The Project Gutenberg EBook of Deutscher Mondschein, by Wilhelm Raabe
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Title: Deutscher Mondschein
Author: Wilhelm Raabe
Release Date: May 10, 2010 [EBook #32008]
Language: German
Character set encoding: UTF-8
*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHER MONDSCHEIN ***
Produced by Michael Wooff, with German from the original
text, and his own translation
Deutscher Mondschein
Eine Erzählung von Wilhelm Raabe (1831-1910)
Erzählen wir ruhig und ohne alle Aufregung. Ich bin ein selbst für
Deutschland außergewöhnlich nüchterner Mensch und verstehe es, meine
fünf Sinne zusammenzuhalten. Außerdem bin ich Jurist, der Mann
meiner Frau und der Vater meiner Söhne. Weder zur Zeit der
Holunderblüte noch zur Zeit der Stockrosen, Sonnenblumen und Astern
pflege ich mich sentimentalen oder romantischen Anwandlungen
ausgesetzt zu fühlen. Ein Tagebuch führe ich nicht; aber sämtliche
Jahrgänge meines Terminkalenders halten in meiner Bibliothek
wohlgeordnet ihren Platz fest. Diese alles vorausgeschickt, teile
ich mit, daß ich mich im Jahre 1867 auf ärztlichen Rat, der Seeluft
und des Meerwassers wegen, auf der Insel Sylt befand und daß ich
daselbst eine Bekanntschaft machte--eine ganz außerordentliche
Bekanntschaft.
Selbstverständlich kann ich mich nicht dabei aufhalten, das oft
Empfundene und noch häufiger Geschilderte und in Briefen oder durch
den Druck Verbreitete von neuem durch eine schriftliche Wiedergabe
meiner eigenen Erfahrungen und Gefühle zu berichtigen oder zu
bekräftigen. Wogenschlag, Sandhafer und Sandroggen, Möwenflug und
vor allem der Westwind machten auf jeden, der von einer deutschen
Beamtenexistenz den Schweiß und den Staub abzuspülen hat, einen
angenehmen, erfrischenden Eindruck. Sie verfehlten ihre Wirkung auch
auf mich nicht, zumal da die Anstrengungen, die der erwähnten
Erfrischung vorangingen, nicht gering waren.
Ich wohnte auf der Grenze der beiden Dörfer Tinnum und Westerland und
hatte also, um zum Strande und in die heilige Salzflut zu gelangen,
einen Weg von mindestens einer halben Stunde zurückzulegen. Ein
nicht kürzerer Weg führte dann zu dem edlen Mann, der uns
allmittäglich für einen soliden Preis von innen aus wieder
auferbaute. Auf häuslichen Komfort oder gar Luxus mache ich als an
Genügsamkeit gewöhnter deutscher Staatsdiener überhaupt keinen
Anspruch. Da ich von meinen einundzwanzig Pfeifen sieben mit mir
führte, würde ich mich selbst in einem Hünengrabe behaglich
eingerichtet haben.
Gut--ich wohnte bei einem Bäcker, der seinen Backofen mit
Strandholz, das heißt dem in den Strandauktionen von gestrandeten
Schiffen erstandenen Gebälk und Sparren- und Balkenwerk heizte. Ich
half ihm dann und wann, dieses Holz zu spalten, und fühlte mich hier
gemütlich dadurch angeregt--daheim widme ich mich dem Geschäft mehr
aus sanitätischen Gründen.
Daheim säge und spalte ich in meinen Mußestunden mein Brennholz, hier
trieb ich Allotria oder studierte einige vorsichtigerweise im Gepäck
mitgeführte Abhandlungen über die braunschweigische Erbfolge. In den
Geschäftsstunden ging ich am Strande spazieren.
Bei einem solchen Badeaufenthalt zieht sich alles in die Länge. Zu
Hause wandle ich jeglichen Tag und in jedem Wetter rund um die zu
Spaziergängen eingerichteten Wälle meiner Amststadt; auf Sylt speiste
ich, hielt eine Stunde auf einer Düne Siesta und lief dann geradeaus
gen Norden den Strand entlang, manchmal bis zum Roten Kliff, jedoch
gewöhnlich nur bis zu den Badehütten von Wenningstedt.
Da das Meer wie ein Waschweib beiderlei Geschlechts nichts bei sich
behalten kann, sondern alles wieder auswirft, so waren diese Gänge
nie ohne ihre Reize; denn wenn ich auch ein Mann der Prosa bin, so
kann ich doch einen toten Seehund mit einer gewissen Melancholie vom
Rücken auf den Bauch wenden und meine Gedanken dabei haben.
Gut--oder diesmal vielmehr: besser! Ich befand mich ungefähr drei
Wochen auf dieser lang von Süden nach Norden oder umgekehrt
hingestreckten Insel, als ich die zu Anfang meiner Relation erwähnte
Bekanntschaft machte.
Es war gegen Abend. Die Sonne war untergegangen, und ich kam--heute
--vom Roten Kliff zurück, und zwar nicht wenig müde, denn die Ebbe
hatte den Weg am Strande nach besten Kräften für alle auf Sylt
anwesenden am Unterleib leidenden Patienten gangbar gemacht. Wenn
man zehn Schritte lang auf ziemlich festgeschlagenem Sande wandelte,
versank man während der nächsten zweihundert Schritte desto tiefer,
und die Gattin, Tochter, Cousine oder Geliebte meiner Leser, die über
diesen der Gesundheit so ungemein ersprießlichen Pfad graziös
weggeglitten wäre, würde ich in der Tat gern einem Poeten zur
lyrischen oder epischen Verwendung empfehlen, wenn mir ein solcher
außer dem Kreisrichter Löhnefinke unter meinen Kollegen und
sonstigen Freunden und Feinden bekannt wäre.
Ich sagte: die Sonne war untergegangen, und verbessere mich. Sie
ging eben unter, als ich bei den Dünen, südlich von Wenningstedt, dem
Riesenloch gegenüber, anlangte. Ein Blankeneser oder Cuxhavener
Fischerboot verschwand mit ihr in den Nebeln des Meereshorizontes,
und ein trübes Grau wurde aus dem erfreulichen und dem Auge so
wohltätigen Grün des Wassers. Auch die gelbrote Färbung der
Sandhügel zur Linken des gesunden, aber beschwerlichen Weges
verschwand, und die graue Farbe gewann zur Linken wie zur Rechten die
Oberhand. Das Dünengras fing an, in einem kühlern Winde zu lispeln;
es war Abend geworden, und es war gegründete Aussicht vorhanden, daß
es demnächst Nacht werde.
