*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75008 ***
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter
Text ist ~so ausgezeichnet~. Im Original in Antiqua gesetzter
Text ist =so markiert=.
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
Der Übersichtlichkeit halber wurde die Buchwerbung am Ende
des Buches zusammengefasst.
Aus Mitleid
Die gekaufte Stimme — Des Kaisers Fünf usw.
[Illustration]
Neue Novellen und Skizzen
von
Alexander Baron von Roberts
[Illustration]
Aus Mitleid
Die gekaufte Stimme — Des Kaisers Fünf usw.
[Illustration]
Neue Novellen und Skizzen
von
Alexander Baron von Roberts
[Illustration]
Berlin
Verlag des Vereins der Bücherfreunde
1891
Frau
Chlotilde von Schwartzkoppen
in aufrichtiger und herzlicher Verehrung
zugeeignet
vom
=Verfasser=
Alexander Baron v. Roberts.
Der Autor des vorliegenden Buches ist einer der berühmtesten modernen
deutschen Dichter. Das beweist aber nicht viel. Wir haben momentan
in der Litteratur viele Berühmtheiten, um die sich kein Mensch
kümmert, und zwar mit Recht. Wir haben sogar einige berühmte und große
Schriftsteller, denen das Publikum die gebührende Aufmerksamkeit leider
nicht entgegenbringt. In diesem Satze liegt ein Widerspruch und doch
eine traurige Wahrheit. Die alles öffentliche Interesse aufsaugende
Politik, die von Jahr zu Jahr schwerer werdenden Daseinsbedingungen,
und — das schöne gute Bier leiden es nicht, daß man die Werke
bedeutender Autoren kauft und liest oder — lassen wir das Kaufen weg,
ich spreche da im Sinne der Majorität — nur liest. Ja, wenn unsere
Größen alle neue Theaterstücke schrieben, das wäre was anderes! Da
brauchten sie sich nicht einmal allzusehr anzustrengen, flache und
witzelnde Arbeiten thäten auch ihren Dienst. Alle Zeitungen schreiben
darüber ausführlich, und das gesamte Publikum sieht sich die Stücke
an. Der Autor eines aufgeführten, selbst schlechten Stückes erregt
heutzutage in weit höherem Grade die Beachtung der Öffentlichkeit als
der Dichter eines genialen Epos oder eines ausgezeichneten Romans.
Unter solchen Mißständen haben künstlerische Kräfte wie z. B. Alexander
Baron von Roberts schwer zu leiden. Er hat große Erfolge geerntet,
sonst wäre er nicht berühmt geworden, und doch ist es nur in der
deutschen Nation möglich, daß ein Autor eher berühmt als allgemein
gekannt wird. Und so kann sich auch Alexander Baron von Roberts
beklagen, daß sein Name eine Berühmtheit erlangt hat, während seine
Werke wohl das feinste, aber kein allzugroßes Publikum gefunden haben.
Aber ein Autor, der die Anwartschaft hat, auch von den nächsten
Generationen gelesen zu werden, kann ruhig die Stunde erwarten, wo
ihm das Volk jene Stelle in der Litteratur zuweist, die ihm die
Litteraturkundigen bereits längst zuerkannt haben.
Roberts ist kein gewöhnlicher Unterhaltungsschriftsteller, dem es nur
darum zu thun ist, den Leser zu spannen und ihn über ein Stündchen
hinwegzutäuschen. Er hat uns stets etwas zu ~sagen~, er fällt stets
Verdikte in künstlerischer Form, ein hochstehender Seelenarzt fühlt er
seiner Zeit den Puls und bringt das Ringen und Gären der Gegenwart zu
Protokoll. Sein Schaffen gleicht keiner farbigen Luftspiegelung, keiner
gleißenden Fata Morgana, er ist kein Träumer, der, verzückte Seufzer
ausstoßend, nach der blauen Blume sucht und über den ersten Wegstein
stolpert, nein, er ist der Mann der Wirklichkeit, ein Künstler, der die
Materie des Lebens zu wundersamen Gebilden modelt und ihnen mit dem
blendenden Glanze seiner Weltanschauung ein höheres Leben verleiht.
Die Vorzüge besonders französischer Schriftsteller, welche sich viele
deutsche Dichter in sklavischer Nachahmung zu eigen machen suchen,
haben sich von Natur aus mit seinem deutschen Wesen amalgamiert: er
ist Luxemburger, das moussierende Element des Rheinländers hat sich
in ihm mit französischem Chic, mit Pariser pikanter Grazie vereinigt.
Aber das ist es nicht allein, was Alexander von Roberts zu einer so
interessanten Erscheinung stempelt. Sein Wesen besteht eigentlich aus
einer Reihe einander sich widersprechender Eigenschaften, die in ihrer
Gesamtheit den reizvollen Anschein spröder Koketterie, ironischen
Tiefsinns und nervös zuckenden Wahrheitsdranges haben. Er ist auf der
einen Seite von entzückender Einfachheit, Schalkheit und Gemütlichkeit.
Man lese nur seine kleinen Skizzen, z. B. »Aus der Chronik unseres
Glückes« und »Es«. Wie anschaulich, wie echt deutsch schildert er
das Leid und Glück der Ehe, die Zärtlichkeiten und Zerwürfnisse
der Liebe. Er entfaltet sich da als ein Meister der Kleinkunst der
Alltäglichkeit. Und neben dieser sympathischen Seite seines Naturells
findet man bei ihm, dem Menschenkenner =par excellence=, eine besondere
Vorliebe, Tiere und unbelebte Wesen in den Vordergrund der Handlung
zu stellen. Der Schreiber dieser Zeilen hat ihn deshalb bei anderer
Gelegenheit den »Andersen der Wirklichkeit« genannt und dargethan,
welch Unterschied trotzdem zwischen dem romantischen Märchenerzähler
und dem realistischen Romancier besteht. Diese Vorliebe giebt Roberts’
Arbeiten oft etwas Fatalistisch-Satirisches, welches ihm gar nicht so
übel zu Gesichte steht. Den großartigsten und im direktesten Gegensatz
zu seinem gemütsvoll-familiären Zug stehenden Ausdruck findet diese
Vorliebe in »Lou«, einer der exotisch-bizarrsten Erzählungen der
modernen Litteratur. Ein Hund und ein Mohrenknabe sind die Helden
der Handlung. Aber welche kühne, weltweite Satire gehört dazu, das
berauschende, große, glänzende, lasterhafte Paris zum Hintergrunde der
Geschichte zweier höchst gleichgiltigen Geschöpfe zu machen und hinter
dem grinsenden Schädel eines Mohrenknaben alle Schönheit der Welt zu
entfalten und aus dem brausenden Gewühl einer Weltstadt das heisere
Gebell eines Köters heraushören zu lassen! Wahrhaftig, die hohnlachende
Genialität eines Hogarth könnte sich keinen besseren Stoff wählen. Ein
Seitenstück zu »Lou« ist die »Pensionärin«, aber stiller, sinniger sich
gebend. War es im »Lou« ein Hund, so ist es hier eine »Schildkröte«,
um die sich die Handlung der Geschichte gruppiert. Man darf die
Schöpferkraft unseres Autors nicht allein nach seinen kleinen Skizzen,
die ungefähr fünf Bände füllen, beurteilen. Aus seinen Novellen lernt
man ihn bald als gemütsvollen, bald als bizarren Dichter kennen und
lieben, der den unbeseelten Dingen eine poetische Seite abzugewinnen
weiß, der das Leben im kleinen mit großer Kunst schildert und besonders
aus seiner militärischen Wirksamkeit die schönsten, lustigsten und
ergreifendsten Stücklein zu erzählen versteht. Sein Talent entfaltet
aber seine Schwingen am mächtigsten, wenn es heißt, ein großes
Zeitgemälde zu entrollen und einer bedeutsamen sozialen Idee eine in
allen philosophischen und dichterischen Farben schillernde Fassung zu
geben. Seine Romane gehören zu den unbestrittensten Meisterwerken der
modernen deutschen Litteratur, und sein den höchsten Zielen zugewandtes
Streben überflügelt den weitaus größten Teil der deutschen Autoren,
welche ebenfalls auf dem Gebiete des Romans sich bethätigen.
Im engen Rahmen dieser Skizze ist es mir unmöglich,
auseinanderzusetzen, weshalb die Deutschen wohl Novellen besitzen,
die zu dem festen Bestande der Weltlitteratur zählen, aber in Bezug
auf Romane hinter anderen Völkern, z. B. den Engländern, Russen
und Franzosen, zurückgeblieben sind. Diese Thatsache ist weniger
auf den Mangel an dichterischen Kräften, als auf politische,
kulturelle und soziale Gründe zurückzuführen. Roberts’ blitzende
Beobachtungsgabe, sein plastisches Schilderungstalent, seine eminente
Welt- und Menschenkenntnis und vor allem die vollste Beherrschung der
Bedingungen und Gesetze, unter denen das komplizierte Gebäude eines
Romans errichtet werden kann, prädestinieren ihn geradezu, ~den~
modernen Roman zu schaffen, d. h. den Roman, welcher der Nachwelt als
getreuestes Spiegelbild unserer Zeit, unserer Sitten, Anschauungen,
Fehler und Vorzüge gelten soll. Man mag den Novellisten Roberts
liebenswert finden, als Romancier verdient er unsere Bewunderung. Jeder
seiner Romane steht unter dem Zeichen einer mächtigen Idee, und sein
Roman-Cyklus »Moderner Götzendienst« sucht wahrhaftig seinesgleichen.[A]
In der »Schönen Helena« führt er uns den unüberbrückbaren Gegensatz
des süd- und norddeutschen Wesens auf Grund eines tragischen
Einzelfalles vor. Eine Köchin und ein Sergeant sind die Volkstypen,
die er mit unwiderruflicher Echtheit und Unerbittlichkeit zeichnet;
und wohl keinem ist es gelungen, auf das öde Kasernenleben einen
solchen Lichtstrom von Poesie zu lenken, wie ihm. In seinem »Modernen
Götzendienst«, von dem mir einige Bände vorliegen, zeigt sich Roberts
als ernster, gewichtiger Sittenrichter. Wenn er uns in »Preisgekrönt«
den lähmenden, unterjochenden Bann physischer Schönheit schildert,
so ergreift er uns da nicht minder wie in dem prächtigen Buche: »Um
den Namen«. Die Titelsucht, die blinde, urteilslose Ehrfurcht der
Menschen vor veralteten Vorurteilen geißelt er bis aufs Blut; und wenn
er sich auch bisweilen zu Excentricitäten und Unwahrscheinlichkeiten
hinreißen läßt, so wollen wir ihm dies angesichts des Eifers, mit
dem er seine Aufgabe erfaßt, nicht besonders anrechnen. Für sein
bisher bedeutendstes Buch halte ich die »Revanche«. Hier feiert
die realistisch-lebendige Kunst des Autors ziel- und zweckbewußte,
wahre Triumphe. Der abenteuerlich sich äußernde, oft zu wahnsinniger
Wut gesteigerte Revanche-Gedanke der Franzosen erfüllt unheimlich,
beklemmend das ganze Buch. Nicht nur ein großer dichterischer, sondern
auch ein bleibender kultureller Wert wohnt ihm inne. Und wie in allen
seinen Dichtungen, so auch hier: keine träumerische Stimmung, kein
romantisches Helldunkel, auch kein sonnenloses, trübseliges =plein
air=, sondern vollste, grelle, greifbare, wie in elektrisches Licht
getauchte Wirklichkeit; wie in allen seinen Schöpfungen so auch hier
die plastische Gegenständlichkeit des Ausdruckes, die unmittelbare
Frische, die scharfe Leuchtkraft der Sprache.
Alexander von Roberts ist seit wenigen Jahren nach Berlin
übergesiedelt. Er befindet sich auf der Höhe seiner dichterischen
Schaffenslust. Die Eindrücke, mit denen Berlin auf jedermann einstürmt,
werden sich auch in ihm in reiche, dichterische Leistungen umsetzen.
Er zählt zu den wenigen festen Stützen der modernen deutschen
Litteratur, ihm ist es vom Schicksal vergönnt, belebend auf unser
Schrifttum einzuwirken. Seit jeher gehört es zu den Eigenschaften der
deutschen Kritik, gerade an unseren besten Dichtern herumzunörgeln
und herumzumäkeln; ich glaube, die wahre Kritik hat eine höhere und
bessere Aufgabe. Sie sei unerbittlich gegen die Dilettanten, aber die
beste, treueste Freundin bedeutender Autoren. Unermüdlich soll sie die
Aufmerksamkeit des Publikums auf diese hinlenken, unermüdlich für die
Verbreitung ihrer Schriften thätig sein. Und so gereichte es auch uns
zur freudigen Aufgabe, wieder einmal der Lesewelt das Wirken eines
unserer hervorragendsten Dichter näher geführt zu haben.
Ernst Wechsler.
[A] Eine Art Einleitung zu diesem Roman-Cyklus bildet eine
der wirkungsvollsten Novellen unseres Autors, die er »Satisfaktion«
betitelte. Den die Duellfrage behandelnden Stoff hat Roberts
dramatisiert, und sein dramatischer Erstlingsversuch ging vor
kurzem über die Bühne des Berliner »Lessing-Theaters«. Er erzielte
auf das Publikum einen bedeutenden, tiefgehenden Erfolg, und der
Übertritt Roberts von der Novelle und dem Roman zum Theater hätte
sich somit glücklich und vielversprechend vollzogen. Und doch kann
ich meinerseits ein leises Bedauern über diese Metamorphose nicht
unterdrücken. Als Novellist und Romancier ist Roberts unbestritten
eine Größe ersten Ranges. Ob er sich diese Bedeutung auch unter
den modernen Bühnenschriftstellern erringen wird? Wer weiß es! Ich
glaube, seine Begabung ist eine so ernste und mächtige, daß sie ihn
möglicherweise hindern wird, mit unseren heutigen Bühnen-Spaßmachern
und den Nachäffern Ibsens zu rivalisieren.
Aus Mitleid
[Illustration]
[Illustration]
Magnus Joël war noch rechtzeitig genug aufgesprungen, um sein
Gegenüber, das junge Mädchen, aufzufangen und vor dem Hinstürzen
zu bewahren. Eben hatten sich ihre Gläser über dem kleinen, doch
glänzend servierten und mit Blumen wie zu einem Feste geschmückten
Tisch hellklingend getroffen, und ihre bebenden Lippen, mehr noch die
Glut ihrer Augen, hatten das süße Geheimnis ihrer versteckten Liebe
gefeiert. Emmy nippte nur von dem goldigen, feinduftenden Inhalt des
olivengrünen Römers — »Mir wird so seltsam!« sagte sie, das Glas
hinsetzend. Eine plötzliche Blässe flog über das feine Oval ihres
Gesichtes, ihre auffällig schlanke Hand, an der ein paar wertlose,
altmodische Ringe glitzerten, tastete über Stirn und Augen, gegen die
Nacht der Ohnmacht ankämpfend, die sich über ihre Sinne legte.
Nach der ersten Bestürzung geleitete er die wankende Gestalt vorsichtig
nach dem Divan, der aus dem Bereich des magischgelben Scheines der tief
über dem Tisch herabhängenden Lampe im Dämmer des Hintergrundes stand,
von breiten Palmblättern wie zu einer Laube überschattet.
Wie ihr Kopf mit dem dunkelbraunen Wirrnis des üppigen Haares gegen
seine Schulter lehnte und die schwarzen Wimpern sich wie schwere
Schatten auf die Blässe der Wangen senkten, mochte man auch jetzt noch,
in diesem Zustand, das Hingeben sehnender Liebe verspüren; und wie er
sie umschlungen hielt, ihre Gestalt fast leidenschaftlich an seine
Seite pressend, sie mit seinen kräftigen Armen mehr trug als geleitete,
das war etwas anderes als Sorge und Erbarmen um den plötzlich
erkrankten Gast.
»Mir ist zum Sterben schlecht —« hauchte es über ihre blutlosen
Lippen, nachdem er sie behutsam auf den Teppich des Divans gestreckt.
Er eilte in das Schlafzimmer, um kaltes Wasser, Riechsalz, was er
fände, herbeizuschaffen. Sie begehrte nach Luft. Er stürzte auf das
Fenster hin, dessen schwere Plüschvorhänge vorhin so vorsichtig
gegen fremden Einblick geschlossen worden waren, und öffnete. Die
regenfeuchte Luft des Aprilabends wehte kühl herein, und wie entweihend
brach das Geräusch der Straße in die diskrete Stille des Salons.
Das Chambregarnie, das der junge Magnus Joël, zweiter Sohn aus der
bekannten Großfirma Hildebrand Joël, Seiden- und Spitzenwaren, inne
hatte, lag in dem lebhafteren Teil der Charlottenstraße, der Nähe des
väterlichen Geschäftes wegen, das in der Leipzigerstraße mit seiner
glänzenden Schaufensterfront paradierte.
