaessige wie schoene polygone
Mauerbau ist in Latium und dem dahinterliegenden Binnenland haeufig, in
Etrurien selten und nicht einmal Caeres Mauern sind aus vieleckigen
Bloecken geschichtet. Selbst in der auch kunstgeschichtlich
merkwuerdigen religioesen Hervorhebung des Bogens und der Bruecke in
Latium ist es wohl erlaubt, die Anfaenge der spaeteren roemischen
Aquaedukte und roemischen Konsularstrassen zu erkennen. Dagegen haben
die Etrusker den hellenischen Prachtbau wiederholt, aber auch
verdorben, indem sie die fuer den Steinbau festgestellten Gesetze nicht
durchaus geschickt auf den Holzbau uebertrugen und durch das tief
hinabgehende Dach und die weiten Saeulenzwischenraeume ihrem
Gotteshaus, mit einem alten Baumeister zu reden, “ein breites,
niedriges, sperriges und schwerfaelliges Ansehen” gegeben haben. Die
Latiner haben aus der reichen Fuelle der griechischen Kunst nur sehr
weniges ihrem energisch realistischen Sinne kongenial gefunden, aber
was sie annahmen, der Idee nach und innerlich sich angeeignet und in
der Entwicklung des polygonen Mauerbaus vielleicht ihre Lehrmeister
uebertroffen; die etruskische Kunst ist ein merkwuerdiges Zeugnis
handwerksmaessig angeeigneter und handwerksmaessig festgehaltener
Fertigkeiten, aber so wenig wie die chinesische ein Zeugnis auch nur
genialer Rezeptivitaet. Wie man sich auch straeuben mag, so gut wie man
laengst aufgehoert hat, die griechische Kunst aus der etruskischen
abzuleiten, wird man sich auch noch entschliessen muessen, in der
Geschichte der italischen Kunst die Etrusker aus der ersten in die
letzte Stelle zu versetzen.
End of the Project Gutenberg EBook of Römische Geschichte Book 1 by Theodor Mommsen
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— End of Römische Geschichte — Buch 1 —
Book Information
- Title
- Römische Geschichte — Buch 1
- Author(s)
- Mommsen, Theodor
- Language
- German
- Type
- Text
- Release Date
- February 1, 2002
- Word Count
- 89,122 words
- Library of Congress Classification
- DG
- Bookshelves
- DE Sachbuch, Browsing: History - European, Browsing: History - General
- Rights
- Public domain in the USA.
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