Stolpernd und trotz der Abendkühle in Schweiß gebadet, beschleunigte
ich meine Schritte der abendliche Pfeife zu, als mir das Unerwartete
passierte und ich den Kollegen Löhnefinke kennenlernte.
Jedermann, der den westlichen Strand der Insel Sylt kennt, weiß auch,
wie schroff oft die Dünen gegen den sandigen Gesundheitspfad an der
See abfallen, und an einer der schroffsten Stellen fiel mir der
Kollege auf den Hals und setzte mich für alle Zeit meines
Erdenwandels in Erstaunen: der geehrte Leser erlaube mir, daß ich
mein Protokoll mit gewohnter Ruhe und ohne Aufregung weiterführe.
Ich befand mich, wie gesagt, dem Riesenloch gegenüber, und die Sonne
hatte vor fünf Minuten Abschied genommen, als plötzlich auf der Höhe
der Düne zur Linken, ungefähr siebenzig Fuß über meinem Kopfe, ein
Mensch erschien, der unbedingt im eiligsten Laufe an dem Anhange
anlangte, die Arme gegen den Abendhimmel emporwarf, dann sich
niederkauerte und mit einem Male zu meinem haarsträubenden Grausen,
den schroffen, fast senkrechten Hügel herab rutschte, schurrte,
schoß!
Ehe der Ruf des halben Schreckens und ganzen Erstaunens, den ich
ausstieß, verhallt war, saß der Mensch schon am Fuße der Düne im
weichen Sande zwischen einem dorthin angespülten halbzertrümmerten
Faß und einer zerbrochenen Schiffslaterne und sah mit weitoffenem,
schreckensbleichem und doch zugleich zu einem offenbaren Grinsen sich
verziehendem Munde mich, den Herbeieilenden, an und rief, schrie oder
vielmehr heulte:
„Er--sie--ist hinter mir! Ich bitte um Entschuldigung, mein Herr,
aber--wer kann gegen seine Nerven...?“
„Wer? was? wer ist hinter Ihnen?“ schrie ich, an der grauen
Dünenwand emporstarrend, ohne etwas irgend Bedrohliches zu erblicken.
Nichts zeigte sich, was die gewagte Rutschpartie des noch immer im
Sande vor mir sitzenden, ziemlich wohlbeleibten und höchst anständig
gekleideten Individuums und die grenzenlose Bestürzung desselben
rechtfertigen konnte.
„Wer ist hinter Ihnen? Niemand, wie mir scheint! So reden Sie doch!
Wer jagt Sie? Was treibt Sie zu solchen Sprüngen? Ich sehe
wahrhaftig nicht das geringste da oben!“
„Doch, doch! Er--sie--der Mond--Luna--Selene! Nein, nein, nicht
Luna und Selene, sondern er, der Mond, der verruchte deutsche Mond!
Eben geht er hinter den Watten auf und wird in einigen Minuten dort
über die Höhe hinter mir her sein! Und hier kein Dach, kein Schirm –
nicht einmal ein Regenschirm--und der nächste Badekarren zum
Unterschlüpfen eine Viertelstunde weit ab! Das ist mein Tod!“
Einen Regenschirm führe ich gewöhnlich mit mir und so auch jetzt; der
Unbekannte in seiner Verstörung hatte ihn jedoch nicht bemerkt, und
ehe ich ihn dem Narren anbot, überlegte ich natürlicherweise.
Es war mir klar, juristisch klar, daß ich einen Wahnsinnigen vor mir
hatte, und schnell gefaßt überdachte ich, wie unter solchen Umständen
von mir gegen ihn zu handeln sei. Sollte ich den Mann, da ich an
seinen eigentümlichen Fiktionen nichts ändern konnte, seinem
Schicksal überlassen und es seinen Wächtern anheimstellen, ihn
einzufangen; oder sollte ich ein Gespräch mit ihm anknüpfen und auf
die Gefahr hin, in persönlich unangenehme Auseinandersetzungen mit
ihm zu geraten, seine Zustände näher zu ergründen suchen?
Als Mensch würde ich das erstere vorgezogen haben, als Jurist, als
Kriminalist zog mich das letztere an. Ich folgte der Verlockung und
führte die Unterhaltung weiter.
„Mein lieber Herr,“ sprach ich, „wenn Sie sich unter einem
Regenschirm gegen Ihren Feind gesichert glauben, so bin ich mit dem
meinigen gern zu Diensten. Nehmen Sie meinen Arm.“
Ich hatte bereits das seidene Wetterdach ausgespannt, und der
Irrsinnige war ebenfalls bereits mit einem Freudenruf in die Höhe
gesprungen.
„O mein Herr, der Himmel hat mich Ihnen entgegengeführt.“
Er nahm meinen Arm und sagte, den Hut abziehend:
„Erlauben Sie aber auch, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist
Löhnefinke--Königlich Preußischer Kreisrichter zu Groß-Fauhlenberge,
Provinz...“
Jetzt tat ich in vollkommener Stupefaktion einen Seitensprung:
„Mein Herr--das ist nicht möglich!“
„Mein Herr?“
„Sie? Sie, der Sie, um dem Mondaufgange zu entrinnen, sich kopfüber,
auf die Gefahr den Hals zu brechen, eben da--dort hinunterstürzten,
der Kreisrichter Löhnefinke aus Groß-Fauhlenberge? Unmöglich, ganz
unmöglich sind Sie der Kreisrichter Löhnefinke!“
„Doch, doch! Wenn Sie es ein Vergnügen nennen wollen, so habe ich es
und bin der Genannte.“
Mühsam faßte ich mich, indem ich mir sagte: jetzt ist es außer allem
Zweifel, es ist ein Wahnsinniger mit mehreren fixen Ideen. Der
Unglückliche hält nicht nur den Mond für seinen Feind, sondern er
hält sich unbedingt dazu für einen andern.