Nah und fern rasselte und klingelte die Pferdebahn, Droschken holperten
über das Pflaster, Tritte wie Unterhaltung der Passanten hallten vom
Trottoir herauf, stoßweise kam die accentuierte Musik einer nahen
Festlichkeit hergehuscht. Es war mehr die Wirkung dieses vieltönigen
Lärms als der frischen Luft, welche die Kranke aufleben hieß. Hier ist
nicht der Ort, um krank zu werden, für sie!
Wie neidisch das Schicksal! Kaum, daß die Liebenden ihm die paar
Stunden eines ersten, ungestörten Beisammenseins mit Notlügen und
Ausflüchten abgestohlen, da fährt es in all die Seligkeit mit dem
schwarzen Gespenst einer Ohnmacht herein!
Magnus kauerte zur Seite des Divans in einer Romeostellung, die seinem
starken Körperbau und der etwas ungelenken Art seiner Bewegungen
weniger entsprach; mit seinen breiten Händen hielt er je eines ihrer
Händchen umfaßt, die darin völlig verschwanden. Er trug den Namen
Magnus zu Recht, obgleich der Vater ihm denselben bei der Taufe
nicht in Erwartung zukünftiger Körpergröße zugelegt, sondern aus
Geschäftsgründen, denn das wenig klangvolle Joël bedurfte einer
tönenden Verbesserung; der älteste hieß Gisbert. Der Ausdruck seines
Gesichtes deutete nicht auf den angehenden Berliner Großkaufmann, es
schien nach einer idealeren Seite ausgeprägt. Das dunkelblonde Haar war
leicht gewellt und zeigte Seidenglanz wie bei artigen Kindern; unter
der edelgeformten Stirn lagen schwärmerische grellblaue Augen vertieft;
der weiche Mund, den ein aufkeimendes Bärtchen leicht beschattete,
schien nicht zum Befehlen geschaffen. Ein Hauch naiver Güte war über
das Antlitz gebreitet. Sein Vater und sein Bruder, beide aus härterem
Metall geschmiedet, hielten ihn für gründlich aus der Art geschlagen
— stand er ihnen doch sogar in dem schändlichen Verdacht, heimlich in
Poesie zu sündigen.
»Ist Dir wirklich besser, Emmy?«
Sie nickte matt, aber mit der vollen Zärtlichkeit ihrer wundergroßen
Braunaugen, die sich wieder zu weiten und mit Glanz zu beleben anfingen.
»Du bist so gut, Maggi —« hauchte sie hin.
»Aber ich werde es von jetzt ab nicht mehr sein, Emmy! Ich werde nicht
mehr dulden, daß Du solche Holzhackerarbeit verrichtest! Von morgens 9
bis abends 9 an der Kasse zu sitzen, in solcher Luft, dazu gehört eine
andere Gesundheit als die Deine!«
Er schien jetzt erst recht auf die gebrechliche Zartheit ihrer
Erscheinung aufmerksam geworden zu sein. Die Beweglichkeit ihrer
Mienen, der Glanz ihres Blickes, die ganze facettierende Art ihres
lebhaften Wesens mochten über diese Gebrechlichkeit hinwegtäuschen;
in der Unterhaltung pflegten sich ihre Wangen mit einem blühenden
Hauch zu färben. Sie hatte eine feine, an den Schläfen durchsichtige
Stirn, von schwer zu bändigendem Wildhaar umwuchert, sehr kleine,
rosafarbene, mit zwei einfachen Korallenperlen geschmückte Ohren, die
in dem Wildhaar fast verschwanden, eine leicht gebogene, in den Flügeln
vibrierende Nase und einen vollen energischen Mund. Sie war nicht
immer hübsch; wenn sie schwieg oder an ihrem Kassenpult arbeitete, so
drückten ihre Züge einen herben Ernst aus, der sie älter machte als
ihre einundzwanzig Jahre. Dann, im Affekt, wenn eine Begeisterung für
Kunst und Natur, ja nur die erste Begrüßung mit dem Geliebten, ihr
leicht empfängliches Wesen in Flammen setzte, konnte sie sogar durch
eine eigenartige, wie hergezauberte Schönheit überraschen, die ihre
Umgebung stutzen machte.
Sie war schlank gewachsen, und die volle Büste erhöhte noch den
Eindruck ihrer sylphenhaften Zartheit. Ihr Kleid war von einfachstem
Schnitt, aus schwarzem Lüster, die Uniform des Konfektionsgeschäftes
von Kapp und Müller in der Breitenstraße, wo sie als Kassiererin
angestellt war; am Halsschluß trug sie eine Brosche aus Silber, die das
Monogramm der Firma darstellte, gleichfalls zur Uniform gehörig.
Ja, ihr Körper war der Anstrengung solches Dienstes nicht gewachsen!
»Ich weiß, was es heißt,« fuhr er fort, »Tag aus Tag ein in dem engen
Kassaverschlag zu sitzen wie in einem Schilderhaus. Gelder einzunehmen,
zu buchen und zu verrechnen — alle Augenblicke Anfragen, und die
Prinzipale, die fortwährend umherschleichen, um jemanden wegen einer
Unregelmäßigkeit zu verschlingen. Dazu die große Verantwortung! Und die
Luft, die vielen Menschen, jetzt, zum Anfang der Saison, das Gewimmel,
besonders die Anhäufung von Wolle und Baumwolle in solchem Lokal. Wir
haben ungleich luftigere Räume, und die Seide staubt nicht; dennoch
ist unsere zweite Kassiererin krank geworden, und der Arzt hat sie
gezwungen, ihre Stelle aufzugeben.«
»Du weißt doch, Maggi, ich hab’ es Dir schon ein dutzendmal erzählt,
welche Mühe ich hatte, die Stelle zu bekommen. Das Handelsinstitut, wo
ich die Buchführung lernte, hat Geld genug gekostet. Die verstehen es,
einen auszupressen. Solche Stellen sind rar.«
»Laß mich nur sorgen, mein armer Liebling! Ich dulde und dulde nicht,
daß Du Deine Gesundheit um der paar Mark wegen opferst!«
»Neunzig Mark — keine Kleinigkeit! Meine armen Eltern sind
überglücklich. Übrigens kennst Du meine Meinung. Ich bitte Dich, fange
nicht wieder davon an.«
Es hatte ihn vom Beginn ihrer Bekanntschaft an geschmerzt, sie sich
quälen zu sehen, während er im Vollen saß. Aber alle Versuche, ihr
mit irgend einer Hülfe beizustehen, scheiterten an ihrem Stolz. Fast
wäre es einmal deswegen zu einem Bruch gekommen: — ein einfaches,
harmloses Schmuckstück, das er ihr zum Ersatz der häßlichen und an die
Knechtschaft erinnernden Uniformsbrosche in die Tasche geschmuggelt.
Höchstens duldete sie eine seltene Rose oder ein Sträußlein, das die
Gelegenheit auf der Straße bot.
Ein wundergroßes Paar, das in das moderne Berlin mit seinen
Pferdebahnen, seiner elektrischen Beleuchtung und seinen Wiener Cafés
nicht hineinpaßte; es schien einer älteren Periode anzugehören, wo die
Liebenden in kleinen Winkelkonditoreien hinter Chokoladentassen ihrer
Sehnsucht Genüge thaten, wo stille, entlegene Orte, wie der damalige
Hafenplatz, zu zaghaften Rendezvous dienten, und die klassische Musik
eines Papa Liebig in Sommer’s Salon die Begleitung zu dem Liebesweben
schmachtender Augen gab. Man staune — ein reicher Kaufmannssohn, der
mit geschlossenem Geldbeutel wie ein Primaner liebte, und ein armes,
auf sauren Verdienst angewiesenes Mädchen, das ihr liebendes Herz von
der Befleckung des Goldes rein erhielt!
Der Zufall der Straße hatte sie zusammengeführt. Er besaß keinerlei
Routine in der Kunst, Herzen zu stürmen, trotz seiner vierundzwanzig
Jahre und seines Geldes, das die mächtigste Hülfstruppe bei solchen
Eroberungen bedeutet. Staunte er doch anfangs selbst über seine
Verwegenheit und über die Beharrlichkeit, mit der er den Gegenstand
seiner plötzlichen Leidenschaft umlagerte. Wochenlang, nach Schluß des
eigenen Geschäftes, patrouillierte er, einem Grenadier gleich, der auf
sein Mädchen wartet, vor den Schaufenstern von Kapp und Müller in der
Breitenstraße. Er ließ sich durch ihre Abweisungen nicht abschrecken.
Alle die hübschen kleinen Künste, die das ABC der Verführungskunst
vorschreibt, wie anonyme Bouquets, Theaterbillets, selbst Verse, die
an der Kasse von Kapp und Müller abgegeben wurden, erwiesen sich als
wirkungslose Trivialität. Eine andere Trivialität, ein Regenschirm,
der sich bei einem herabstürzenden Regenguß mitten auf dem Schloßplatz
plötzlich über ihrem schutzlosen Kopf öffnete, brachte die endliche
Annäherung. Viele Wochen lang begnügte Magnus sich damit, sie von
der Breitenstraße bis zum Lustgarten an den dort vorüberfahrenden
Omnibus zu geleiten. Und er war schon überglücklich, wenn der Omnibus
sich um einige Minuten verzögerte. Bald schrak er nicht davor zurück,
in den dumpfen Kasten des rumpelnden Fuhrwerks selbst zu kriechen,
um die Seligkeit ihrer Nähe bis zur Rosenthaler Vorstadt, wo ihre
Eltern wohnten, zu genießen. Dann folgten flüchtige Besuche in einer
Konditorei, kurze Rendezvous an den Sonntagen, wo sie auf ungeheuren
Umwegen den menschengefüllten Straßen auswichen, um irgend einen
diskreten, nur von dem verschwiegenen Himmelsblau eingesehenen
Erdenwinkel draußen in der Bannmeile zu erreichen.
Sie zwang ihn zu der Genügsamkeit ihrer Armut, und ihre beiderseitige
Liebe erstarkte nur um so mächtiger und glühte um so heißer in
dieser Kargheit. Sie wußten, daß sie einander nicht gehören durften
und daß ihrem Liebestraume nur das kurze Leben eines Frühlingstages
beschieden wäre. Die drohende Trennung lag wie ein Schatten über diesem
Frühlingstag. Sie war ihnen so sicher wie der Tod, und sie meinten ein
jedes, daß sie die Scheidestunde nicht überleben würden. —
Emmy hatte sich erholt, Magnus begann wieder aufzuatmen: es war nichts
weiter, als ein Schwächeanfall, vielleicht auch die Aufregung dieses
ihres ersten Besuches in seiner Wohnung.
»Komm, wir wollen uns wieder zu Tische setzen, liebes Herz, —« sagte
er, »die Zeit eilt!«
»Du Ärmster, wie hat Dich mein Besuch enttäuscht! Wie hübsch hattest Du
alles angeordnet!«
War sie doch bei ihrem Kommen durch die funkelnde und schimmernde
Pracht der mit kostbarem Geschirr und prächtigen Blumen ausgestatteten
kleinen Tafel, auf der die seltensten Leckerbissen der Jahreszeit
sich drängten, in kindliches Staunen ausgebrochen. — »Doch nicht
meinetwegen, Maggi?«
Sie wollte ihm nun die Freude wenigstens nicht ganz verderben und sich
abermals mit ihm zu Tisch setzen. Als sie sich aber erhob, begann
die Standuhr über dem Divan zu schlagen. Sie horchte, mit steigender
Aufregung zählte sie die Schläge.
»Neun Uhr — Ah!«
Erschreckt fuhr sie zusammen. »Nicht möglich!« rief sie. »So muß ich
sofort nach Haus!«
»Eine Viertelstunde!« bat er. »Die Uhr geht nicht richtig — Du bist
doch eben erst gekommen!«
»Du weißt, wie Mama sich ängstigt. Wenn man sie hört, so ist Berlin zu
drei Vierteln mit Räubern und Missethätern bevölkert, die nach neun,
wo alle anständigen Leute von der Straße verschwinden, ihr Tagewerk
beginnen. Ich muß fort! Vor einer halben Stunde kann ich nicht dort
sein. Es ist Angst genug für Mamachen —«
»Nur zehn Minuten, süßes, einziges Herzlieb —« flehte er. »Wir nehmen
eine Droschke und lassen fahren wie die Eisenbahn. Bitte, bitte, nur
noch zehn Minuten —«
Er wandte ihr Köpfchen zu sich empor und erstickte das abwehrende Nein
ihrer bebenden Lippen mit der Leidenschaft seiner Küsse. — »Nein, ich
laß Dich nicht! Ich laß Dich nicht!« stammelte er.
»Armer Maggi —« hauchte sie in seine Liebkosung. Ihre Augen füllten
sich mit Thränen: — eine solche Liebkosung wird eines Tages, bald,
gar bald, ihre Trennung bedeuten!
Wo war die Zeit hin? Wie hatten sie jedes für sich die Seligkeit
dieses ersten rückhaltlosen Zusammenseins ausgeschmückt! Emmy hatte
aus ihrem Kassagefängnis sich mit Mühe durch eine Notlüge zu früherer
Stunde befreit. Magnus ahnte nicht, welche Angst sie ausgestanden, bis
sie endlich hier in seinen Armen lag. Die peinigenden Skrupel, die
sie mehrere Male umkehren heißen, die Furcht vor Entdeckung und das
drohende Gespenst der Schande, das auf sie lauert — es will immer
noch nicht dunkel genug werden — die Läden diesseits und jenseits der
Straße sind so neugierig — alle Passanten wissen um ihr Geheimnis —
die Stiege knarrt — sie schrickt zusammen — eine Thür öffnet sich,
jemand kommt die Treppe herab — atemlos vor Schreck stürzt sie auf die
beigelehnte Thüre des ersten Stocks — »Endlich!« ruft drinnen eine
Stimme.
»Ach Maggi ...«
Lange verbarg sie ihr vor Scham glühendes Antlitz an seiner Brust und
ihr Atem stürmte vor gewaltiger Erregung.
»Du wirst mich nicht mehr lieben ...« bebte es über ihre Lippen. Sie
wagt nicht mehr aufzuschauen — o, sie wird nicht mehr wagen, ihrer
Mutter unter die Augen zu treten!
»Du meine Welt! Du mein Alles!« Und mit einem neuen Sturm umpreßte er
ihre zarte Gestalt.
Aber die Standuhr war nicht so barmherzig, still zu stehen für ihr
Glück. So, mit der Angst, mit der Freude dieses Willkomms war die Zeit
dahingeflogen — dazu der fatale Ohnmachtsanfall. —
Während er ihr half den Paletot anzulegen, schwelgten sie bereits in
der Seligkeit eines neuen Wiedersehens.
»Ist Dir auch wirklich ganz besser?« fragte er besorgt. Es war ihm, als
hauchte abermals eine Blässe über ihre Wangen.
»Ganz gut, Maggi ...«
Aber der Name hauchte so matt heraus — ein neuer Schatten umflorte
plötzlich ihren Blick — sie wankte.
»Um Gotteswillen!« — rief er — »was ist?!«
Abermals brachte er sie zum Divan, diesmal mußte er ihren Körper völlig
auf den Armen tragen, wie leblos lehnte ihr todbleicher Kopf gegen
seine Brust.
»Emmy! — was ist? — Emmy!«
Es war die volle Ohnmacht. Er besprengte ihr das Gesicht, versuchte ihr
Mieder zu öffnen — da zeigte sich Blut in dem einen Mundwinkel — und
jetzt zog sich eine rote Linie von Blut zwischen den blassen Lippen hin.
»Ein Blutsturz!« stieß er aus.
In höchster Bestürzung fuhr er empor, das Schwellen der roten Linie
anstarrend. Dann stürzte er auf den altmodischen gestickten Klingelzug
hin und riß daran.
Jemand klopfte; ohne das Herein abzuwarten, erschien ein Kopf in der
Thür, und eine wie verrostet klingende weibliche Stimme meldete, daß
das Mädchen nicht da sei — »womit könnte ich dienen?«
Es war Frau Gornemann selbst, seine Wirtin.
»Lassen Sie, bitte, irgend jemand nach dem Arzte eilen — Sanitätsrat
Herz, Mohrenstraße 28!«
Frau Gornemann war ganz eingetreten. Die Situation für sie sehr
interessant — höchst pikant!