„Ja, mein Name ist Löhnefinke, und ich würde es für eine Ehre halten,
wenn Sie, mein werter Herr, mich nunmehr auch mit dem Ihrigen bekannt
machen würden.“
Was war dagegen zu machen? Ich stellte mich vor und nannte meinen
Namen und Titel. Sofort zog der Irrsinnige von neuem den Hut, griff
nach meiner Hand, drückte sie herzlich und rief:
„Ach, mein liebe Kollege, sehen Sie, wie das Fatum die Leute
zusammenführt! Wahrhaftig, das hätte ich mir vor einer Viertelstunde
nicht träumen lassen. Mein Gott, so sind wir ja schon seit geraumer
Zeit die besten Bekannten! Erinnern Sie sich doch! Haben wir nicht
in Sachen Johann Peter Müllers, des nachgemachten Zigeunerhäuptlings
aus Langensalza, Akten gewechselt und eine geschäftliche
Korrespondenz geführt? Nicht wahr, es fällt Ihnen ein? O, wie mich
das freut!“
War das ein Traum, oder war’s Wirklichkeit? War dieser Mensch
verrückt, oder war ich es?
Die Sache verhielt sich in der Tat so, und meines Schriftenwechsels
mit dem preußischen Kreisgericht zu Groß-Fauhlenberge erinnerte ich
mich sofort auf das deutlichste. Und mein sonderbarer Begleiter (wir
schritten bereits nebeneinander her) hielt sich auch gar nicht allein
an das bloße Sicher- und Feststellen dieser Tatsache; nein, er
vertiefte sich augenblicklich in die Einzelheiten des betreffenden
Falles, legte mir jetzt mündlich alle die Bedenken vor, die er mir
früher schriftlich mitgeteilt hatte, und--ich erwiderte ihm, als ob
es wirklich keinem Zweifel mehr für mich unterliege, daß er der
fragliche königlich preußische Beamte sei und wirklich den Namen
Löhnefinke führe. Der Vollmond war währenddem in der Tat am
östlichen Horizonte emporgestiegen und schien uns auf die Köpfe, ohne
daß mein Begleiter sich um ihn kümmerte. Arm in Arm gegen den
Badestrand von Westerland anwandelnd, vertieften wir uns immer mehr
in unsere hohe Wissenschaft und ließen den Mond scheinen, wie es ihm
beliebte. So hatten wir fast das Herrenbad erreicht und näherten uns
jetzt der Treppe, welche von dem Strande zu der Höhe der Dünen
hinaufführt, als der Kollege, der sich seiner ersten Exaltation zum
Trotz mir nunmehr als ein höchst klarer Kopf und scharfer Jurist
ausgewiesen hatte, plötzlich, im Sande steckenbleibend, sich umsah,
aufguckte und, geisterbleich werdend, stöhnte:
„O ihr Götter, da sind wir ja mitten drin!“
Daran war kein Zweifel: wir waren mitten drin; die fixe Idee packte
von neuem den Unglückseligen, wütend und angstvoll zog er sich meinen
ausgespannten Schirm dicht auf den Hut herab, und ich--ich konnte
nichts weiter tun, als ihn--den Kreisrichter Löhnefinke, fester am
Ellbogen zu halten und dem erbost sich Windenden und Abzappelnden
eindringlichst zuzureden:
„Aber Verehrtester, ich bitte Sie! Fassung! Fassung! Dieses ist
doch zu toll, Kollege! Was hat Ihnen denn dieses unschädliche
Beleuchtungsinstitut eigentlich zuleide getan? Oder was haben Sie
gegen es verbrochen? Nehmen Sie Vernunft an, Kollege, überzeugen Sie
sich doch: die harmlose Kugel macht durchaus keine Miene, uns auf den
Kopf zu fallen.“
„O mein Kopf! mein Kopf!“ stöhnte der Kreisrichter, den fraglichen
Körperteil mit beiden Händen haltend.
„Kommen Sie, Kollege, niemand jagt Sie, niemand treibt Sie. Welch
ein ganz verrückter Raptus! Nehmen Sie mir das nicht übel!“
„Niemand? Niemand?“ ächzte Löhnefinke.
„Niemand. Und wissen Sie, jetzt lassen Sie uns dort hinaufsteigen;
im Pavillon finden wir noch Menschen--Gesellschaft, irgendein
ermutigendes Getränke und unbedingt eine Petroleumampel, gegen welche
Ihr Feind oder Ihre Feindin sicherlich den kürzeren zieht.“
„Petroleum!“ murmelte Löhnefinke, das Wort fassend und festhaltend
wie ein Verbrecher auf dem Hochgericht den Ruf: Gnade!
„Horchen Sie nur, es ist sogar noch Musik im Pavillon. Was meinen
Sie, wenn wir uns daselbst bei einem Glase Grog noch eine Weile
niederließen und...“
„ ...den Untergang des Mondes abwarteten?! Jaja, das ist das rechte!“
„ Würde uns aber doch ein wenig lange da fesseln. Der Mond geht erst
nach dreiviertel auf sieben Uhr morgens unter; aber ein anderer Trost
steigt uns herauf. Sehen Sie, dort über der See erhebt sich dunkles
Gewölk; Kollege, warten wir ab, bis eine Wolke vor den Mond gezogen
ist.“
„Jaja, angenommen! Gern, nur zu gern eingeschlagen! Kollege, ich
stelle mich ganz und gar unter Ihre Vormundschaft. Treten wir ein in
die Bude, warten wir, bis eine Wolke vor das grinsende Scheusal
gezogen ist, und trinken wir Grog derweile!“ rief der aufgeregte
preußische Staatsbeamte, und so erkletterten wir die steile Treppe,
langten, ohne den Hals gebrochen zu haben, auf der Höhe an, wandten
uns rechts durch das Dünengras dem erleuchteten, von Musik
durchschmetterten und mit Badegästen dicht gefüllten Dünenpavillon
zu.
In dem Augenblick aber, als wir in die Tür des hölzernen Rundbaus
traten, schwieg plötzlich die Badeblechmusik. Die Musikanten packten
ihre Instrumente ein oder nahmen sie einfach unter den Arm. Sie
nahmen auch noch einen Gratisschnaps am Büffet und zogen ab, und der
größte Teil des Publikums folgte ihnen seltsamerweise auf dem Fuße,
ohne sich erst von dem Kunstgenuß erholt zu haben. Nur einige
Gruppen verständiger Männer hielten sich noch bei ihren Gläsern.
Über die Nordsee strich jetzt ein ziemlich lebendiger Wind. Die
Wellen rauschten lauter und bedeckten sich mit weißern und krausern
Schaumkronen. Das belebende und erwärmende Getränke, welches wir
bestellten, bevor wir uns niederließen, mußte unbedingt von dem
wohltätigsten Einfluß auf unsere seelische Stimmung und unser
körperliches Behagen sein.