Es war eine starke Dame von mittlerem Alter, mit unförmlicher und
wie mit verzweifelter Überanstrengung eingeschnürter Taille; ein
männlich ausgeprägtes Gesicht von starkem und kaltem Ausdruck, dick
gepudert, von dem überaus künstlichen Gebäude einer pompösen Frisur
überragt. Sie trug ein schweres schwarzes Seidenkleid, eine protzige
Herrenuhrkette mit Berloques baumelte aus dem Taillenschluß; zwischen
ihren Rockfalten raschelte ein Seidenhündchen mit gänzlich von langen
Haaren überhangenem Gesicht und einem feinen Glöckchen am Hals.
Der Blick ihrer eisigen Augen belebte sich, und sie nickte mit einem
fast cynischen Lächeln. Sie versteht vollkommen: der festlich gedeckte
Tisch und der Damenbesuch, Alles!
»Schnell! Lassen Sie schnell den Arzt rufen! — Ich bitte! — Sie
stirbt! — ein Blutsturz —«
Neugierig rauschte Frau Gornemann mit dem klingelnden Hündchen, das sie
nie verließ, an den Divan heran.
»Eine befreundete Dame —« erläuterte er linkisch. Es klang recht
dumm! Was denn sonst? — man kennt dergleichen! — sie bedarf keiner
Erklärung! — schien der ironische Zug ihres von einem Bartflaum
überschatteten Mundes zu sagen.
Die Gegenwart dieser Frau, vor der er stets eine Abneigung gespürt,
empfand er selbst in diesem Augenblick als eine Entweihung; statt
ihrer, der Ohnmächtigen, befiel ihn eine Scham. Aber Eile — höchste
Eile!
Frau Gornemann rauschte hinaus, um den Auftrag auszuführen, dann kam
sie wieder, das weibliche Mitgefühl hatte doch über die kritische
Neugier die Oberhand gewonnen. Ja, fast schien sich seine Ratlosigkeit
ihr selbst mitgeteilt zu haben. Es ist jetzt keine Zeit zu Glossen!
Nach der Ewigkeit einer halben Stunde erschien der Sanitätsrat. Er
machte sich sofort an den Fall, ohne die außergewöhnlichen Umstände zu
beachten. Und dieser Fall lag einfach: eine schwere innere Blutung —
sofort solle die Kranke zu Bett gebracht werden — er wolle so lange
bleiben ...
Magnus’ verzweifelter Blick traf Frau Gornemann. In einem
schnippischen Anfall erklärte diese, die massiven Schultern hebend, daß
sie weder Platz, noch ein Bett übrig hätte!
Es half kein Zaudern und keine Rücksicht im Angesicht dieser Gefahr.
So ward die Kranke also in Magnus’ Schlafstube gebettet. Völlige
Reglosigkeit, völlige Stille, Eisumschläge und eine Liste von
Vorsichtsmaßregeln. Offenbar hing das Leben der Ärmsten nur noch an
einem Haar. —
Thränen zitterten durch Magnus’ Stimme, als er den Sanitätsrat beim
Fortgehen nach den Aussichten fragte.
Der Arzt hob die Schultern langsam empor, preßte die schmalen,
bartlosen Lippen vollends ein und hob die grauen Büsche der Brauen über
den freundlich und gutmütig blickenden Augen. Da er Thränen über die
Wangen von Magnus stürzen sah, tappte er ihm auf die Schulter: »Was
machen Sie für Geschichten!« schien dies stumme Tapfen zu sagen.
»Sie begreifen, Herr Sanitätsrat ...«
Es schien ein Appell an den Menschen. Dr. Herz war nicht der Hausarzt
der Familie Joël, aber er hatte den jungen Joël, dem jener andere zu
weit ab wohnte, gelegentlich eines flüchtigen Leidens hier in derselben
Wohnung behandelt.
»Machen Sie sich keine Gedanken, junger Herr!« fiel er ein. »Wir Ärzte
sehen und hören nur, was wir wollen. Wir erleben hier in Berlin jeden
Tag einige Romankapitel.«
Nach einer kurzen Pause: »Leben die Angehörigen der Dame hier in
Berlin?«
»Beide Eltern.«
»Sie thäten gut, dieselben zu benachrichtigen.«
»Oh!«
»Es wäre das Beste — und möglichst bald, ehe Sie eine noch viel
schlimmere Verantwortung übernehmen. Ich kann Ihnen übrigens für die
Nacht und überhaupt eine Wärterin senden,« (mit einem bedeutsamen Blick
nach der Schlafstube: — Frau Gornemann möchte er die Kranke nicht
anvertrauen!)
»Bitte, Herr Sanitätsrat!«
Magnus war aufs äußerste bestürzt. Welch eine Situation! Welch eine
Verlegenheit! Die armen Eltern — arme Emmy! Er weiß, der Tod wäre ihr
lieber, als ein Wiedersehen mit ihren Eltern an diesem Ort ...
Eine Stunde darauf erschien Schwester Jemima, ein wachsblasses Gesicht
mit großen, dunkelgrauen Augen, die weder Kummer, noch Schreck, noch
Freude, noch Trauer zu kennen schienen; ihr Gang war ein schattenhaftes
Schweben und ihre Bewegungen völlig lautlos. Sie war eine geborene
Komtesse M. und als Wärterin in allen aristokratischen Krankenstuben
beliebt.
Auch sie sah und hörte nichts und schien über nichts nachzudenken.
O, auch sie erlebte Romankapitel genug in ihrem schweren Dienst!
Moralische Kasteiung ist ja noch viel verdienstvoller, als körperliche!
* * * * *
Am Morgen noch vor acht Uhr betrat Magnus in der Treskowstraße das
Haus, wo Emmys Vater, der Zahlmeister a. D. Köster, wohnte. Es war
eines jener Häuser, die gleich nach dem Neubau schon einer zehrenden
Alterskrankheit verfallen, als ob die Armut, die sie bewohnt,
ein bösartig gefräßiges Ungeziefer sei. Man wies ihn in einem
feuchtdüstern, brunnenartigen Hof nach einer Hintertreppe. Langsam
stieg er die abgetretenen Stufen hinan, als schleppte er mit seiner
peinvollen Meldung eine Last empor. Die dumpfe Luft der Armut, die ihm
entgegenwehte, fiel ihm schwer aufs Herz. Die Thüren trugen entweder
gar keine Schilder, oder sie waren mit einer Menge vergriffener Karten,
ja nur Zettelchen statt solcher bedeckt. Hinter der einen gellte
Weibergekeif, Kindergeschrei jeglicher Tonart drang aus allen Ritzen,
das ganze Haus schien davon zu vibrieren. Und er hatte dulden müssen,
daß sie, die Geliebte, unter solchem Druck atmete! Wenn sie wieder
besser ist ... ach, er wagte nicht, sich diese Hoffnung vorzugaukeln!
Emmy hatte die Verhältnisse ihres Elternhauses nur mit kurzen
Andeutungen gelüftet. Ihr Vater hatte als Zahlmeister in der Armee
gedient, er litt am Größenwahn, sein störrischer Sinn hatte ihn hart
an einer Insubordination vorbeistreifen lassen, und er kam noch gerade
mit dem blauen Auge eines einfachen Abschieds davon. Dann hatte er sich
in allerlei Winkelstellungen versucht, die seinem stolzen Sinn aber
zu subaltern dünkten. Nun war er seit lange ohne Beschäftigung, seine
angeborene Rolle als verkanntes Genie ins Virtuosenhafte ausbildend.
Die Mutter war ein Engel an duldender Güte. Sie war vor ihrer Heirat
Lehrerin gewesen, nun gab sie für ein Spottgeld Klavierstunden an erste
Anfänger. Drei Geschwister waren gestorben, Emma war die einzige —
ihrer Eltern Trost und Hoffnung! — das hatte Magnus längst gemerkt.
Im vierten Stock fand er eine Thür beigelehnt. Eine scharfe
militärische Stimme inquirierte jemand da drinnen.
»Also um sieben Uhr hat sie das Geschäft bereits verlassen?«
Die Köster hatten jedenfalls in ihrer Angst um die rätselhaft
Ausgebliebene zu Kapp und Müller geschickt und diesen Bescheid erhalten.
»O Gott, was ist denn das?« jammerte eine matte Frauenstimme.
Magnus stutzte. Er hatte mit Frau Gornemann ein Märchen vereinbart,
und da war dieser verdächtige Punkt, daß Emmy das Geschäft wider die
Gewohnheit um sieben Uhr statt gegen neun verlassen, übersehen worden.
Zu einer anderen Zeit hätte ihn der Gedanke angewidert, sich mit dieser
Frau gemeinsam auf krumme Wege zu begeben, denn er war Berliner genug,
um hinter dem »Witwentum« von Frau Gornemann eine schwüle Vergangenheit
zu wittern. Aber die entsetzliche Verlegenheit drängte.
»Je kräftiger Sie flunkern, desto eher wird Ihnen geglaubt, Herr Joël!«
lautete die Parole, die seine Vermieterin ihm auf den schweren Gang
mitgab.
Wohlan! Und er klopfte an die Thüre.
»Herr–rein!«
Ein kräftiger Mann, schwarzhaarig, mit argwöhnisch spürenden dunkeln
Augen blieb in seinem aufgeregten Gange durch die Stube halten. Diese
war mit Möbeln und Hausgeräten überfüllt, am Fenster stand ein altes
Tafelklavier aus gelbem Kirschbaum.
»Ich komme, um Ihnen Nachricht von Ihrer Tochter zu bringen —« brachte
Magnus ziemlich sicher hervor.
Mit einem Freudenschrei schoß eine kleine Frau mit einem kümmerlichen
Gesichtchen, das die Angst nun vollends verstört hatte, aus einem
Winkel empor.
»Wo ist sie? — Sie haben Nachricht? — Um Gotteswillen, wo ist sie?«
Gleich wandelte sich die Freude in Schreck. Magnus sah, wie die zarte,
gebrechliche Frau am ganzen Leibe vor Aufregung zitterte.
»Ihre Tochter lebt! Sie brauchen nicht das Ärgste zu denken!« rief er.
Herr Köster spannte die Augen. »Du kannst gehen, Karl,« sagte er zu
dem Knaben, welcher der Überbringer der Nachricht von Kapp und Müller
gewesen. Als fürchtete er, des Nachbars Kind könnte Dinge über seine
Tochter zu hören bekommen, die sich nicht für die Verbreitung im Hause
eigneten. Er argwöhnte immer nur das Schlimmste.
»Also Ihre Tochter ist gestern Abend auf der Straße plötzlich erkrankt.
Ich war zufällig in ihrer Nähe. Sprang noch rechtzeitig heran, sonst
wäre sie auf das Trottoir hingestürzt. Wir brachten sie ins Haus. Es
wurde ein Arzt gerufen und der erklärte sofort —«
»O Gott!« stieß Frau Köster aus, und sie bedeckte ihr Gesicht mit
beiden Händen.
»Verhehlen Sie uns nichts!« rief Herr Köster — »wir sind auf alles
vorbereitet nach dieser Nacht!«
»Ich bitte, sich zu beruhigen! Der Doktor, den ich — den wir sofort
rufen ließen, erklärte es nicht für sehr gefährlich — ein leichter
Blutsturz —«
»Warum hat man sie denn nicht zu uns gebracht? Oder noch besser zur
Charité, wo sie jedenfalls die sicherste Hülfe gefunden« — fiel jener
ein.
Die arme Mutter zuckte entsetzt bei dem Worte »Charité« zusammen, als
bedeute das den Gipfel der Schande.
»Der Doktor erklärte sofort, daß die Kranke nicht weiter transportfähig
—«
»Wir müssen gleich zu ihr, Frau! Hier hilft kein Jammern und kein
Besinnen! Wo ist es, wenn ich bitten darf?«
»Charlottenstraße 55=a= bei meiner Wirtin« — (das klang nicht gut!)
»bei einer Frau Gornemann,« verbesserte er sich. »Eine barmherzige
Schwester war die Nacht über da. Es ist für alles gesorgt. Sie können
ganz ruhig sein.«
»Mein Name ist Joël —« fügte er zögernd, mit einer leichten Verbeugung
hinzu. Er hätte in diesem Augenblick viel darum gegeben, wenn er nicht
diesen stadtbekannten Namen trüge.
»Ach — von den Joëls in der Leipzigerstraße?« fragte der Vater heftig.
Gleich stürzte sich sein Argwohn auf den Namen.
Magnus nickte. Kann es unter den reichen Leuten denn keine Ehrenmänner
geben?
»Wie kam — wie kam das Mädchen denn um sieben Uhr in die
Charlottenstraße, Herr Joël?«
Magnus erstaunte selbst später über seine Geistesgegenwart, die diese
Frage nach kürzestem Zögern parierte:
»Die Dame war, so viel ich herausbekam, im Auftrag von Kapp und Müller
ausgegangen ...«
Doch Frau Köster schnitt all diese Abschweifungen von der Hauptsache
mit der Erklärung ab, daß sie vor allem hin müßten — gleich auf der
Stelle! O, sie läßt sich nur vom ersten Schreck so niederducken —
nachher findet das Schicksal sie stets gewappnet!
»Darf ich Ihnen meine Droschke zur Verfügung stellen? — sie ist
bereits bezahlt,« fragte Magnus.
Sie nahmen das Anerbieten an, und er empfahl sich, froh aufatmend. Doch
da draußen auf der Straße fiel der Jammer über den drohenden Verlust
der Heißgeliebten wieder über ihn her. Während er im Sonnenschein durch
das Gewühl der Rosenthaler Straße schritt, stürzten ihm plötzlich
Thränen aus den Augen. Und ein Gefühl, daß nachdem, wenn sie ihm
geraubt würde, das ganze Leben für ihn keine Bedeutung mehr hätte,
legte sich gleich einem Schleier über seine Sinne. —
* * * * *
Magnus war nach einem kleinen Hotel in der Nachbarschaft übergesiedelt;
den Seinen gegenüber hatte er diese Veränderung mit einem ansteckenden
Krankheitsfall in der Familie Gornemann begründet, so kam er auch jeder
Überrumpelung in der Wohnung zuvor.
Die Kranke schwebte zwischen Tod und Leben; die Miene des Sanitätsrates
bemühte sich krampfhaft, eine Hoffnung zu heucheln. Frau Köster und
Schwest Jeremima teilten sich Tag und Nacht in die Pflege, während Herr
Köster ruhelos ab und zu ging, von der Sorge um sein Kind gehetzt.
Magnus verrichtete seinen Dienst im väterlichen Geschäft wie ein
Träumender. Alle Gedanken bei ihr! — und es war eine solche Qual für
ihn, wenn er in ihrer Nähe weilte, seine überquellende Sorge sänftigen,
den Ausdruck seines Schmerzes unterdrücken zu müssen, damit die Eltern
nicht Verdacht schöpften.
Doch nur zwei Tage gelang die Täuschung gegenüber Herrn Kösters
argwöhnischem Spürsinn. Diesem war die angstvoll vibrierende Teilnahme
eines Wildfremden, angeblich nur durch einen Zufall Angenäherten,
gleich verdächtig vorgekommen, so sehr sich Magnus gerade in seiner
Gegenwart Gewalt anthat.
Kapp und Müller hatten auf seine Erkundigung nichts von einem in ihrem
Auftrag erfolgten Ausgang um sieben Uhr gewußt, Fräulein Emma hatte im
Gegenteil ein Familienfest für ihr Urlaubsgesuch vorgeschützt. Dazu
trat der schändliche Verrat der kleinen, leblosen Dinge, die unseren
Alltag tyrannisieren, ja zuweilen unser Schicksal meistern. Magnus
hatte sorgfältig alle Spuren, die zur Entdeckung des Geheimnisses
führen konnten, entfernt. Der Doktor suchte bei einem seiner Besuche
nach einem Zettelchen, um den lateinischen Namen einer Tinktur darauf
zu schreiben; er griff aufs Geratewohl in den Papierkorb und zog ein
beschriebenes Blättchen hervor, auf dessen leere Seite er den Namen
hinwarf. Herr Köster, der die Besorgung in der Apotheke übernahm,
erstarrte, als er unterwegs das Blättchen näher prüfte: es war das
Stück eines Briefcouverts, und die Adresse, an Herrn Magnus Joël
gerichtet, zeigte die Handschrift seiner Tochter! Keine Täuschung: —
ein gewisser flotter, für ihre Hand charakteristischer Schnörkel ließ
keinen Irrtum aufkommen.
Dann, bei seiner Rückkehr, gab die Kranke selbst den Anlaß zur
Gewißheit. Er war leise an das Lager herangeschlichen. Magnus saß
dort neben der Mutter. Emmys fieberglänzende Augen weiteten sich, sie
schienen nach jemand ins Leere hinein zu suchen. Endlich trafen sie
Magnus’ Antlitz. Nun tastete ihre Hand mit Mühe, bei der übergroßen
Schwäche, über die Bettdecke nach ihm hin. Sie suchte seine Hand, und
er reichte sie ihr, alle Vorsicht vergessend. Mit einem seltsamen
Ausdruck des Glückes schloß sie die Augen, die Hand immer noch haltend.
Herr Köster wußte genug. Emmy und Herr Joël hatten sich längst
gekannt — der Krankheitsanfall und das zufällige Eingreifen dieses
übergefälligen Herrn war erfunden — seine Tochter, seine einzige
verführt und verdorben! — und dort steht der Verführer!
Ein ungeheurer Grimm überfiel ihn. Er hätte sich am liebsten auf den
Verbrecher gestürzt. Mit zitternder Stimme ersuchte er, Herrn Joël
draußen auf der Straße sprechen zu dürfen. Dort ging er geradenwegs auf
die Sache los.
»Sie haben uns irre geführt, Herr Joël, als Sie uns meldeten, wie der
Unglücksfall sich ereignet —«
»Herr Köster!«
»Ich denke, es ist jetzt nicht der Moment, Komödie zu spielen. Ich weiß
alles — kenne die Beziehungen des Mädchens zu Ihnen —«
Magnus hielt es diesen Umständen und den fanatischen Blicken des in
seinem Vaterstolz Verwundeten gegenüber nicht mehr für angebracht, sein
Märchen aufrecht zu erhalten.
»Ja, ich liebe Ihre Tochter!« flüsterte er, und er legte beteuernd die
Hand auf die Brust; seine Augen strahlten.
»Liebe Ihre Tochter ...« höhnte Köster. »Ungeheure Gnade — der reiche
Herr Joël, der sich herabläßt, meine Tochter mit seiner Liebe zu
beglücken!«
Dann in einen Ton jammernder Verzweiflung umschlagend: »Mein Kind, mein
armes Kind! — sie war unsere ganze Freude! — Liebe Ihre Tochter ...
was heißt denn das? Bekennen Sie doch Farbe, Herr!« Drohend klang es,
und unwillkürlich wich Magnus zur Seite.
»Ich versichere Sie — ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist
...« fiel Magnus ein.
»Kennen wir — kennen wir! — bin lang genug in Berlin, um zu wissen,
was solche Liebe bedeutet ... zum Teufel, Herr, ich fordere die Ehre
meiner Tochter von Ihnen! Sie haben Ihren Ruf vernichtet! Sie werden
mir Rechenschaft geben, Herr ...«
»Ein so verzweifelt unglückseliger Zufall —« stotterte Joël — »ich
bin bereit, alles gut zu machen ...«
Er war sich zwar nicht klar, wie das zu geschehen hätte; gleich schämte
er sich auch der Redensart.
»Mit Geld? Zum Teufel mit Ihrem Geld! Eine Ehre läßt sich nicht mit
Geld reparieren! — Mein Kind, mein armes Kind —« jammerte der Vater
von neuem los.
»Herr Köster, hören Sie doch ...« bat Joël, von innigem Mitleid
ergriffen.
»Lassen Sie mich! — es ist jetzt nicht der Moment — wir rechnen schon
mit einander ab! — lassen Sie mich ...«
Und er wehrte Joël ab, zu folgen, während er eiligst um die nächste
Ecke bog. Joël stand und sah der Gestalt des unglücklichen Mannes nach,
wie sie, die Arme mit den geballten Fäusten in ohnmächtigem Grimm nach
abwärts gesenkt, dahinwankte.
Wie verstört strich er selbst aufs Ungewisse durch die Straßen. Der
Mann hat recht! Der Ruf des Mädchens ist vernichtet — kein Geld der
Welt vermag ihn herzustellen, denn der Leumund glaubt nicht an die
Schändlichkeit dieses Zufalls. »Welche Sühne könnte ich leisten? Blut
wäre trivial — und widersinnig, ihm, dem Vater, solches anzubieten!«
Der Gedanke an einen Ausweg fiel ihn an. Sein Geschick für immer an
das ihre zu fesseln? — sie zu heiraten? — Das bedeutete für seine
Familie, für seinen Vater das Ende der Welt! — Und er belog sich, daß
er dennoch den Mut haben würde, den Schritt zu thun, der ganzen Welt
zum Trotz — wenn sie nur am Leben bliebe — nur das!
Aber sie wird und kann nicht am Leben bleiben! Der Sanitätsrat hat ihm
erst heute Mittag jede Hoffnung geraubt.
Ein Eheversprechen? — das klänge hier im Angesicht des sicheren Todes
wie ein entweihender Hohn.
Herr Köster erschien an diesem und dem folgenden Tage nicht mehr in
Joëls Wohnung. Es war die stumme Ächtung, die er über sein armes Kind
verhängte. Sein Starrsinn gebot ihm, eher grausam, ja brutal zu sein,
als den Schein auf sich zu laden, daß er seine und der Seinen Ehre
antasten ließe.
* * * * *
In der Villa Joël zu Charlottenburg wurde der Geburtstag des Chefs
gefeiert; zugleich das Gründungsfest des Berliner Hauses. Magnus durfte
und konnte nicht fern bleiben, ein triftiger Vorwand fand sich nicht.
Doch würde er Gelegenheit erhaschen, sich zeitig genug zu entfernen —
denn die Geliebte lag im Sterben.
Herr Hildebrand Joël, der seit fünfzehn Jahren verwitwet war, bewohnte
einen Teil des Parterregeschosses der großartigen Villa, während sein
Ältester, Gisbert, mit seiner Familie die übrigen Räume inne hatte. Für
Magnus hätte sich wohl noch ein Plätzchen in dem weiten Hause gefunden,
doch hatte sich das Bedürfnis herausgestellt, daß einer von der Firma
wenigstens seine Wohnung in Berlin und in der Nähe des Geschäftes
hatte. So hatte Magnus in erster Ermangelung eines besseren Logis, und
da er durchaus anspruchslos war, sich bei Frau Gornemann eingemietet,
selbst die Bedienung verschmähend, die ihm sein Vater aufdrängen
wollte, damit auch diese Filiale des Namens Joël mit genügendem äußeren
Glanz vertreten würde.
Gisbert Joël war mit einer Tochter des großen westfälischen Eisen-Sturz
vermählt; sein Schwager war der Baron Kehren, ein wegen seines wütenden
Strebertums in weiten Kreisen der Armee berüchtigter Offizier. Gisbert
war das Gegenstück des jüngeren Bruders. Schon die fast ans Geckenhafte
streifende Sorgfalt für Kleidung und Äußeres verriet den Lebemann.
Er hatte seine Jugend tüchtig ausgetobt, und der Arnheim von Herrn
Hildebrand wußte davon zu erzählen; aber das Stirnrunzeln des alten
Herrn war wohl nicht ernst zu nehmen: — leben und leben lassen! — ein
Joël, der der schönsten Figurantin von Friedrich-Wilhelmstadt Equipagen
und Pferde hält und den Mut hat, bei Friedländer Zehntausende für ein
Schmuckstück aufschreiben zu lassen, um damit die Gunst einer bekannten
Soubrette zu erobern — das bringt den Namen nur in Umsatz, das kann
den Glanz des Hauses nur erhöhen! Warum begeht der Jüngere keine solche
Heldenthaten? Man muß ihn wahrhaftig zwingen, standesgemäß Geld zu
vergeuden! Hätten die beiden Cyniker, Vater und Sohn, erfahren, daß ein
Joël allabendlich in einen Rumpelkasten von Omnibus kroch, um in den
Blicken eines unscheinbaren Ladenmädchens seine Seligkeit zu finden —
sie hätten ihn für ein Tollhaus reif erklärt.
Da Magnus so schmählich aus der Art geschlagen, da er nichts für den
Ruhm des Hauses zu thun gewillt war, blieb schließlich nichts übrig,
als ihn wenigstens glänzend zu verheiraten. Magnus war mit seinen
vierundzwanzig Jahren alt genug; er würde einen Musterehemann abgeben
— meinte Frau Gisbert, eine lebhafte und imposante Brünette, nach
ihrer Art ironisch mit den Lippen zuckend.
Es war auch schon eine Braut für ihn bestimmt. Bei Gisberts war eine
Cousine der geborenen Eisen-Sturz zu Besuch, eine Gußstahl-Prinzessin
aus Bochum. Eine blühende Blondine von bezaubernd liebenswürdigem
Wesen — und sie schien sich wahrhaftig für den »guten Kerl« von
einem Magnus zu erwärmen, all den glänzenden Huldigungen zum Trotz,
denen ihre Schönheit und ihr Reichtum ausgesetzt waren. Der engere
Familienrat hatte diese Heirat beschlossen. Gisbert erklärte zwar
die Dame viel zu schade für den »Duckmäuser«; er war selbst mit
einer schönen und reichen Frau verheiratet, gönnte das gleiche
Glück aber keinem anderen. Die beiden Schwestern, Frau Gisbert und
Baronin Kehren, pflichteten lachend, ihre berühmt prächtigen Zähne
weisend, diesem Urteil bei. Auch sie hätten für die gußstählerne
Cousine wohl eine bessere Partie erwünscht, aber mit dieser Heirat
waren allerlei verlockende Pläne verknüpft. Der Alte beabsichtigte
nämlich nach Magnus’ Verheiratung, diesen das Obergeschoß beziehen zu
lassen und für Gisbert eine Mustervilla zu erwerben, die er auf die
erdenklich prachtvollste Weise ausstatten wollte. Die beiden Schwestern
schwärmten schon von dem neuen Besitz, und eifrig arbeiteten sie an dem
Heiratsprojekt.
Magnus sah sein Schicksal. Über kurz und lang mußte er ja doch von der
Geliebten getrennt werden! Über diese Trennung hinaus war alles andere,
was geschähe, gleichgültig! Aber er glaubte das Schicksal noch eine
Weile aufhalten zu können! —
Welch eine entsetzliche Qual, heute hier mitten im Festestrubel
zu weilen, als Sohn des Hauses den Höflichen und Zuvorkommenden
zu spielen, eine lächelnde Miene aufzusetzen und den Damen banale
Nichtigkeiten zu spenden — während Emmy im Sterben liegt und eine Welt
unter ihm zusammenzustürzen droht!
Die Festtafel war in dem großen neudekorierten Hauptsaal hergerichtet.
Während die Austern gereicht wurden, bewunderte man den jüngst
erst fertig gestellten Meyerheimschen Fries und die farbenglühende
italienische Decke von Meurer. Doch den Haupteffekt gab der herrliche,
sonnenfrohe Frühlingstag, der durch die hohen Bogenfenster der
Gartenterrasse hereinglänzte. Die hohen Bäume waren noch von dem
bronzefarbenen Hauch der ersten Knospung überhaucht, während das
Strauchwerk schon in seinem vollentfalteten grünen Schmucke prangte.
Auf dem blendenden Smaragd der Wiese stolzierten kostbare weiße Pfauen,
und die saisongemäßen Beete voll seltener Tulpenarten machten, von
hier oben gesehen, die Wirkung von bunten Geschmeidestücken aus der
Renaissance. Das feine Säuseln eines unsichtbaren Springbrunnens
lag wie ein dämpfender Schleier über dem vielartigen Geräusch der
Speisenden; ein paar Amselstimmen bemühten sich, von draußen her zur
Tafelmusik beizusteuern.
Der Glanz der Gäste konnte fast mit der Pracht der Gedecke, dem Prunk
der schweren Aufsätze und der auch jetzt am hellen Tage brennenden
Kandelaber wetteifern. Einige strotzende Generalsepauletten, einige
verdienstvolle Ordenssterne von staatlichen Würdenträgern, ein paar
Breitseiten von Diner-Orden auf der Brust von Flügeladjutanten, einige
Kommerzienräte, einige vielgezackte Kronen aus der Diplomatie, ein paar
der augenblicklich modernsten Namen aus Kunst und Litteratur.
Natürlich hatte der Festordner Gisbert seinem Bruder Magnus die
gußstählerne Prinzessin als Nachbarin zudiktiert. Und es geschah
von seiten der Verschworenen das möglichste, um die Gäste wie das
Paar selbst auf dessen Zusammengehörigkeit aufmerksam zu machen.
Die zukünftige Braut wurde mit Aufmerksamkeit überhäuft, die beiden
Schwestern ließen sie und Magnus nicht aus den Augen, mit Lächeln
und Nicken und allerlei kleinen bedeutsamen Zeichen suchten sie die
Gelegenheit zu schmieden.
Magnus verrichtete ein Wunder an Selbstbeherrschung. Krampfhaft zwang
er sich, er, der sonst still war und nicht den Ruf eines interessanten
Gesellschafters besaß, zu einer lebhaften Unterhaltung. Wollte er doch
dem lieben und hübschen Wesen an seiner Seite, dem die helle Lebenslust
aus den blauen Augen lachte, diese frohe Festesstunde nicht verderben!
— galt es doch mit dem Klang seiner eigenen Worte und seines Lachens
den wühlenden Schmerz hier in der Brust betäuben! Vielleicht mochte
auch der Wein, den er in vollen Römern herabstürzte, seine Schuldigkeit
thun ....
Die Verschworenen hatten ihr Werk mit feiner List insceniert. Nach den
ersten feierlichen Galatoasten erhob sich Herr Perkisch, der bekannte
Tafelpoet, der, wie Koch und Lohndiener, in gewissen Kreisen zu den
notwendigen Requisiten eines Diners gehört. In seiner schwungvollen Art
feierte er das Glück des Hauses Joël. Nicht das gegenwärtige allein,
sondern ein zukünftiges, das er mit einem ausdrucksvollen Zwinkern
seiner schmalen Augenschlitze fern dort hinten auf der smaragdenen
Wiese zwischen den weißen Pfauen aufsteigen sah. Und sein beim Reden
vergnügt schmunzelnder Mund malte dies Glück in so verlockenden Farben
aus, daß die beiden Schwestern ganz Begeisterung waren. Der von ihnen
gedungene Tafelpoet konnte seinen Auftrag nicht effektvoller ausführen.
Alles zielte mit offenen und verstohlenen Blicken auf das Paar. Nun,
nachdem Perkisch geendet und das erste Läuten und Klingen der Gläser
verhallt war, wußten die Schwestern eine Art Cour vor dem Paar in Scene
zu setzen. Sie traten vereint auf Magnus und Fräulein Helmons zu, und
ihre Blicke, ihr Lächeln und die Art, wie sie mit den beiden anstießen,
alles das sah wahrhaftig wie eine Gratulation aus! Andere folgten dem
Beispiel. Hier und da wurde getuschelt — »noch nicht offiziell!« hieß
es — »aber die Verlobung hängt in der Luft!«
Fräulein Helmons glühte, aber mit ihrem bezaubernden Lächeln überwand
sie die seltsame Verlegenheit. Ihrem Herzen schien es wahrhaftig fast
recht zu sein, wenn sich all diese versteckten Huldigungen zu einer
wirklichen greifbaren Gratulation verdichteten.
Magnus ließ in seiner etwas linkischen Art den unbegreiflichen Sturm
gegen sich anprallen. Zum Teufel, es kann doch kein Mensch auf der Welt
mit klingenden Gläsern und Toasten zu einer Ehe gezwungen werden!
Eben fand sich der alte Papa ein, sein Rotweinglas (er trank nie
Champagner) in der Hand, um zu »gratulieren« — wie soll man es
sonst nennen? Über sein glattrasiertes, von einem silberschimmernden
Kranzbart unter dem Kinn eingerahmtes Gesicht vibrierte ein Ausdruck
verschmitzter Freude. Mit bekannter Artigkeit verneigte er sich vor
seiner zukünftigen Schwiegertochter, und seinen liliendünnen Lippen
entschlüpfte ein besonders liebenswürdiges Kompliment. Kräftig stieß er
dann mit Magnus an, und seine grauen, schlauen Blinzelaugen forschten
in dessen Miene: — »Nun, alter Junge?« rief er laut.
Zugleich erhielt Magnus von rückwärts einen Schlag auf die Schulter: —
»Prosit Brüderchen!«
Es war Gisberts schnarrendes Leutnantsorgan, und das feiste, von einem
unternehmenden Schnurrbart gezierte Gesicht des Lebemannes grinste ihn
an.
Warum that der Duckmäuser auf das erhobene Champagnerglas keinen
Bescheid? Magnus zuckte zusammen, sein Blick stierte wie gebannt nach
dem einen Gartenfenster hin.
Gegen die sonnige Helle des Gartens scharf abgezeichnet, stand dort ein
Dienstmann, einen Brief in der einen Hand haltend, während die andere
schirmartig über den Augen erhoben war; sein von der Eile echauffiertes
Gesicht weidete sich mit glotzender Neugierde an dem festlichen Gewirr
hier innen. Seine Erscheinung wirkte wie eine lächerliche Trivialität;
der Mann mochte irrtümlicherweise den Weg durch den Garten genommen
haben. Ein Diener sprang hinzu und winkte entrüstet dem Eindringling ab.