Nun saßen wir, und während am nächsten Tische eine muntere
Gesellschaft lustig durcheinanderschwatzte, sah ich mir meinen neuen
Bekannten, und zwar durchaus nicht verstohlen, genauer bei
Lampenbeleuchtung an, und meine Verwunderung stieg unter dem
Scrutinio.
Der Kreisrichter Löhnefinke aus Groß-Fauhlenberge war ein Mann von
ungefähr fünfzig Jahren, korpulent, wie schon bemerkt, und sonst ohne
alle äußerlichen Absonderlichkeiten. Ein breites Kinn, ein
kurzgehaltenes, graugesprenkeltes Haupthaar, ein preußischer
Beamtenbart und zwei graue, kluge Augen, die jeden Gegenstand, auf
den sie sich hefteten, scharf festhielten, gaben mir sicherlich
keinen Anlaß, den Mann für einen Tollhauskandidaten zu erklären, und
doch--ich hielt es nicht aus! Meine Hand auf den Arm des Kollegen
legend und dicht an ihn heranrückend, sagte ich:
„Nehmen Sie es mir nicht übel, lieber Löhnefinke, aber in diesem
Moment glaube ich nicht mehr daran.“
„Woran nicht?“
„An Ihr Auftreten vorhin. An--na ja, an Ihre halsbrecherische
Flucht über die Düne, an jene Rutschpartie bei Wenningstedt, an:
kurz an Ihre Mondfeindschaft, Kollege.“
Sofort kam eine außerordentliche Veränderung über den ganzen, dicht
neben mir sitzenden Menschen. Er duckte sich wieder einmal, und wie
vorhin nach meinem Regenschirm griff er jetzt nach dem vor ihm
stehenden Glase, zog die darin befindliche heiße, dampfende Mischung
auf einen Zug in sich hinein und flüsterte durch die Zähne:
„Es ist aber doch so! Ich hasse den Mond; er ist mein Todfeind, und
ich ziehe den kürzern gegen ihn, wie er gegen die Lampe da über uns.“
Ich winkte der Kellnerin, welche meinen Wink verstand und dem Kollege
ein zweites dampfendes Glas vor die Nase setzte.
„Danke!“ sagte der Kreisrichter. Und auch Ihnen Dank; denn wäre ich
vorhin Ihnen und Ihrem Schirm nicht in die Arme gefallen, so weiß ich
wahrlich nicht, was auf diesem schattenlosen Strande aus mir geworden
wäre.“
„Kollege,“ sprach ich, „ich bin ein ruhiger Mann, amtiere seit langen
Jahren zur Zufriedenheit meiner Amtseingesessenen und meiner
vorgesetzten Behörden. Ich habe den Landesorden zu Hause im
Schubkasten und bin noch nie einem mir anvertrauten Geheimnis
gegenüber feloniter vorgegangen: würden Sie es sehr übelnehmen,
Kollege, wenn ich Sie aufforderte, mir mitzuteilen, wie Sie mit jenem
unschuldigen Trabanten unserer sündigen Erde in Konflikt geraten
sind?“
„Ich werde das durchaus nicht übelnehmen“, sagte der Kollege.
„Im Gegenteil, von Zeit zu Zeit fühle ich das intensivste Bedürfnis,
meinem Haß und Zorn und leider auch meiner grimmigsten Beklemmung und
Angst gegen eine fühlende Seele Luft zu machen. Lassen Sie sich
ebenfalls noch ein Glas Grog geben und hören Sie zu. Nachher mögen
Sie richten und werde ich mich auf Ihr Urteil verlassen, um so mehr,
als ich Sie bereits aus unserem amtlichen Schriftenwechsel als einen
tüchtigen Juristen kennengelernt habe.“
„Ungemein verbunden“, sprach ich, aufs äußerste gespannt, und sah
jetzt dem Kollegen in die Augen, wie ich vor fünfundzwanzig Jahren
meiner Braut nicht in die ihrigen gesehen hatte. Er schlürfte von
neuem vom dampfenden Getränk und begann und legte sein Bekenntnis ab.
„Zuerst,“ sagte er, „muß ich Ihnen bemerken, daß mein Arzt mich
hierher ins Seebad geschickt hat auf den Antrieb meiner Frau gerade
dieses meines Zustandes wegen, wie sie sagt,--meiner Nerven wegen,
wie er sagt. Jahrelang hat der Mann, der mich von Jugend auf kennt,
der mit mir aufgewachsen ist, über diesen Zustand gelacht; erst
durch die Insinuationen meiner Gattin ist ihm die Sache bedenklich
geworden. Auf einmal hat er gefunden, daß es jetzt die höchste Zeit
sei, etwas gegen die bedauerlichen Zustände zu tun, und hier bin ich
und gehe pflichtgemäß täglich ins Wasser, wie Sie heute abend
erfahren haben, bis jetzt ohne den geringsten Erfolg. Zur Sache!
Mit einem Wort, ich büße für meine Jugendsünden.“
„Aha!“ murmelte ich, doch der Kollege schüttelte, meine Meinung
sofort erkennend, nachdrucksvoll den Kopf und seufzte:
„O nein, nein! Ach, wie glücklich würde ich mich schätzen, wenn es
d a s wäre! Das ist ja gerade mein Elend, daß ganz das Gegenteil
dessen, was Sie im Sinne haben, den Grund meiner Verstörung bildet.
Ich versichere Sie, weder der Wein noch die Weiber haben es mir in
meinen Jünglingstagen angetan. Ich bin nur zu solide gewesen und
bereue es heute in Kummer, Schmerz und im Sylter Badekostüm. O hätte
ich mich doch ausgetobt in den Tagen meiner Jugend! Hätte ich doch
meiner Phantasie die Zügel auf den Hals geworfen und die Gefahr,
abgeworfen zu werden und das Genick zu brechen, zur rechten Zeit auf
mich genommen! Kollega, Kollega, unterdrückte Poesie ist es, welche
mich verrückt macht – verrückt weit nach dem vierzigsten Lebensjahre.