Magnus erblaßte, und eine eisige Blutwelle ließ ihm den Atem stocken:
— es ist die Todesnachricht!
»Was hast Du nur, Bruder?« rief Gisbert stutzend.
»Nichts — nichts! — es wird vorübergehen!«
Und mit einer konvulsivischen Anstrengung, die ihn sogar körperlich
zu schmerzen schien, zwang er seine verstörte Miene zu einem Lächeln.
Gellend stieß sein Glas gegen das des Bruders — »Prosit!« rief er
schrill.
Er wollte hinausstürzen in seinem Schmerz, um dem Dienstmann das
verhängnisvolle Billet zu entreißen, aber er fühlte sich wie gelähmt —
als wenn etwas hier innen zerbrochen wäre — mechanisch setzte er sich
mit den anderen wieder zu Tisch.
Gleich darauf reichte ihm Gisbert über die Schulter den Brief hin:
»Ei, ei, Brüderchen« — flüsterte der Lebemann — »eine Damenhand und
eilig!«
Auch das schien dieser eingefleischte Egoist dem andern nicht zu gönnen.
Magnus entriß dem Bruder den Brief, und seine bebende Hand barg ihn
uneröffnet in der Brusttasche — hatte er noch nicht den Mut dazu, das
Unselige hinzunehmen? Fürchtete er, sich nicht beherrschen zu können
und eine Scene hervorzurufen? Hinweg mit den schwarzen Schatten aus der
Festessonne ...
Abermals krampfte er all seine Willenskraft zusammen — später staunte
er darüber, wie er es fertig gebracht, das Lächeln auf sein Antlitz zu
bannen und seine Rolle als höfliche Gesellschaftspuppe weiterzuspielen,
während ihm der Brief mit der Todesnachricht auf der Brust brannte.
Endlich hob Frau Gisbert, die die Honneurs des Hauses machte, die Tafel
auf. Er riß den Brief auf — es war nicht die Todesnachricht — nur
begehrte die Sterbende ihn noch einmal zu sehen ...
Heimlich machte er sich auf — hielt auf der Straße eine
vorüberfahrende Droschke an und ließ sie nach Berlin hineinjagen, was
sie zu jagen vermochte.
* * * * *
Wohl eine Stunde hatte er in dem Dämmer der verhangenen Stube an dem
Krankenlager gesessen. Emmy hatte vorhin sein Kommen mit offenen, zum
Bewußtsein erwachten Augen begrüßt, jetzt hielt das Fieber wieder
ihre Sinne umschleiert. Ihre heiße, pochende Hand hatte in der seinen
geruht, ihre bebenden Lippen hatten sich bemüht, ihm ein paar Worte
zuzuflüstern, doch auch hierzu reichte die Kraft nicht mehr aus.
Anstatt der Worte schwoll in ihrem Auge eine Thräne und rollte langsam
über die von fliegender Glut gerötete Wange.
Sie weiß — es ist die Scheidestunde! — Sie hätte so gerne, ach
so gerne gelebt und geatmet in dem Sonnenschein seiner Liebe! Wenn
auch nur auf Monate, Wochen und Tage — solange das Schicksal ihr
den Sonnenschein gönnte. Aber nicht dem unsäglichen Weh dieser
Scheidestunde entquillt solche Thräne. Sie hatte in diesen Tagen
öfter nach dem Vater gefragt und bald verstand sie die ausweichenden
Antworten der Mutter, daß er vorhin, als sie schlief, dagewesen, daß
er dann und dann wiederkommen wollte; sie sah die Thränenspur auf den
verhärmten Wangen ihres Mütterleins — immer schwerer, immer schwüler
fühlte sie den Alp der väterlichen Ächtung auf sich lasten. Ihre
gestammelten Fieberworte gaben Zeugnis von dem Druck, unter dem ihre
Seele keuchte.
O, Magnus wußte jene Thräne sehr wohl zu deuten!
Während er dort brütend und vor sich niederstierend saß, begann ein
Trotz in ihm zu wachsen, grimmig und herausfordernd; er fühlte eine
zuckende Gier, aufzuspringen und die Lüge und Heuchelei zu zertrümmern,
unter der er ihre herrliche Liebe in seinem Kleinmut wie ein ungeheures
Verbrechen versteckt. Was für erbärmliche, feige Wichte sind wir doch,
wir von der sogenannten Gesellschaft, die wir das festgewurzelte Glück
unserer Herzen auf ein Gebot des sogenannten Herkommens herausreißen!
Ein gewaltiger Zorn gegen sich selbst ergriff ihn — wohlan, da nun
doch alles zusammenstürzt, so will er wenigstens Rache nehmen an dem
Phantom dieses Herkommens ...
Er stand auf und hatte mit Frau Köster eine Unterredung nebenan im
Salon, die diese brave Frau zuerst erschrecken machte, dann in einen
Thränenstrom ausbrechen ließ — er wehrte noch gerade, daß sie nicht
seine Hand, die sie umklammert hielt, an ihre Lippen drückte. Dann traf
er Anordnungen mit Schwester Jemima, und deren starre, schicksalsstumme
Augen schienen sich wie zu einem Erstaunen zu weiten, ein Affekt,
den sie sonst nicht kannte. Frau Gornemann aber, die ebenfalls um
ihren Beistand angegangen wurde, hatte Mühe, nicht mit einem Lachen
hell herauszuplatzen, trotz der Situation — und sie rauschte davon,
das Seidenhündchen zwischen ihren Rockfalten festhaltend, ganz außer
Fassung gesetzt über das Gehörte: zu welch entsetzlichen Verrücktheiten
die Liebe, die platonische zumal, einen jungen Mann hinreißen kann!
Totschießen und ins Wasser springen ist gar nichts dagegen!
Magnus machte sich eilig auf, denn es war keine Minute zu verlieren,
ehe der Tod sein Vorhaben zerschnitt. Er suchte einen früheren
Schulkameraden auf, der jetzt die Stelle eines Hilfspredigers an der
Neuen Kirche bekleidete.
»Gottlob, daß ich Dich treffe, Bruno!« rief er, in die stille
Studierstube des theologischen Strebers tretend.
»Was ist Dir, Magnus? Du bist so erregt —«
»Durchaus nicht! — ich komme, — um einen wichtigen Dienst von Dir zu
fordern!«
»Sehr gern — aber nimm doch Platz!«
»Es ist höchste Eile — bist Du bereit, mich zu verheiraten?«
»Sehr gern — aber ...«
Der junge Geistliche stutzte vor seinem eigenen schnell entschlossenen
Ja. Seine nüchterne Denkungsart hinderte nicht, daß die Erinnerung
von geheimen, auf einem Verbrechen basierenden oder auf ein solches
zielenden Heiraten ihn anflog.
»Kein aber! Entweder bist Du bereit oder nicht! Ich habe keine Zeit!
Meine Braut liegt im Sterben, und ich wünsche ...«
Hier versagte Magnus die Stimme.
Den Prediger erfaßte ein Mitleid — »Aber ich bitte Dich — was ist
denn geschehn? Setz’ Dich doch und erleichtere Dein Herz!«
»Ja oder nein! Halt’ mich nicht auf!« rief Magnus.
Aber er war dem Geistlichen, bevor dieser sich zu einer folgenschweren
Amtshandlung herbeiließ, doch wohl eine Erläuterung schuldig. Und er
erklärte in kurzen hastenden Worten die Lage.
Der Geistliche machte ein bedenkliches Gesicht — der Fall war ihm noch
nicht vorgekommen.
»Ich bitte Dich, ich beschwöre Dich, Bruno! Es muß sein! Sie soll nicht
mit dieser Schande belastet zu Grabe getragen werden! Der Makel soll
nicht an ihrem Namen haften über das Grab hinaus!«
Der Geistliche hatte in Magnus’ Elternhaus verkehrt, er ahnte die
Katastrophe und wagte darauf hinzuweisen.
Entrüstet wehrte Magnus. »Es ist alles gleichgültig! Eine Autorisation
meines Vaters sagst Du — ich bitte Dich — der Tod autorisiert mich!
— Du willst also nicht —?«
»Ich mache Dich darauf aufmerksam, daß diese improvisierte
Eheschließung meinerseits ja doch keine gesetzliche Gültigkeit haben
würde.«
Das klang mehr, als wollte der Prediger seine eigenen Zweifel damit
niederschlagen. Und ein anderer Zweifel fuhr darein: ob Magnus sich
wirklich zu dieser phantastisch zu nennenden Extravaganz entschlossen
haben würde, wenn der Tod nicht endgültig seine Autorisation gegeben.
Doch der Beruf des Seelenretters erwachte in ihm, und er redete sich
ein, daß er sich dieser an ihn herantretenden Pflicht nicht entziehen
dürfte.
Gut, er wollte in einer Stunde zur Stelle sein, unter dem Vorbehalt,
daß »später« die nötige Formalität nachgeholt würde.
Magnus eilte zum Juwelier und erstand die Trauringe. Dann hetzte er
nach der Treskowstraße, fand Herrn Köster aber erst am zweiten Orte.
Der Mann geriet außer sich vor Überraschung. Gleich aber war der alte
unausrottbare Dünkel wieder da:
»Ich habe das auch nicht anders von Ihnen erwartet, Herr Joël!« rief
er, diesen mit seinen fanatischen Augen anblitzend. —
Eine Stunde darauf fand die seltsame und in ihrer Seltsamkeit so
ergreifende Feierlichkeit statt.
Schwester Jemima hatte einen Altar mit einem Kruzifix und einigen
brennenden Kandelabern gerüstet. Dies konnte an eine andere — später
vorzunehmende noch viel ernstere Feier, die dieser ersten folgen würde,
gemahnen.
Als Trau-Zeugen waren zugegen die Eltern, Schwester Jemima und die
Wirtin. Die Amtshandlung des Predigers fand in einem vorsichtigen
Flüsterton statt, den die Stille des Sterbezimmers gebot — einige
kurze einleitende Worte — einige inbrünstig hingehauchte Gebete, die
der gewaltigen Tragik der Stunde entsprachen. Seine Stimme bebte —
auch ihn meisterte die Rührung.
Die Braut schien nicht bei Bewußtsein zu sein — ein paarmal ging ein
Aufhorchen über ihre Züge — die Wirklichkeit mochte sich ihr in einem
Traume verdämmern.
Nun richtete der Prediger die rituellen Fragen an sie: — ob sie
gewillt sei, dem Geliebten auf Tod und Leben die Hand zu reichen.
Da zuckte ein so seltsam ungläubiges Lächeln um ihre vom Fieberodem
geöffneten Lippen — langsam hob sie die Wimpern und starrte den Frager
ungläubig angstvoll an: was will man denn? — was kommt man denn, mir
solch ein Trugbild vorzugaukeln in dieser Stunde? — warum läßt man
mich denn nicht in Ruhe sterben?
Nun fühlte sie, wie etwas Kaltes, Metallisches sich über einen Finger
ihrer rechten Hand streifte. Dann wurde diese Hand von einer andern
ergriffen, und sie fühlte wieder etwas Heißes darauf glühen — den
Brand von leidenschaftlichen Küssen, die zwei Lippen darauf preßten.
Magnus war in die Kniee niedergestürzt, ihre Hand, die den Trauring
trug, wie verzweifelt umklammernd.
Der Prediger hielt seine beiden Arme segnend über dem Paare
ausgebreitet, und seine bebende Stimme flüsterte: »Der Herr segne Euch
und behüte Euch — der Herr hebe sein Angesicht auf Euch —«
Da ward sein Flüstern durch Magnus’ hervorbrechendes Schluchzen
unterbrochen: — »Nein, Du darfst nicht! Du darfst nicht gehen — mein
Weib! — mein liebes, liebes Weib ...«
Gewaltsam mußten sie den halb Sinnlosen von dem Bette entfernen. —
* * * * *
Magnus stand am anderen Morgen im Kabinet seines Vaters.
»Du hast mich rufen lassen, Vater?«
Der alte Herr saß vor dem einfachen, mit grünem Leder bezogenen
Schreibpult, die Unterarme auf die Platte gelegt, und hielt ein
Schriftstück, das er dem Haufen von Vorlagstücken entnommen, seiner
weitsichtigen Augen wegen, mit den Händen abgestreckt.
Auf diese Meldung des Sohnes nickte er nur unmerklich mit dem Kopf,
legte das Schriftstück hin und nahm ein anderes. Dann nach einer Pause,
wie auf das Papier einredend, sagte er:
»Ich dächte, Du hättest Dich zu entschuldigen — Du wärest uns eine
Erklärung schuldig —«
Magnus schwieg.
Ein drittes Schriftstück und: »Was soll das heißen, daß Du Dich an
einem solchen Tage auf französisch drückst? Ich möchte mir doch sehr
ausbitten! — wo hast Du denn die Manieren her?«
Das Schriftstück zitterte ein wenig in den Händen.
Magnus griff zu der für die Situation so banalen Trivialität einer
Notlüge:
»Ich leide in letzter Zeit an Schwindelanfällen —« Und die Worte
erstickten ihm fast im Hals. Teufel! was für ein Rückfall in die alte
Feigheit!
Der Kopf des Vaters wandte sich langsam herum, und die grauen schlauen
Blinzelaugen unter den silberschimmernden Büschen der Brauen glitten
prüfend kurz über Magnus’ Gestalt.
»Du siehst in der That in letzter Zeit nicht ganz gut aus. Du machst
Dir zu wenig Bewegung. Ich wünschte, daß Du Deine Ritte am frühen
Morgen wieder aufnähmest.«
Magnus errötete.
»Du hättest Dich wenigstens gestern Deiner Desertion wegen
entschuldigen können,« fuhr jener fort, abermals in die Papiere
hinein. »Nun, es ist aber jetzt egal — wir haben Dich hoffentlich
herausgerissen: das Telephon rief Dich also nach Berlin ins Geschäft,
verstehst Du?«
Die Stimme des alten Joël klang ungewöhnlich weich: es war nicht des
Vorwurfs wegen, daß er seinen Jüngsten hatte rufen lassen; es war etwas
anderes im Werk.
Eine Pause, die nur das dumpf surrende Geräusch der den Elevator
treibenden Dampfmaschine, die den Elevator trieb, ausfüllte; die
Gegenstände, die Luft hier in dem kleinen, mit dunkler Ledertapete
bekleideten Kabinet, schienen zu beben von diesem Surren.
»Bitte, bleib’ einen Moment!« knurrte der Alte — »=à propos=, ist
die neue Sendung aus Neuschatel schon ausgepackt? — wie ist sie
ausgefallen?«
»Man ist eben daran, sie auszupacken.«
Ein Nicken und: »Bitte, klingle Sierling!«
Magnus drückte dreimal auf den Elfenbeinknopf neben der mit mattem Glas
versehenen Thür.
Wieder eine Pause, bis der Buchhalter erschien, einen Pack erledigter
Papiere in Empfang nahm und in seiner aalglatten Art wieder durch die
Thür hinaushuschte.
»Setze Dich — ich habe mit Dir zu reden, Magnus.«
Herr Joël =senior= rieb die flachen Hände übereinander und machte dann
damit die Gebärde des Waschens — eine offenbare Verlegenheit, wie er
seine Rede zu inscenieren hätte. Ungeduldig wiederholte er: »Aber, ich
sage Dir ja, Du sollst Platz nehmen!«
Magnus gehorchte und setzte sich auf einen der Lederpolster, seitab des
Pultes, vor dem Fenster.
Der Alte lehnte sich mit dem Kopf gegen die hohe geradaufragende
Rückwand des altertümlichen Holzsessels und visierte mit den Augen
einen der wetterprophetischen Apparate an, welche über dem Pulte hingen.
»Du weißt — das heißt, Du müßtest wissen, worum es sich handelt,«
begann er. »Du wirst gestern deutlich genug gemerkt haben, was unser
aller sehnlichster Wunsch ist. Und wie ich voraussetze, hast Du nichts
dawider. Fräulein Helmons ist hübsch, sogar schön, man kann nicht
liebenswürdiger sein, als sie ist. Auf die anderen Vorteile einer
solchen Wahl brauche ich Dich nicht erst aufmerksam zu machen. Der Name
Helmons spricht für sich, er wiegt die Sturz mindestens auf. Du stehst
hinter Deinem Bruder keinenfalls zurück. Die Verbindung würde einen
Glücksfall für das Haus Joël bedeuten —«
Er hielt inne und visierte nur um so schärfer auf das Barometer hin.
Abermals rieb er die flachen Hände übereinander — es sah fast aus wie
ein Ausdruck der Freude über den eintreffenden Glücksfall.
»Die Sache ist sehr einfach —« hob er wieder an, »ich schrieb an den
alten Helmons und fragte unter der Blume an. Seine Antwort konnte nicht
deutlicher sein. Es hängt nur an Dir ...«
Die Helle des Fensters verdunkelte sich — Magnus’ starke Gestalt hatte
sich langsam erhoben. Mit einem stutzenden »Nun?« wandte jener den
Kopf nach dem Sohne hin.
Magnus streckte die Hände wie hülfesuchend nach dem Alten aus:
»Verzeih’, Vater! — ich bitte Dich um Verzeihung!«
»Was? Nun?«
Der silberhaarige Kopf erhob sich von der Rückwand des Sessels, und die
Hände griffen nach den Seitenlehnen.
»Ich kann nicht, Vater — ich darf nicht —«
Mit einem Ausdruck des staunenden Zornes blitzten ihn die grauen Augen
an. Was? Er wird doch nicht sein Herz als Hindernis vorschieben? Er
wäre Idealitätstölpel genug!
»Weshalb nicht?« donnerte Herr Joël senior.
»Ich bin nicht frei —!«
»Unsinn! Blödsinn! Was soll das heißen?!«
Magnus gewann seine Festigkeit wieder. Was er gethan, das wird er
auch verantworten! — »Vater —« sagte er, und seine Stimme wankte
nicht mehr — »Vater, ich weiß, was ich Euch angethan — aber es ist
geschehen! — Ich bin nicht frei, ich bin — verheiratet!«
Das glattrasierte Antlitz des Alten verzerrte sich zu einem starren
Entsetzen. Seine Hände griffen zitternd und hülflos tastend über die
beiden Armlehnen.
»Lieber Vater — verzeih’ mir — ich konnte nicht anders! — Es war
eine Ehrensache — die Betreffende war kompromittiert — sie liegt im
Sterben — vielleicht ist sie schon tot — das ~Mitleid~ überwältigte
mich — ich konnte nicht anders —«
Gleich schämte er sich des Wortes, das hier so häßlich klang. Aber das
allein schien sein phantastisches Vorgehen entschuldigen zu können.
»Wer? — Was?« kam es stotternd, nach Luft schnappend über die Lippen
des Alten.
»Ich darf Dir nichts verhehlen, Vater! — Hier die ganze Wahrheit!«
Und er erzählte in kurzen Sätzen, wie verhängsnisvoll ihm der Zufall
gespielt, nannte Namen und ehemalige Beschäftigung seines nunmehrigen
Weibes.
»Nicht möglich! Undenkbar! Du phantasierst!« kreischte der alte Joël,
und der Versuch eines stummen höhnischen Lachens umgrinste seinen Mund.
Doch der Blick des stieren Entsetzens gewann wieder die Oberhand über
dieses Lachen.
Magnus ergriff ein Mitleid. Er flehte den Alten an, ruhig zu sein.
Er fürchtete wirklich, daß die Nachricht, die den Stolz des alten
Kaufmanns so niederschmetternd getroffen, ihn auch körperlich zu Boden
schlüge.
»Vater, ich bitte Dich! — nimm Dir es nicht so zu Herzen! — ich sagte
Dir, die Dame hat keine Hoffnung aufzukommen — sie liegt im Sterben —«
Es graute ihm vor dem fürchterlichen Trost, den er da vorbrachte.
Und noch mehr graute es ihm zu sehen, wie der alte eingefleischte
Egoist sich an diesen Trost klammerte, wie er nun, da ihn das lähmende
Entsetzen verlassen, sich sogar nach den näheren Umständen, nach dem
Ausspruch des Arztes erkundigte.
Und der schlaue Ausdruck kehrte allmählich wieder in die grauen Augen
zurück: »Magnus ist ein Dummkopf — er ist reif für das Narrenhaus —
aber — aber sie liegt im Sterben, gottlob!« schien dieser Ausdruck zu
sagen.
* * * * *
Als Sanitätsrat Herz am Nachmittag desselben Tages erschien, fand
er die Kranke in einem tiefen Schlaf, der schon seit dem Morgen
angedauert. Doch nicht die Betäubung des immer matter glimmenden Lebens
— ruhig und regelmäßig schwollen die Atemzüge, und der Puls begann
stetiger, ja mit scheinbar erwachender Kraft zu schlagen.
Der alte Arzt konnte ein freudiges Stutzen nicht unterdrücken. Doch
es wäre ein Verbrechen gewesen, die anderen, die jeden Zug seines
Gesichtes belauerten, mit einer vorzeitigen Hoffnung aufzurichten. Und
er stellte sofort die dem schweren Fall entsprechende Miene wieder ein.
Spät am Abend kam er abermals. Die Atemzüge fluteten noch tiefer und
kräftiger. Und er atmete selbst auf vor Freude, als er den Puls prüfte.
»Wenn es diese Nacht mit dem Schlaf so anhält, so könnten wir gewonnen
haben! — Seltsam — wider alle Erwartung!« — murmelte er vor sich
hin. »Aber wir müssen trotzdem gefaßt sein!«
Und da saßen sie nun in der Nacht und horchten auf das Fluten des
Atems. Da saß ein Mütterlein und horchte begierig, als wäre jeder der
Töne eine Kostbarkeit; wie entrüstet fuhr sie ein paarmal aus dem
Anfang des Schlummers, der ihre ermüdeten Sinne umdämmern wollte — wie
entrüstet huschte sie ans Fenster, als müßte sie ein lauter werdendes
Geräusch, das verhängnisvoll zu werden drohte, hinwegscheuchen. Da
saß ein junger Gatte und ließ den Sturm seiner Gedanken immer wieder
einwiegen durch den Klang des einen Wortes —: Rettung! Hier am Rande
der Todesnot ziemt es nicht an anderes zu denken! — Selbst Frau
Gornemann kam einmal in der Nacht hereingeraschelt, um Nachricht
einzuholen. Das Außergewöhnliche dieses Menschenschicksals schien ihr
allmählich doch einigen Respekt einzuflößen. Und die Neugier begann sie
zu stacheln: Was dann? Sie sind verheiratet und sind es auch nicht!
Der Idealist hat sich, ohne eigentlich dazu gezwungen worden zu sein,
in diese »Heirat« gestürzt (man muß es einstweilen so nennen!) Jetzt
aber wird das Erwachen kommen! Er wird die Übereilung gewahr werden und
dann?
Am nächsten Morgen nach der Konsultation zog der Sanitätsrat Magnus bei
der Hand in die Fensternische: »Es ist ein Wunder geschehen —« sagte
er, und zögernd fügte er bei — »ich gratuliere!«
Der alte Herr war sich nicht ganz klar darüber, ob dieses das richtige
Wort wäre.
Eine Glut schoß Magnus zu Kopf, und er stieß ein »Ah!« aus, das die
große Freude über die unverhoffte Rettung bedeuten konnte. Gleich
erblaßte er wieder. »Wie danke ich Ihnen, Herr Sanitätsrat!« rief
er, sich fassend, mit fester Stimme, dem Arzte überkräftig die Hand
schüttelnd.
War es ein Anfall des erbärmlichen Kleinmuts, der ihn zuerst
überrumpelt? Teufel — er hat seinen Schritt doch nicht gethan in der
sicheren Aussicht, daß sie sterben würde? Der Akt einer trivialen
Großmut? Und nun, da ein gnädiges Geschick sie vom Tode errettet —
beschleicht ihn ein Gefühl der Reue?
»Weg damit! Sie ist mein Weib — sie ist meine Welt — und ich werde
sie gegen die andere Welt zu behaupten wissen!« —
Emmys Genesung dauerte nach der Krise fort. Zwar war die Kranke noch
sehr schwach und jede Aufregung konnte verhängnisvoll werden. Von der
Bedeutung der Ceremonie schien sie keine bestimmte Vorstellung zu
haben, sie hatte dergleichen wohl nur geträumt. Und es war auch noch
nicht die Zeit, sie in die freudige Wirklichkeit einzuweihen. Einmal
fiel ihr Blick auf den goldenen Reif an ihrer Hand. Eine kurze Weile
starrte sie ihn an, dann überrieselte es sie wie ein Schreck, und sie
schloß die Augen, um den Traum, in dem ein solcher Ring eine Rolle
spielen konnte, weiter zu träumen. Als sie schlief, streifte man ihr
behutsam den Ring vom Finger, damit sein Anblick nicht noch schlimmeren
Schaden anrichtete.
Magnus war mehrere Tage nicht im Geschäft erschienen. Jetzt galt
es, abermals vor den Vater hinzutreten und ihm Aufschluß über die
veränderte Lage zu geben. Er fand den Alten in seinem Bureau nicht vor:
der Chef sei mehrere Tage nicht erschienen, er sei unpäßlich.
Magnus erschrak — so gewaltig hat ihn also die Nachricht gepackt? —
ihn, den nicht leicht ein körperliches Gebrechen von dem lederbezogenen
Pult zu scheuchen vermochte. Er eilte nach Charlottenburg.
Die beiden »eisernen Schwestern« waren eben im Begriff, das Parterre zu
verlassen, sie begegneten Magnus im Vorsaal. Frau Gisbert empfing ihn
mit einer ironisch ceremoniösen Verbeugung, die Baronin Kehren trug ein
verächtliches Mitleid zur Schau.
»Was fehlt Papa denn —?« fragte er besorgt.
Frau Gisbert zuckte ihre kräftigen Schultern: »Ja, ich bitte Sie
— sagen ~Sie~ uns doch, was ihm fehlt! — Der Arzt und wir alle
werden nicht klug daraus — vollkommen frisch und wohl und doch dabei
Phantasieren — ohne eine Spur von Fieber!«
»Wir sind sehr besorgt« — fiel die Baronin mit ihrem leicht singenden
Näseln ein, während sie vor dem Spiegel an ihrem Schleier ordnete,
Magnus abgekehrt, »er phantasiert von einer Heirat — er behauptet —
denken Sie doch — er behauptet ...«
Ein Kichern erstickte ihre Stimme.
»Ja, er behauptet« — ergänzte Frau Gisberts Alt — »er behauptet — es
hätte Jemand namens Joël sich mit — einem Ladenfräulein verheiratet.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte —?« näselte es vom Spiegel
her.
»Wir haben Papa für krank erklärt und bestehen darauf, daß er sich
nicht neuen Aufregungen dort im Geschäft aussetzt. — Wir sind sehr
besorgt, wenn Sie mit ihm reden — so thun Sie ja nicht, als hielten
Sie das allerliebste Märchen für eine Phantasie — das verschlimmert
nur seinen Zustand — — Bist Du endlich fertig mit Deinem Schleier,
Lyda?«
Und die beiden Schwestern rauschten davon, Magnus mit dem vollen Hohn
ihrer Blicke und ihres Lächelns überschüttend. —
Er trat bei dem Vater ein; der alte Mann saß in einem Rohrstuhl, gegen
seine Gewohnheit bequem zurückgelehnt, und ließ bei seinem Kommen die
Zeitung sinken. Zu seinen Füßen erhob sich eine prächtige Bulldogge
— knurrend, ja, mit offenbar feindlichen Blicken — was fällt denn
der Bestie ein? Kennt sie Magnus nicht mehr? Ja, sie will nichts mehr
wissen von ihm — jetzt!
Der alte Herr Joël war offenbar durch die Heirat seines Sohnes etwas
zusammengerüttelt worden, und es schien allerlei in ihm ins Wanken
geraten. Ein fast elegischer Hauch umflorte seine sonst so glitzernden
Augen, seine Stimme klang auffallend weich.
»Du bist es, Magnus!«
Und ein leises Zucken der Überraschung huschte um die gekniffenen
Lippen.
»Wie geht Dir’s, Vater — ich bin erschreckt, zu hören, daß Du nicht
wohl —«
Der Alte ließ in seiner Art die stürmisch dargereichte Hand nach der
flüchtigsten Berührung sofort abgleiten. Seine Augen forschten begierig
in Magnus Miene.
»Nun?« ächzte er.
Ist er erschienen, um seinem alten Vater Erlösung zu bringen von dem
entsetzlichen Alp dieser Heirat? — Ist das eingetroffen, was Magnus
ihm vor Tagen als einen Trost hinwarf? Ist das unselige — lächerliche
— unbegreifliche Bündnis endlich durch den Tod zerrissen? — Das alles
lag in dem »Nun«.
»Vater, ich bin gekommen, um ein ernstes Wort mit Dir zu reden —«
begann Magnus beklommen. »Ich bitte Dich um Verzeihung für mich und
mein Weib — was geschehen ist, ist geschehen —«
»Wieso?«
Der Alte fuhr empor und riß die Augen weit auf.
»Sie lebt?« — das war die eigentliche Bedeutung des Wortes »Wieso«.
»Als ich Dir neulich mein Geheimnis beichtete, Vater, da geschah es in
der sicheren Erwartung des Todes. Der Arzt hatte die Kranke aufgegeben,
es war keine Rettung zu hoffen. Die Rettung ist dennoch eingetreten —
sie lebt und wird gesunden — ich komme, um Deinen Segen zu erflehen
...«
Das letzte hauchte kaum hörbar über Magnus Lippen.
Die Zeitung knitterte unter den konvulsivisch greifenden Händen des
Alten: »Du willst damit doch nicht sagen ...?« zischelte er.
»Daß ich gesonnen bin, als ein Ehrenmann zu handeln, Vater!«
Magnus richtete den Kopf, den er bis jetzt zu Boden gesenkt, mit einem
Anflug des Trotzes empor.
»Geschehen ist geschehen! Es ist nichts daran zu ändern! Doch Du und
die anderen sollt nicht denken, daß ich das, was ich gethan, bereue ...«
»Du bist wahnsinnig — Du bist toll!« kreischte der Alte. »Du hast
ja selbst gesagt, daß Du Dich von einem »Mitleid« hast hinreißen
lassen. Du thatest es, weil Du wußtest und erwartetest, daß der Tod
Deine Dummheit wieder gut machen würde. Ein andermal verbitte ich mir
dergleichen Experimente!«
Magnus fühlte hier in dem Innern seiner Brust eine gewisse häßliche
Stelle, auf die der Vater mit dem Finger hinwies. Und es war mehr eine
Empörung gegen sich selbst, die ihn aufbrausen hieß.
»Mag sein, daß ich voreilig gehandelt! Um ihretwegen bereue ich nichts!
Ich liebe sie, wie ich kein anderes Wesen lieben könnte — ich hoffe,
mit ihr das Glück meines Lebens zu gründen!«
»Ho — ho — ho —« höhnte der Alte. »Wie hübsch Du Luftschlösser
baust! Wir anderen Joëls haben aber auch noch ein Wörtchen mitzureden,
denke ich! So einfach kapert man einen Joël doch nicht!«
»Vater, ich darf Dich bitten, nicht an ~sie~ zu rühren! Sie weiß nicht
einmal, daß die Ceremonie stattgefunden. Damals befand sie sich in
einem Zustand, in dem sie kaum ahnte, was geschah. Und wir haben noch
nicht gewagt, sie zu verständigen, weil sie noch so hinfällig ist. Der
Entschluß geschah aus meinem eigensten Willen.«
Ein unheimlich lustiges Grinsen verzerrte die Züge des alten Mannes.
Ein paar heisere Lachtöne, die wie ein krampfhaftes Hüsteln klangen,
dann gurgelte er die Worte hervor —: »Hör’ mal, das ist ja toll und
verrückt! — Das ist ja hirnverbrannt! Du bist — Du bist ... ich
werde Dich ärztlich untersuchen lassen! — Sie weiß nicht, daß Du sie
geheiratet — vielleicht gar wider ihren Willen ist es geschehen — und
da bestehst Du noch auf der Komödie! Es ist wahrhaftig das Lustigste,
das ich je erlebt — hahaha —«
Und mit wütendem Klopfen bearbeitete er den feisten Rücken der
Bulldogge, die Worte im Takt begleitend. Das Tier knurrte zwischen den
fletschenden Zähnen.
»Vater ...«
Magnus streckte beide Hände nach dem Alten aus, und seine Augen flehten
ihn an.
»Vater — ich kann nicht anders — höre mich —«
»Was? Du wirst aufsässig!«
Das galt dem Hunde, der immer bedenklicher knurrte und eine Miene zum
Losfahren machte. Jemand, der nur die Worte gehört, konnte sie auf
Magnus gerichtet wähnen.
»Was, auch Du parierst mir nicht mehr?! Warte, Bestie!«
Und er nahm das Tier bei dem messingbeschlagenen Halsriemen und
schleuderte es fort, daß sein praller Körper auf dem glatten Parquet
dahinrutschte. Sein heulendes Gekläff gellte durch den Raum.