Der deutsche Mondschein rächt sich an mir, und ich bezweifle, daß mir
irgendein Bad, Sauer oder Bitterwasser helfen werde.“
„Der deutsche Mondenschein?“
„Freilich und sechsmal ja! Der Mond grinst mich aus meinem Verstande
heraus, mich den königlich preußischen Kreisrichter Friedrich Wilhelm
Löhnefinke zu Groß-Fauhlenberge, und nicht nur für eigene
Verschuldung büße ich, nein, ich habe auch noch dazu die Schulden
ungezählter Generationen meiner Vorfahren an das glänzende Ungeheuer
abzutragen. O Kollega, ich fühle mich stellenweise sehr
unglücklich!“
„Kollege, Sie sind jedenfalls ein sehr interessanter Mensch. Mit
aufgespanntesten Seelenkräften bitte ich um eine genauere Erklärung.“
„Welche ich Ihnen geben werde. Mein Vater war königlicher Beamter,
mein Großvater gleichfalls, und es wäre lächerlich von mir, wenn ich
daran zweifeln wollte, daß auch mein Urgroßvater königlicher Beamter
gewesen sei, selbstverständlich Provinzialbeamter wie wir alle.
Meine Mutter war ein deutsches Weib, ebenso meine Großmutter und
natürlich meine Urgroßmutter nicht weniger. Auch sie stammten
sämtlich aus königlichen Provinzialbeamtenfamilien ab. Von Poesie
wußten sie nichts, und auf den Mond achteten sie nur insofern, als er
so gefällig war, sie zu benachrichtigen, wann es Zeit sei, die Haare
zu verschneiden oder zur Ader zu lassen. O, sie überließen es
einfach mir, für die Vernachlässigung zu büßen! Meine Mutter las
Clauren, meine Großmutter Bibel und Gesangbuch, meine Urgroßmutter
konnte wahrscheinlich gar nicht lesen. Meine Vorväter lasen und
schrieben ihre Akten, lasen das Amtsblatt und vielleicht auch die
Zeitung, und ich war bis in die jüngste Zeit ihr würdiger Nachkomme.
Da kam das Jahr achtundvierzig, und der Mond ging mir auf.“
„Aha!“ rief ich wiederum; aber der Kollege Kreisrichter schüttelte
abermals das Haupt und sagte:
„O nein, nein und zwölfmal nein! Sie irren sich jetzt nicht weniger
als vorhin. Sie wissen was wir unter dem Worte ‚altliberal‘
verstehen?“
Ich nickte mit der Energie einer chinesischen Pagode.
„Sie werden mir also zugestehen, daß man als Altliberaler noch weit
davon entfernt ist, den Mond zu hassen und vor dem Monde Reißaus zu
nehmen?“
Es wäre töricht von mir gewesen, dieses Zugeständnis nicht zu machen,
und ich machte es, tat aber dabei die Gegenfrage:
„Wie alt waren Sie im März von Achtundvierzig?“
„Ich hatte eben das Alter eines preußischen Auskultators erreicht.“
„Bravo! Erzählen Sie ruhig weiter.“
„Im März kam er also über die Dächer und schien in meine Stube zu
Berlin, und ich rieb mir die Augen, wie gesagt, ohne ihnen zu trauen.
Noch hatte ich nicht die geringste Ahnung von der Gefährlichkeit des
Burschen, aber im folgenden Jahre neunundvierzig bekam ich mehr als
eine Ahnung davon. Mit heißem Kopfe aus einer erregten
Volksversammlung heimkehrend, schlief ich mit eben diesem Kopfe in
der Fensterbank liegend ein, und das hämische Gestirn schien mir
während mehrerer Stunden darauf.“
„Und?“
„Und am folgenden Morgen hatte ich nicht nur Kopfweh, sondern auch
einen ausgesprochenen Ekel an manchen Dingen und Menschen, die mir
sonst sehr hoch in Empfindung, Gefühl und Achtung gestanden hatten.
Die Poesie brach durch--und--Kollege, wissen Sie was das bedeutet,
wenn die Poesie des Lebens bei einem königlich preußischen
Auskultator zum Durchbruch gelangt?“
„Gottlob nein; erinnern Sie sich nur, daß wir über unsere respektiven
Landesgrenzen miteinander korrespondiert haben.“
„Das ist wahr; aber ich wußte es auch nicht, doch heute kann ich
darüber reden. Sie haben die ganze Nacht ruhig und solide von den
Pandekten und dem Landrecht geträumt, und Sie erwachen und suchen
sich den Inhalt Ihrer Träume wieder zu vergegenwärtigen. Es gelingt
Ihnen nur zu gut, und der Jammer beginnt. Sie sehen von Ihrem
Kopfkissen aus nach Ihrer Bibliothek hinüber, und plötzlich ergreift
Sie eine kaum zu bezwingende Lust aufzuspringen, den ganzen Trödel in
die Arme zu fassen---und--und--und--Dinge--unsagbare Dinge damit
vorzunehmen. Sie bezähmen sich aber, denn es fällt Ihnen ein wieviel
Geld Sie in den Wust gesteckt haben, und Sie bezähmen sich auch zum
Glück für Ihre weitere Karriere und gehen an die Bereitung Ihres
Kaffees. Dabei ergreift Sie dann die Vorstellung, daß Sie noch immer
ohne die entsprechende Vergütung dem Staate zur Verfügung stehen, mit
erschütternder Gewalt; und darüber wieder kocht Ihnen nicht nur die
Galle, sondern auch Ihr Gebräu über, und Sie fressen die eine in
sich hinein und schütten das andere nicht in die Dachrinne, sondern
ebenfalls in sich hinein. Sie haben Illusionen verloren und Sie
machen sich neue: sehen Sie, da haben Sie eine der ersten Wirkungen
unseres Feindes, des Mondes! Ja, Sie machen sich sonderbare
Illusionen, und was das sonderbarste ist, Sie verdenken es sich
selber gar nicht. Nachher gehen Sie zum Büro, begegnen unterwegs
Ihrem Vorgesetzten, grüßen ihn höflichst, und jetzt, mit einem Male,
fällt Ihnen ein anderes Träumen ein! Sie erinnern sich dessen, was
Sie träumten, als Sie mit dem Kopfe im offenen Fenster lagen und der
Mond Ihnen auf den Kopf schien. Sie stehen und sehen dem Präsidenten
nach; und nun, und einzig und allein durch des deutschen Mondes
Schuld, fällt Ihnen bei, daß Sie für Ihre Person doch mehr gelesen
haben als Ihre Vorfahren: nicht die Zeitung, sondern Zeitungen,
außerdem Schiller und Goethe, Voltaire und Rousseau, Börne und Stahl,
Ranke und Raumer und ein inkommensurables Gemisch neuester Poeten
höchst liberaler Art. Sie erinnern sich an manches, was Sie auf
Universitäten beim Kommersch sangen, und der sanfte, liebliche Mond,
der vielleicht gerade als zarte Sichel über Ihnen im Hellblau des
Morgenhimmels steht, verzieht den Mund höhnisch und wächst, wächst,
wächst von neuem zu Vollmond an, während Sie Tag für Tag, Woche für
Woche Ihren Amstgeschäften nachgehen. Sie fühlen sich grenzenlos
unbehaglich, Sie kommen sich unsagbar dumm, albern und abgeschmackt
vor und protokollieren auch dumm, wofür Sie eine ganz gehörige Nase
besehen. Mit der letztern gehen Sie nach Hause und besehen zufällig
Ihren abnehmenden Haarwuchs im Spiegel, und wenn Sie dabei in Ihrem
Bart ein weißes Haar entdecken sollten, so kommt auch das Ihrem guten
Freunde, dem Monde, ganz gelegen; denn er ist imstande, Sie daran
fester zu fassen und leichter seine Wege zu führen als an irgend
etwas anderem. Das nächste Mal, wenn Sie wieder einsam in der Nacht
am Fenster sitzen, nimmt er Sie bei diesem Haar: Sie sehnen sich
nach einem Busen, einem zarten, gefühlvollen, weichen Busen, in den
Sie alle Ihre Wehmut ausschütten können, dem Sie Ihren Gram sagen,
dem Sie Verdruß und Ärgernis mitteilen können. Sie träumen wachend,
und der Mond hohnlacht ärger denn zuvor...“
„Halten Sie einmal, Löhnefinke!“ rief ich, beide Hände auf die Stirn
drückend. „Muß denn immer erst ein anderer kommen und einem seine
eigensten vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustände klar
und objektiv hinstellen? Kollega, Sie haben vollständig recht;
nervös, wie Sie selber, folge ich Ihrer Auseinandersetzung! Fahren
Sie fort,--wahrhaftig, der Mond ist ein Ungeheuer!“
„Er ist es, der Mond, und vor allem dieser deutsche Mond! Da kommt
er abermals über das Dach, und Sie legen den Kopf auf die Schulter
und blinzeln ihm blöde und verlegen in die breite Fratze. Und
plötzlich schwankt hohes Weizenährenfeld vor Ihren Blicken, die
Nachtigall oder sonst ein Vogel piept im Gebüsch, es blitzt der
Teich, der Bach murmelt, und Sie, Kollega, fangen gleichfalls an zu
murmeln. Was murmeln Sie? Natürlich irgendeinen wohlklingenden
Taufnamen, auf E oder A auslaufend,--Klothilde, Josephine, Maria,
Amalia--was weiß ich?! Einerlei! Es ist entschieden--er hat Sie;
er hat Sie mit allem, was an Ihnen ist, dieser heimtückische,
hinterlistige Schleicher, der Mond, der deutsche Mooond! Sie fühlen
sich in der Stimmung, ihn Ihren Freund zu nennen, die Arme nach ihm
auszustrecken, eine Träne ihm hinzuweinen, und Sie sind ohne allen
weitern Zweifel grenzenlos blamiert.“
„Ja!“ sagte ich und nichts weiter. Der Kollege aber schwieg in
melancholischem Tiefsinn eine geraume Weile, bis er von neuem auf
und fortfuhr.
„Ich war Landbote, als während des Militärkonflikts Seine Majestät
unserem Ministerpräsidenten den berühmten, symbolischen Stock
schenkte; ich stimmte selbstverständlich mit der Majorität und jetzt
--jetzt im Jahre siebenundsechzig--habe ich ein Sonett--bedenken
Sie, ein Sonett!--ein Lobsonett auf den allverehrten Herrn
Ministerpräsidenten gemacht und dasselbige im Inseratenteil der
Nationalzeitung abdrucken lassen. Verstehen Sie mich und meine
Stellung zu dem Monde, dem deutschen Monde?“
„Vollkommen!“ sagte ich nach einigem Nachdenken.
„Dann kann ich mich kurz fassen und werde es tun. Man kennt--und
der Mond weiß es--einen passabel wohlklingenden, auf E oder A
auslaufenden Namen und die Trägerin natürlich dazu; oder man sucht
sofort nach einem solchen Namen und seiner Trägerin, und daß der Mond
bereitwilligst hilft, ihn und sie zu finden, versteht sich von
selber. Kein Kuppler bietet in derartigen Fällen eilfertiger und
geschickter seine Hand. O, er leuchtet uns auf den lyrischen
Dichter, mit welchem wir uns plötzlich mehr als wahlverwandt fühlen.
O, er scheint uns auf das Blatt, auf welchem wir selber der Muse die
Cour machen. O, er greint auf uns herab, wenn wir am Ausgange des
Ball, Konzert oder Theatersaales auf sie warten. O, o, o, er
geleitet uns später auch nach Hause, wenn die Alte nichts dagegen
einzuwenden hatte, daß wir sie dahin bringen. O, o, o, o, wer
versteht es besser als er, dem Esel, dem Menschen, heimzuleuchten?
Gleichgültig ist es, aber doch eine wohl aufzuwerfende Frage, ob auch er
die Schuld davon trage, wenn der Alte eines schönen Morgens ‚Ja!‘
sagt. Sind Sie auch verheiratet, Kollege?“
Die Frage drang so abrupt auf mich ein, daß sie mich fast vom Stuhle
warf und ich mich wahrhaftig erst einen Moment durch sammeln mußte,
ehe ich sie bejahend beantworten konnte.
„Wohl! Dann wollen wir über dieses Thema kein Wort weiter verlieren.
Ist er auch an der Alliteration schuld? Sehen Sie, da ist er und
guckt ins Fenster--die Wolken, auf welche Sie mich vorhin
vertrösteten, haben auch nichts gegen ihn vermocht. Die Wiesen
liegen im weißesten Lichte--o wie schön, wie wunderbar! Lieber
Kollege, wie reizend ist doch die Welt--wie großartig in Krieg und
Frieden! Poesie trieft von oben herab und sprießt von unter herauf!