Der alte Mann war so wütend, er erhob sich und trat unsicheren
Schrittes auf die eine Wand zu, wo unter Jagdutensilien eine kurze
Knebelpeitsche hing. Während er sie herabnahm, sandte er seinem Sohne
einen Blick von unheimlicher Bedeutsamkeit zu. Die Peitsche in der Hand
wippend, sagte er, mit erzwungener Eiseskühle: »Geh’ jetzt — es ist
besser, Du gehst — hörst Du —«
Und mit den Blicken seiner zornblitzenden Augen wies er seinem Sohn
die Thüre. Dieser hörte, als er durch den Garten fortstürmte, das
ohrenzerreißende Geheul der Dogge, die von ihrem Herrn gezüchtigt wurde.
* * * * *
Vielleicht hätte der alte Joël sich von der Zeit, der erfolgreichen
Heilkünstlerin, in die Kur nehmen lassen — vielleicht hätte er sich in
das Unvermeidliche gefunden. Aber die Verschworenen duldeten das nicht,
sie konnten und durften Magnus diese Durchkreuzung ihres Komplotts
nicht verzeihen. So ward die Mesalliance zu einem ungeheuerlichen
Verbrechen gebrandmarkt, für das es kein Verzeihen giebt. Man erpreßte
dem Alten ein Ultimatum, mit dessen Übermittelung Gisbert beauftragt
wurde.
Dieser fand sich zu einer ungewöhnlich frühen Morgenstunde, was wohl
von nicht geringer Energie zeugte, in dem Hotelzimmer seines Bruders
ein, den er beim Ankleiden fand.
»’n Tag, alter Junge!«
Er wollte es mit dem burschikosen Ton versuchen. Doch das knappe
Nicken des Gegengrußes von seiten des anderen dämpfte sofort diesen Ton.
Die Aufgabe war nicht so leicht, als Gisbert sie sich gedacht, wenn man
nicht das Messer einfach herausnehmen und brutal darauf losschneiden
wollte.
»Du wohnst nicht gerade sehr komfortabel —« begann er abermals, sich
in dem nach der trivialen Hotelschablone ausgestatteten Raume umsehend.
»Gestattest Du, daß ich mir eine Cigarre anzünde?«
Magnus stieß ein kurzes »Bitte!« aus, und Gisbert griff nach der Schale
auf dem Tische.
»Wenn es nicht anders war, so hätte ich mich doch im Kaiserhof
einlogiert, meinst Du nicht?« Dazu biß Gisbert mit den Schneidezähnen
die Spitze der Cigarre ab.
Magnus zuckte die breiten Schultern und legte die Haarbürste mit
einem deutlichen Unwillen auf die Marmorplatte vor dem mit einem ganz
gewöhnlichen Goldleisten eingerahmten Spiegel.
Das reizte Gisbert. Er will es nicht anders! — Gut, so zieht man das
Messer heraus und schneidet los!
»Ich meine, Du hättest die Dehors wahren können! Ich meine, Du wärst
es unserem Namen schuldig gewesen, Dich nicht gerade in ein Hotel
sechzehnten Ranges zu verkriechen! Das ist ja schon mehr eine Herberge!«
»Möglich, daß, wenn ich auf die Ehre Deines Besuches gerechnet hätte,
ich vielleicht eine andere Herberge aufgesucht —« höhnte Magnus. Das
war sonst nicht seine Art.
Und sich herumwendend, Gisbert mit scharfen Augen herausfordernd: »Du
kommst, um mit mir ~darüber~ zu reden —«
»Allerdings. Ich bin von der Familie Joël abgesandt. Du hast eine
Dummheit begangen —«
Eine Pause, in der das schlimme Wort nachzuhallen schien. Die Gesichter
der beiden Brüder flammten, und ihre Blicke maßen sich feindlich.
»Eine entsetzliche Dummheit — es ist das einzige Wort!« rief Gisbert.
»Ich verbitte mir das hier in meinem Zimmer! Ich verbitte mir jede
Kritik!«
Gisbert bezwang sich — auch das war nicht der richtige Ton. Und er
versuchte es mit der eiseskühlen Gemessenheit. Die Worte langsam
hervordehnend, versetzte er jenem den Wortlaut des Ultimatums:
»Deine sogenannte Heirat hat weder vom bürgerlichen, noch, wie wir
informiert sind, vom kirchlichen Standpunkt eine Gültigkeit. Sie ist
ein Hohn auf das Gesetz. Wir ersuchen Dich also, der Komödie eine Folge
zu geben, widrigenfalls —«
Magnus hob trotzig das Haupt. — »Nun?«
»Widrigenfalls wir Dich nicht mehr als den unsrigen betrachten können
— Du hast Dir alle Folgen, auch die schlimmsten, selbst zuzuschreiben«.
»Du lügst!« schrie Magnus zornig auf. »Ich kenne Dich! Das ist nicht
der Auftrag meines Vaters!«
Gisbert zog die Schultern langsam in die Höhe und senkte sie wieder
ebenso; noch kühler, mit einer unheimlichen Höflichkeit im Ton,
sagte er: »Leider habe ich sogar den Auftrag, Dir jede Gelegenheit
zu entziehen, um Dich von dem Grund Deiner soeben ausgesprochenen
Anschuldigung zu überzeugen. Papa wünscht Dich nicht mehr zu sehen.
Du hast Dich zu entscheiden, so oder so! — Übrigens soll Dir Dein
Entschluß nicht zu schwer gemacht werden. Wir sind bereit, das
notwendige Reugeld zu erlegen. Glaube nur — (und er fiel in den ersten
burschikosen Ton) man beißt schon an, wenn wir den Köder appetitlich
genug auswerfen. Mit einer nicht zu unbescheidenen Summe kaufen wir
Dich aus Deiner Verlegenheit. Denn Du wirst mir doch nicht weiß machen
wollen, daß Du Dich behaglich fühlst — he?«
Magnus wehrte mit einem unwilligen Wink des Kopfes ab. Dann stand er,
mit finster gerunzelten Brauen vor sich hinstarrend da, die Knöchel der
Hände auf den Tisch gestemmt.
Sonderbar, daß jetzt zum erstenmal die Frage vor ihn trat: wird sie
denn in das Opfer einwilligen, sobald sie davon erfährt? O, er kennt
sie, sie wird nicht schuld sein wollen, daß er, der Joël einer, zum
Bettler gemacht wird! Das wird sich finden. Es muß Zeit gewonnen
werden, bis sie so kräftig ist, daß man sie vor den Entschluß stellen
darf. Was dann, wenn sie sich in ihrer angeborenen Energie weigert? —
Ach, das kümmert ja heute noch nicht!
»Ich verlange einen Aufschub —« sagte er kleinlaut, Gisberts Blick
ausweichend — »ich kann mich heute noch nicht entschließen — nicht
daß ich selber wankend wäre — ich weiß, was ich zu thun habe — aber
es hat noch jemand ein Wort mitzureden —«
Gisbert war erstaunt über diese unerwartete Wirkung seiner Mission. Er
fürchtete wieder alles zu verderben, wenn er noch weiter drängte.
»=Bon!=« rief er, »das läßt sich hören! Es freut mich, daß Du doch mit
Dir reden läßt! Wie ist die Adresse dieses Herrn Koster — Köster nicht
wahr?«
Es wäre unsinnig gewesen, die Adresse nicht zu sagen, die ja doch auf
andere Weise gefunden werden konnte.
»Treskowstraße 22=a=«, murmelte Magnus dumpf. »Aber ich protestiere
gegen diese Ungeheuerlichkeit! Zum Teufel mit Eurem verdammten Gold!«
Und vor dem neuen Zornesausbruche seines Bruders flüchtete Gisbert, um
in der Treskowstraße seinen Köder auszuwerfen.
* * * * *
Herr Köster erschien in voller sprühender Entrüstung — kaum, daß er
seine Tochter begrüßte. Er nahm Magnus in eine Ecke des Salons und fuhr
ihn in seiner zuschnappenden Weise an:
»Sie treiben ein doppeltes Spiel, Herr! Sie machen uns eine Komödie vor
— haben Sie doch den Mut, die Larve herabzureißen!«
»Wieso? Was ist denn?«
»Sie wagen es, uns Geld zu bieten, wenn wir von der Ehe abstehen!
— Herr, ich verbitte mir solche Zumutung! — es ist eine unerhörte
Beleidigung!«
»Ich ...?«
»Natürlich Sie! Ihr Bruder war soeben bei mir und hatte die
Unverschämtheit, mir den Handel zu offerieren. Die ganze Ehe hätte
nicht für einen Sechser Gültigkeit! Trotzdem bot er mir dreißigtausend,
wenn wir abständen — er bot vierzigtausend — fünfzigtausend — ehe er
an die sechzigtausend gelangt war, warf ich ihn zur Thür hinaus —«
Und Herr Köster blähte sich auf, wie es einem Manne zukommt, der
sechzigtausend mir nichts dir nichts zur Thür hinauszuwerfen imstande
ist. Magnus konnte einen Anflug des Lächelns, der heiklen Situation zum
Trotz, nicht unterdrücken. Doch die fanatisch blitzenden Schwarzaugen
ließen das Lächeln sofort verschwinden.
»Was machen Sie ~mir~ denn einen Vorwurf? — ich finde den
Bestechungsversuch ebenso empörend wie Sie —« fiel Magnus ein.
»Die Offerte geschah im Auftrag der Familie Joël — Sie hätten Ihre
Zustimmung gegeben, sagte Ihr Handelsmann —«
»Es ist nicht wahr! Ich gab die Adresse Ihrer Wohnung, weiter nichts!
Ich habe noch keinen Moment bereut! Was geschehn ist, bleibt geschehn!
Ich liebe Emmy — bei Gott, ich liebe sie! Ich werde sie auf den
Händen tragen! Nur ein Zweifel plagt mich jetzt: wie wird sie selbst
diese Heirat aufnehmen? Sie weiß bis jetzt nichts. Sie besitzt einen
gewaltigen Stolz, und ich fürchte ...«
»Sie ist die Tochter ihres Vaters!« sprühte Herr Köster in neuer
Entrüstung. — »Zum Donnerwetter, ist denn ihre Ehre nicht mehr wert
als Sechzigtausend? — wiegt denn unser Name nicht den guten Namen
eines Joël auf? Es thut mir leid, wenn Sie dadurch zum Bettler werden
— es thut mir herzlich leid — aber nicht mit den Millionen eines
Bleichröder lassen wir Köster uns unsere Ehre abkaufen!«
Es war der Dünkel in seiner schönsten Blüte. Aber Magnus konnte sich
eines Gefühls der Achtung nicht erwehren die er vor dem sich unter
diesem Bramarbas verbergenden Charakter zu empfinden begann. Und ein
Zweifel überkam ihn, ob das Geld dennoch die erste Macht in der Welt
bedeute. —
Emmys Genesung machte in diesen Tagen gute Fortschritte. Einmal, an
einem Nachmittag, empfing ihn Frau Köster in großer Erregung.
»Doch nicht wieder schlimmer?« rief er erschreckt.
Das ängstliche Gesichtchen der guten Dame verneinte — »aber es hätte
schlimm genug werden können —« berichtete sie aufgeregt, »denken Sie,
diese Frau Gornemann hat natürlich nicht an sich halten können — das
Geheimnis drückte sie zu sehr. Vorhin also brachte sie es fertig, Emmy
plötzlich mit »Frau Joël« zu titulieren. Das arme Kind fuhr zusammen.
Natürlich konnte Emmy sich den Titel von Seiten der Frau Gornemann
nicht anders als einen Spott erklären. Die Thränen traten ihr in die
Augen, sie begann sehr aufgeregt zu werden — da hielt ich es für das
Beste, ihr selbst das ganze Geheimnis zu verraten —«
Magnus stürzte in die Krankenstube: — »Emmy — meine liebe, liebe
Emmy!«
Die Kranke streckte die weißen bebenden Hände nach ihm aus, und ihre
großen vom Leiden vergrößerten Augen flehten ihn an. Alles andere ist
Trug und Traum! — nur sein Kommen bedeutet Wirklichkeit und Wahrheit!
Wie damals, während der Ceremonie, sank er neben ihrem Lager in die
Kniee und erfaßte ihre Hände.
»Willst Du mein sein — mein für immer?« flüsterte er innig.
»Verzeih’ mir — daß ich das vollführte, ohne Dich befragt zu haben!
Nun mußt Du Dich darein finden. Willst Du mein Weib sein, Emmy — ach,
Du bist es ja! — mein liebes, liebes, süßes Weib!«
Und er nahm ihr glühendes Köpfchen und legte es sanft an seine Wange.
Sie hielt die Lider geschlossen, ein rotes Dämmerlicht flutete
hindurch, und wie ein Glockenklang aus seliger Kinderzeit hallte das
Wort, das eben von seinen Lippen kam, durch ihre Sinne. Nichts als die
Seligkeit dieses einen Wortes!
Und ihn, der sie umschlungen hielt, schien das Wort wie mit einem
Zauberklang zu durchbeben — er fühlte Mut und Kraft in seiner Brust
schwellen und er gelobte sich, der ganzen Welt zum Trotz, sie auf
seinen Händen dahinzutragen durch das Leben.
* * * * *
Wenige Wochen darauf hatte sich das junge Paar, dessen Bund die
gesetzliche Gültigkeit erhalten, in seinem neuen Heim eingenistet.
Als Wohnort war Pankow mit seinem herrlichen Park und seiner würzigen
Landluft erwählt worden, in erster Rücksicht auf Emmys Genesung;
später, auch den Winter hindurch, hielt sie die Not an den billigen
Vorort gefesselt.
Sie bewohnten den Oberstock einer kleinen Villa in der Damerowstraße,
zwei Stuben, zwei Kammern mit schrägen Wänden, Balkon und Gartengenuß.
Magnus’ Mittel, die er aus dem Verkauf seiner Pretiosen, seiner
kostbaren Brillanten, seiner Uhr und einiger Kunstgegenstände flüssig
gemacht, hätten etwas Besseres als diese spießbürgerliche Einrichtung,
die von der ökonomischen Frau Köster besorgt worden war, möglich
gemacht, aber Emmy widersetzte sich jedem Luxus. So verharrten sie
in den Gewohnheiten ihres ersten kargen Liebeslebens: — ein stilles
verschwiegenes Nestchen, wo sie jeden Augenblick des Glückes der
diskreten Himmelslaune abzustehlen schienen.
Die junge Frau wagte sich dieses Glückes nur mit einem angstvollen
Beben zu freuen. Wie eine Betäubung war es über sie gekommen — sie
hatte damals auch körperlich nicht Kraft genug besessen, »Nein« zu
sagen, oder den Kampf mit ihrem eigenen Herzen aufzunehmen. Es war
alles ein Traum, die rätselhafte, geheimnisvolle Trauung, ihr beider
Beisammensein — auch der Alp fehlte nicht in diesem Traum: die
geheime Furcht vor einem Schicksal, das die so seltsam Geeinten wieder
auseinander reißen werde ...
Erst die Not rüttelte sie aus dem Traum zu vollem Erwachen.
Magnus hatte sie belogen und er betrog sie fort und fort. Er fürchtete
von ihrer energischen Art irgend einen unheilvollen Entschluß. So hatte
er die Verfehmung, die von den Joëls über ihn und seine Ehe verhängt
war, nur als eine vorübergehende Verstimmung hingestellt, welche
die Zeit schon heilen müßte; ja, er that so, als wäre er des Alten
sicher, der nur aus Furcht vor Gisbert und dessen tyrannischer Frau
den Bannstrahl hatte fallen lassen. Und er erzwang seiner Phantasie
allerlei Märchen, die das gutmütige und zum Verzeihen geneigte Herz
seines Vaters erweichen sollten.
Anfangs hatte er sich selbst belogen. Vor allem konnte er sich nicht
in den Gedanken finden, daß ein Joël genauere Bekanntschaft mit der
Not machen sollte. Immer wieder stutzte er erstaunt, wie schwer es
ihm hielt, eine Stellung zu finden und zu behaupten. Sein eigener
Name, dem er nun einmal Rücksicht schuldig war, und die Illusionen
seines sanguinischen Gemütes waren ihm fort und fort ein Hindernis.
Er war unpraktisch und kein tüchtiger Geschäftsmann, und es war kein
Comptoir so naiv, ihn auf den Namen Joël hin über seine Leistungen zu
honorieren. Seine Fertigkeiten als Buchhalter schienen nur auf die
Großfirma zugeschnitten. So wechselte er von Stelle zu Stelle, jedesmal
mit herabgeminderten Ansprüchen. Ein Unmut bemächtigte sich seiner:
sie haben einen neidischen Tick auf den Namen Joël, jetzt rächen sich
diese Kleinen wenigstens an dem Namen, da sie der Firma selbst nichts
anhaben können! Einmal glaubte er sich schlecht behandelt und verließ
die Stelle, ein andermal ward ihm seiner ungenügenden Leistungen wegen
gekündigt. Er fühlte den Fluch seines ehemaligen Reichtums auf sich
lasten, und das drängte ihn immer mehr abseits.