Horchen Sie--hören Sie die Musik des ewigen Meeres! Die Wogen
tanzen den unsterblichen Tanz im deutschen Mondschein, weshalb
sollten wir nicht mittanzen? Meine Seele ist im harmonischen Fließen
der Welt ein Tropfen. Kollege, lassen Sie uns hinaustreten in die
holde Natur; es ist ein Sünde, in diesem dumpfen Gemache zu sitzen,
während Erde und Wasser da draußen vor dem Pavillon im deutschen
Mondschein so außerordentlich schön daliegen; kommen Sie, trinken
Sie aus, lassen Sie...“
„Sie fürchten nicht mehr...?“
„Was sollte ich fürchten? Liebster, guter Freund, das ist es ja
eben! Er siegt uns allen ob, und in seinem Lichte gewinnen wir alle
unsere Siege.“
„Auch die Schlacht bei Königgrätz?“
„Auch diese, was man auch dagegen einzuwenden haben mag. Und
künftige große und merkwürdige Siegesschlachten ebenfalls! Ach,
welche Luft, welches Licht! Bitte, lassen Sie uns noch einmal die
Düne besteigen, noch einen Blick auf das heilige Meer zu werfen.“
„Und nachher, mitten im Mondschein stehend, werden Sie mir weiter von
Ihrer Lebensentwicklung sprechen?“
„Gern, mit Vergnügen, sofort, obgleich es meiner Meinung nach doch
eigentlich gar nicht mehr nötig ist. Sehen Sie, Bester, das Faktum
steht ebenso fürchterlich wie behaglich fest--der Mond übermannt
dann und wann den königlich preußischen Justizbeamten Löhnefinke, und
letzterer hat zu guter Letzt selber nicht die geringsten Einwendungen
gegen den ihm aufgedrängten Rausch und Taumel zu erheben. Ja, ich
habe im deutschen Mondschein auch ein deutsches Mädchen gefunden,
mich mit Einwilligung der Eltern desselben demselben verlobt und es
später geheiratet. Heute noch befinde ich mich mit Zugabe einer
achtzehnjährigen Tochter im unangefochtenen Besitz, und vielleicht
kann ich nachher beide Damen Ihnen vorstellen.“
„Also--also Sie laufen wirklich nicht allein--nicht sich selber
überlassen hier auf Sylt herum?“
„Keineswegs. Ich wohne mit Weib und Kind dort in Westerland und bin
unter ihrer Aufsicht hierher ins Bad gekommen. Was denken Sie auch?“
„Entschuldigen Sie meine törichte Frage, Kollege. Dieses ist ein so
wunderbarer Abend, ein so erfreuliches Zusammentreffen, und eine so
überinteressante Unterhaltung, daß da alles zu entschuldigen ist.“
„Beruhigen Sie sich nur; wir verstehen uns vollkommen. Auch habe ich
Sie schon tagelang, unbemerkt von Ihnen, ins Auge gefaßt; als Mensch
fielen Sie mir auf, und den Juristen erkannte ich sofort in Ihnen,
und das Schicksal ließ mich vorhin nicht ohne Absicht und vollgütige
Berechtigung Ihnen in die Arme rutschen. Wir mußten uns heute abend
gegeneinander aussprechen; es gehört mit zur Kur und ist auch zum
großen Teil eine Wirkung des Salzwassers. Aber der Mond – ich muß
Sie immer von neuem auf diesen herrlichen Mond aufmerksam machen!
Ja, ich bin in seinen Banden und werde darin bleiben müssen, bis der
Tod mich erlöst. Kollege, durch ihn und mit Beihilfe der
gegenwärtigen Zeit und der Weltlage bin ich--der Poet in meiner
Familie geworden. Fassen Sie das ganz und begreifen Sie mich ganz,
sowohl in meiner Stimmung bei unserem Begegnen am Strande wie in
meinem augenblicklichen Geisteszustand.“
Löhnefinke der Poet in seiner Familie! Ich trat mehrere Schritte
zurück. Obgleich der tolle Mensch klar wie die Insel Sylt im
deutschen Mondenschein vor mir lag, frappierte mich das Wort doch.
Es war wie der Kanonenknall, der einen auch frappiert, trotzdem daß
man mit dem Lorgnette vor den Augen beobachtete, wie der Kanonier die
Lunte anblies.
„Ich, der Erbe so unendlicher Prosa“, fuhr der Kollege fort, „ich bin
besiegt von meinem Feinde und ihm jedesmal, wenn er über den Horizont
guckt, verfallen trotz allem Gesperr und Gezappel. Ich bin Idealist
in der Politik, Dichter in der Führung meines Haushalts. Ich sehe
die Zeit kommen, wo ich mein Abrechnungsbuch in Hexametern und Ottave
Rime führen werde. Ich schwärme für Gemüt und Gemütlichkeit in den
Vorgängen der Stunde, und--Kollege, Kollege!--ich werde von meinen
Weibern--meinen Damen nicht verstanden, nicht begriffen. Das ist
es, was meine Nerven zerrüttet und mich unter ihrer, meiner Damen,
Führung hieher nach Westerland gebracht hat, und jetzt lassen Sie uns
gefälligst nach Hause gehen, es wird allmählich sehr kühl.“
Er hatte mich untergefaßt--zärtlichst; und wir wandelten Arm in Arm
über die mondbeglänzte Heide von Sylt. Nimmer war ich in meinem
Leben mit einem so poetischen preußischen Kreisrichter Hüfte an Hüfte
geschritten. Er, dieser exaltierte Kollege, deklamierte laut, immer
lauter. Er zeigte eine wahrhaft staunenerregende Belesenheit in
deutscher und fremder Lyrik. Gedichte an den Mond wechselten mit
Hymnen auf die Freiheit und Schlachtliedern gegen alle möglichen und
unmöglichen Feinde. Tropische Landschafts-- und Stimmungsbilder
wechselten mit abgerissenen Strophen aus bekannten und unbekannten
Romanzen und Balladen jeglichen historischen und unhistorischen
Inhalts. Löhnefinke war göttlich, und sein Feind, der Mond, konnte
wirklich seine Freude an ihm haben; aber mehr als einem seiner und
meiner Vorgesetzten würde er in diesem Zustande nicht nur moralische,
sondern auch physische Übelkeit erregt haben. In der Ferne nordwärts
blinzelte das wechselnde Licht des Leuchtturms von Kampen wie das
Auge eines Spötters, der seine Umgebung auf irgend etwas
außergewöhnlich Drolliges aufmerksam macht. Die Schafe auf der
Heide, über deren Tüder, das heißt Haltestricke, wir stolperten,
standen auf, sahen uns verwundert an und staunend nach.
So kamen wir dem Dorfe Westerland immer näher, jedoch bevor wir es
erreichten, wurden wir angerufen und, der äußern Erscheinung und dem
Tone nach, auf die allerlieblichste Weise aus dem Traum, Nacht und
Mondscheinwandeln in die Wirklichkeit zurückgerissen. Vom Dache
konnten wir glücklicherweise beide nicht fallen.
Wie aus den Strahlen des Mondes gebildet, stand auf einer
Bodenanschwellung der Heide eine ungemein zierliche, graziöse
Mädchengestalt vor uns, und ein ganz reizendes Mädchengesichtchen
neigte sich im Mondenscheine wahrhaftig märchenhaft hübsch uns
entgegen. Daß der Kreisrichter Löhnefinke aus Groß-Fauhlenberge ein
reizendes Gesichtchen aufzuweisen gehabt habe, kann ich nicht sagen,
aber er besaß eine biedere, gewissermaßen auch joviale Visage, und
der Enthusiasmus der letzten Stunden hatte dieselbige sogar noch sehr
verschönert: um so heftiger mußte ich mich jetzo über den Ausdruck
verwundern, mit welchem er sein süßes Töchterchen ansah. Statt noch
heiterer und noch glücklicher zu werden, fielen plötzlich seine
sämtlichen Züge schlaff auseinander, um sich sofort zu einem Gewirr
verdrießlicher Falten zusammenzuziehen.
„Da bist du endlich, Papa? Na, das muß ich sagen!“ rief die
elfenhafte Huldin uns entgegentretend.
„Ja, da bin ich endlich“, brummte der Kollege, „und hier...“
Er vollendete nicht; denn die junge Dame schnitt ihm kurz das Wort
ab:
„Wir haben lange auf dich gewartet, Papa, und die Mama ist sehr
böse auf dich!“
„So? hm!“ brummte der Kollege, und „hm!“ sagte auch ich in der Tiefe
meiner Seele.
„Komm her, Helene, wir wollen zusammen heimgehen“, sprach der Vater
des schönen Kindes begütigend; allein die Elfe im Mondschein
entgegnete noch kürzer:
„Ich danke, Papa; ich werde mit der Mama gehen. Da kommt sie schon
und wird dir sagen, wie sie auf dich gewartet hat. Mama, hier ist
der Papa endlich!“
Ei freilich, er war in der Tat hier, der Vater Löhnefinke, und er
zitierte in diesem Augenblick keine deutschen Dichter und keine
auswärtigen mehr. Aber ebenfalls durch den deutschen Mondschein kam
die Mama heran, und zwar ziemlich rasch und energisch. Ich hätte mit
Vergnügen Abschied genommen und mich empfohlen, ehe sie uns
erreichte; doch der Kollege hielt meinen Arm mit einem wahren
Landdragonergriff fest und flüsterte:
„O, ich muß Sie vorstellen, Freund. Wo wollen Sie hin? O
Kollege,erlauben Sie, daß ich Sie meiner Gattin vorstelle!“
Was konnte ich anders ausdrücken als die größte Sehnsucht, auch die
Kollegin kennenzulernen?
Zwischen den ersten Häusern der Ortschaft Westerland vorschreitend,
hatte die Würdige uns jetzt erreicht und den Arm ihrer Tochter
genommen. Mich übersah sie zu Anfang natürlich vollständig und
widmete sich einzig und allein den Angelegenheiten der Familie:
„Also endlich, Löhnefinke?! Deine alte, gewohnte
Rücksichtslosigkeit! Aber ich sage dir, Löhnefinke...“
„Aber liebe Johanna, so sieh doch! Erlaube mir, dir hier meinen
Freund und Korrespondenten...“
So wird man nicht selten als spanische Wand zwischen den Zugwind und
den Lehnstuhl des Rheumatismuskranken geschoben! Die Vorstellung
fand statt, und ich fügte mich mit der mir angebornen Bonhomie in die
mir zugeteilte Rolle. Nach etlichem höflichen Wortaustausch
schritten wir vier nun doch miteinander den biedern, niedern,
friedlichen, friesischen Hütten zu, und wenn mir bis jetzt in den
Seelenzuständen meines Kollegen ein letzter Punkt dunkel geblieben
war, so wurde derselbe mir nun auf diesem kurzen Wege vollkommen
klar.
O, wie der Mond, der deutsche Mond auf die beiden Frauen und den
königlich preußischen Kreisrichter herunterlachte! O, er weiß sich
zu rächen, der deutsche Mond! Er hat seine Mittel, er kennt seine
Mittel, und er weiß seine Mittel zu gebrauchen! Mein Freund
Löhnefinke hat vollständig recht: es ist ein Elend, die Erbschaft von
Generationen, von Jahrhunderten antreten zu müssen, ohne vorher von
der Rechtswohltat des beneficii inventarii Gebrauch machen zu dürfen.
Es ist ein Jammer, jenen bleichen, ab- und zunehmenden Gesellen erst
nicht zu beachten, dann zu verachten und endlich seinem Einflusse ohne
erklecklichen Widerstand hingegeben zu werden und sich hinzugeben!
Man muß eben ein Mann--ein deutscher Mann und Beamter sein, um das
Entsetzliche im ganzen und vollen an sich zu erleben. Frau Johanne
und Fräulein Helene Löhnefinke, ohne je die Ansprüche des Mondes an
den Menschen berücksichtigt zu haben, hatten sich ganz auf die Seite
des Mondes gestellt und rächten ebenfalls ihn an seinem Verächter.
Es war nicht abzusehen, wieweit sie den Gatten und Vater noch
hinunterbringen konnten,--tief genug hinunter hatten sie ihn bereits
gebracht.
Als ich spät am Abend wieder bei meinem Bäcker saß, rauchte ich ein
halb Dutzend Pfeifen über den Erlebnissen und Erfahrungen des Tages
und kam gegen Mitternacht zu dem Entschluß, meinem augenblicklich in
Göttingen Mathematik studierenden Jungen ein Exemplar von Jean Paul
Friedrich Richters sämtlichen Werken zu seinem nächsten Geburststage
zu schenken.
End of the Project Gutenberg EBook of Deutscher Mondschein, by Wilhelm Raabe
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Deutscher Mondschein
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The Project Gutenberg EBook of Deutscher Mondschein, by Wilhelm Raabe
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— End of Deutscher Mondschein —
Book Information
- Title
- Deutscher Mondschein
- Author(s)
- Raabe, Wilhelm
- Language
- German
- Type
- Text
- Release Date
- April 16, 2010
- Word Count
- 9,790 words
- Library of Congress Classification
- PT
- Bookshelves
- DE Prosa, Browsing: Literature, Browsing: Fiction
- Rights
- Public domain in the USA.
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