Er schämte sich, das einzugestehen und brauchte allerlei Ausflüchte,
wenn die Adresse seines Prinzipals abermals wechselte. Emmy begann
aufzumerken und sein Gehen und Kommen argwöhnisch zu belauern. Aber
die freundlichen Glücksstunden, die ihnen das trauliche Nest bot,
täuschten sie beide immer wieder über den Ernst der Lage hinweg. Ihre
anschmiegende Liebe tröstete ihn für alle Widerwärtigkeit, und wenn
er nach der sauren Arbeit des Tages heimkehrte, so schien ihn das
heimische Glück immer wieder mit neuer Kraft zu stählen.
Plötzlich öffnete ihr der Zufall die Augen. Eines Morgens im
späten November war sie nach Berlin hineingefahren, um eine lang
verschobene Besorgung auszuführen. Um die elfte Stunde kam sie durch
die Königgrätzer Straße am Rande des Tiergartens vorbei. Es war ein
eisig rauher Tag, die Bäume des Parkes ächzten unter den zausenden
Händen des Sturmes; raschelnd wirbelten die welken Blätter über die
Wege. Emmy eilte mit fester verzogenem Mantel, um den Schutz der
Straße wiederzugewinnen. In der Nähe des Goethedenkmals streifte ihr
Blick eine Bank, auf der ein Herr saß. Stutzend hielt sie an — sie
meinte Magnus dort zu erblicken. Unsinn! Er sitzt jetzt drüben in der
Königstadt in seinem Comptoir — am Morgen beim Fortgehen hatte er noch
so dringende Arbeit vorgeschützt.
Und dennoch! Sie traut ihren Blicken kaum. Seine breiten Schultern,
der flache Krämpenhut — er ist’s! Wie kommt er denn dahin, um diese
Stunde? — man sitzt doch nicht bei diesem Wetter im Tiergarten! Die
Ahnung eines Unheils krampfte ihr das Herz zusammen, ihre Tritte
wankten, als sie auf den Sitzenden zutrat.
Magnus saß vornübergebeugt, das eine Bein über das andere geworfen,
den Hut in die Stirn gedrückt vor dem Wehen des Sturmes; mit
brütendem Sinnen betrachtete er das langsame Auf- und Abwiegen des
übergeschlagenen Fußes.
»Maggi ...«
Ängstlich wie ein Hilferuf klang es an seiner Seite.
Er fuhr empor, starrte sie wie eine Erscheinung mit blöden Augen an.
Er hat an sie gedacht, denkt fortwährend an sie — da kommt ihre
Erscheinung wie ein Zauber dahergehuscht ...
»Was machst Du hier? — um Gotteswillen, Maggi, was ist denn? Wie Du
aussiehst ...«
O, er hatte sich nicht sofort zu fassen vermocht! O, er hatte keine
Zeit gehabt, die harmlose Frohmiene, die er sonst vor seiner Heimkehr
jedesmal vorzubereiten pflegte, einzustellen.
Sie sank neben ihm auf die Bank, ihn mit erschrockenem Auge anstarrend.
»Was führt Dich denn aus Pankow her?« stotterte er.
»Ich denk’, Du bist in Deinem Geschäft —«
»Ich streike —« warf er bitter hin, und das Lächeln über diesen
Scherz, mit dem er sich herauszureißen gedachte, blieb zäh auf seiner
Miene haften.
Sie griff nach seiner Hand: »Um Gotteswillen, was ist? Sag’ mir doch!
Du hast Deine Stellung aufgegeben? da brauchst Du doch nicht hier im
Tiergarten zu sitzen! Warum sagst Du mir denn das nicht?«
Thränen bebten durch ihre Stimme.
»Närrchen, komm — es ist zu kalt für Dich hier —«
Er wollte sich erheben, wobei ein Seufzer seinen breiten Brustkasten
schwellte. Mit krampfhaftem Griff hielt sie ihn fest.
»Erst sag’ mir alles!«
»Nichts! Ich hatte keine Lust zu arbeiten, unser Comptoir ist so eng,
kaum Luft genug für einen Maulwurf — da macht’ ich mich davon —«
»Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr, Maggi!« rief sie, und ihre Augen
blitzten ihn an.
»Du sollst Dich nicht so aufregen, mein Herz —«
»Ich weiche nicht von der Stelle, bis Du mir gebeichtet!«
Sein Blick umhüllte mit einem besorgten Ausdruck ihre zarte Gestalt,
die nicht sehr wintermäßig gekleidet war. Der Wind ließ die Bänder
ihres Hutes flattern und das Wildhaar ihrer Stirne auswehen.
»Nichts, sag’ ich Dir! — nun ja, ich hab’ den Posten abermals
quittiert. Ein erbärmlicher Hundedienst — seit gestern bin ich fort —«
»Es ist nicht wahr!«
Die Inquisition ärgerte ihn etwas. »Nun ja, wenn Du es denn besser
weißt — seit drei Wochen —«
»Maggi!«
Nur der Name, dazu der volle strafende Vorwurf ihres Blickes: warum er
ihr das nicht früher gesagt? warum er jeden Morgen seit drei Wochen die
Komödie ausführt und eine Abfahrt nach dem Geschäfte heuchelt?
»Ich wollte Dir die Sorgen ersparen! Gerade jetzt! Übrigens was ist
daran? Ich bekomme jeden Augenblick wieder eine Stelle —«
Das kam sehr kleinlaut heraus. »Jetzt komm!« rief er, gebieterisch die
Stimme hebend. »Ich dulde nicht, daß Du Dich dem Wetter aussetzest!«
Sie ließ es nun geschehen, daß er sie emporzog, und seinen Arm
schützend um ihre feinen Schultern legte — »komm, sei kein Närrchen
...«
Eine kurze Weile schritten sie durch das raschelnde Laub des Weges ohne
ein Wort.
Plötzlich stürzten Thränen aus ihren Augen — leidenschaftlich brach es
hervor: — »Du willst mich täuschen, Maggi! — es ist Not im Anzug! Und
davon erfahre ich nichts! — Bin ich — bin ich denn nicht Dein Weib?«
Sie schluchzte. Er suchte sie zu beruhigen.
»Siehst Du — es wäre besser gewesen — für uns beide — ich wäre
gestorben! — warum hast Du mich geheiratet! —«
»Weil ich Dich liebe! — weil ich nicht ohne Dich leben konnte! — weil
ich zu Grunde gegangen wäre ohne Dich!«
Er preßte sie inniger an sich.
»Und Du willst mir nicht einmal die Wahrheit sagen? — lieber geh’ ich
von Dir, als daß ich eine Lüge dulde zwischen uns —« trotzte sie.
»Jetzt sagst Du mir alles!«
Er fand, daß es das beste wäre zu beichten. Wie er von Stelle zu
Stelle lavierte, nichts Passendes, nichts Anständiges fand; wie er sie
täuschte und belog, um sie jetzt in ihrem Zustande nicht zu ängstigen.
Aber sie soll fortan die volle Wahrheit hören, wenn sie es denn will!
Er will keine heitere Miene mehr heucheln, wenn es ihm schwer ums Herz
ist —
»Ach was! schwer ums Herz!« rief er — »ich liebe Dich! — Du liebst
mich —«
Verwundert blieben einige Passanten drüben auf der Mauerseite stehen,
wie rücksichtslos stürmisch am hellen Mittag dort der starke Mann das
schlanke Weib an seine Brust preßte.
Und die Seligkeit dieses Mein- und Deinseins wandelte sie bald wieder
zu Kindern. Eine halbe Stunde darauf standen sie vor einem Laden der
Leipziger Straße, der Erstlingsausstattungen liegen hatte, und weideten
sich an all den duftigen, spitzenumhauchten Herrlichkeiten. Emmys
Gesichtchen glühte. Allerlei bedeutsame Bemerkungen wurden zwischen
ihnen geflüstert; in köstlicher Verlegenheit lächelten sie beide.
»Komm doch hinein!«
Er wollte sie nach dem Eingang des Ladens drängen; aber sie wehrte.
»Nein, nein, nein — jetzt auf keinen Fall! — es soll trotzdem nicht
zu kurz kommen!«
»Mein gutes, liebes Weib!« hauchte er hin, und seine Blicke ruhten
verklärt auf ihr, während sie beide durch das Gewühl der Straße weiter
schritten.
* * * * *
Von da ab nahm die ehemalige Kassiererin von Kapp und Müller die
ökonomische Regelung des Haushaltes in die Hand. Anfangs erschrak sie,
auf wie schwankendem Untergrund diese Ehe gegründet worden war. Und
ihretwegen hat er sich in dies Elend gestürzt!
Die Lage war ziemlich trostlos. Der Vorrat an Pretiosen war versiegt,
Magnus hatte gewirtschaftet, als wenn ihm der unerschöpfliche Arnheim
der Firma Joël noch zur Verfügung stände. Sein ehemaliger Reichtum
erwies sich als ein Fluch.
Doch jetzt ist keine Zeit, da zu sitzen und zu grübeln und sich von
schweren Gedanken niederdrücken zu lassen! Jetzt gilt es tapfer zu sein!
Sie ordnete eine Beschränkung des Haushalts an; vom ersten Januar
würden sie eine noch viel kleinere Wohnung beziehen. Sie verrichtete
Wunder der Sparsamkeit; zumeist heimlich, daß er es nicht merkte, denn
sie sah, wie es ihn schmerzte, sie darben und sich in den kümmerlichen
Verhältnissen krümmen zu sehen.
Magnus hatte in dem Bureau eines Konsortiums zum Bau elektrischer
Arbeitsbahnen ein Unterkommen gefunden. Er paßte als Kaufmann dort
nicht hin, aber man gab vor, seine stilistischen Fähigkeiten für die
Korrespondenz zu verwerten — in Wahrheit handelte es sich um den Namen
Joël, der in den Manipulationen der Gesellschaft ein effektvolles
Schild abgab, ja sogar als Köder herhalten mußte. Man bezahlte ihn
erbärmlich, versprach ihm aber um so mehr. Wieder schämte er sich,
seine Lage vor Emmy offen darzulegen. Er hoffte in seiner sanguinischen
Art in die blaue Zukunft hinein. Unterdes versank er in Schulden, ehe
er sich dessen versah.
Emmy war den ganzen Tag über, wo er in Berlin war, sich selbst und
ihren Sorgen überlassen. Die Gedanken umlauerten sie, schlichen ihr
nach auf Schritt und Tritt, saßen mit ihr am Nähtisch und leisteten ihr
Gesellschaft am Küchenherd, wo sie das frugale Mahl für sein Kommen am
Abend rüstete.
Sie hat ihn zum Bettler gemacht! — sie hat den Frieden des Hauses
Joël zerstört! — sie hat ihn von dem Herzen seines Vaters getrennt!
Was für ein Ungeheuer von Egoismus ist sie denn, daß sie bleibt und
ruhig zusieht, wie die Kluft sich erweitert und das Elend wächst?
Fort mit ihr, der Unglücksspenderin — der Friedensstörerin! — es
wäre so einfach — weiter nichts, als daß sie ihn verließe — spurlos
verschwände — dann wäre er frei! — Wohin, das ist einerlei! — sie
weiß, sie wird an dieser Trennung zu Grunde gehen! — wenn sie ihn
damit rettet — wie gern, ach wie gern!
Immer wieder stemmte sie sich gegen die Unseligkeit solcher Gedanken.
— Jetzt nicht! — sie ist schuldig auszuharren, bis sie ihrem Kinde
das Leben geschenkt! Dann vielleicht erst recht! O Gott, giebt es denn
keinen Ausweg?
Die gute Mama Köster wagte sich immer wieder mit einem Vorschlag heran:
man müßte eine Versöhnung mit der Familie Joël versuchen. Die wenigen
Nachrichten, die von den Joëls in den stillen Winkel herüberdrangen,
konnten schon dazu ermutigen. Der alte Herr litt offenbar unter dem
Schlag, den ihm sein Jüngster versetzt. Sein Gesundheitszustand war
nicht der allerbeste. Siering, der erste Buchhalter des Hauses, der
Magnus zufällig begegnete, meinte, es kostete nur einen Gang, nur
ein Wort, — der Alte wäre so weich, (»er ist überhaupt nur ein
Polterer!«), eine Versöhnung ließe sich unschwer in Scene setzen.
Magnus schüttelte ungläubig den Kopf; und sein Trotz bäumte sich auf.
Aber Frau Köster klammerte sich immer zäher an den Plan. Sie träumte
von einem Fußfall — von einer rührenden Verzeihungsscene —
Der Größenwahn des Herrn Köster fuhr in voller Entrüstung dagegen an.
— »Was? wir sollen klein nachgeben? Nimmermehr! Ihr werdet sehen, man
wird schon kommen, uns zu holen, wenn man uns braucht! — warten wir
nur geduldig!«
»Unterdes sind wir verhungert —« sagte die stumme Angstmiene von Frau
Köster.
Und Emmys Mutterhoffnung bestärkte sie. Sie scheute sich nicht, vor
ihrer Tochter offen ihre Gedanken schillern zu lassen.
»Wenn es ein Knabe sein sollte — wenn wir das Glück hätten, daß es ein
Knabe wäre, Emmy —«
Die junge Frau errötete.
»Nun, man redet doch darüber, mein Kind — also wenn es ein Knabe wäre!
— Herr Gisbert Joël hat, wie mir Magnus versichert, keine Aussicht
auf einen Erben — bleiben wir also allein übrig, die den Namen Joël
retten. Und so ein Kerlchen zieht uns alle heraus. Dem wird der alte
Herr nicht widerstehen — der Großpapa wird ihm in die Glieder fahren
...«
Eines Vormittags, kurz vor Weihnachten, erschien in der Damerowstraße
ein Herr von militärisch strammem Aussehen und fragte in gemessener
Höflichkeit nach Herrn Joël. Auf Emmys Bescheid, daß dieser nicht zu
Hause sei, hob er bedauernd die breiten Schultern und zog aus der
Seitentasche seines Rockes einen Pack Papiere in aktenmäßigem Format.
»Bedaure sehr — ich habe für diesen Fall Exekutionsbefehl.
Gerichtsvollzieher Moller mein Name —«
Emmy schrak zusammen und erblaßte; mit zitternden Händen griff sie nach
den Papieren.
»Sie brauchen sich nicht zu ängstigen, Frau Joël —« sagte der
Biedermann mit seiner gutmütigen Baßstimme, — »es ist nicht der Rede
wert — eine Operation, die nicht weh thut — derweil kommt Zeit, kommt
Rat —«
Und vor sich her knurrend, fügte er hinzu: »Ihnen kann es doch nicht
schwer fallen, die paar hundert Mark aufzutreiben!«
Er schüttelte dabei den feisten Kopf. Seine Augen fuhren forschend von
Möbel zu Möbel in der Stube umher, dieselben auf ihren Wert abschätzend.
Emmy blätterte mechanisch in den Papieren mit ihrem Gemisch von
Gedrucktem und Geschriebenem und zehnerlei Handschriften.
Plötzlich fuhr sie auf — der Gerichtsvollzieher prüfte gerade ein
zierliches Luxusschränkchen, ein Überbleibsel aus Magnus’ Luxustagen;
die prächtige Schnitzarbeit schien ihn zu interessieren: »Das
Stück allein —« sagte er, mit der Hand über den reichprofilierten
Sims fahrend, »deckt zehnmal die Schuld — und es ist Ihnen gewiß
entbehrlich?«
Emmy stürzte herzu: — »Das nicht! — auf keinen Fall das!« rief sie,
mit der Hand abwehrend.
Der Mann wunderte sich über die Erregung. Emmy errötete, den wahren
Grund ihrer Weigerung wagte sie nicht anzugeben —: das Schränkchen
hatte zur Aufbewahrung der fertigen oder in Arbeit begriffenen
Kinderausstattung gedient. Es war ihr eine so wundersame Freude,
die Thüren desselben zu öffnen und sich mit den winzigen Sächelchen
zu beschäftigen. So war ihr das Schränkchen zu einer Art Heiligtum
geworden.
»Das nimmermehr! Nehmen Sie sonst alles!«
Herr Moller war wohl an dergleichen Sonderheiten gewöhnt. Er wählte
also ein paar andere Möbel, die ihm entbehrlich schienen und brachte
seine Siegel an, die Operation, wie er es nannte, mit Aufzählung
schlimmerer Fälle, wie zur Beruhigung, begleitend.
Dumpf brütend saß sie da, als er fort war, der Schreck zuckte in ihr
nach. Da klingelte es abermals — der Briefträger.
Mechanisch nahm sie den dargereichten Brief, betrachtete ihn — er
sah recht gleichgültig aus, sie kannte die Schrift nicht — etwas
Geschäftliches? — vielleicht abermals eine Mahnung? —
Und mit ganz mechanischen Griffen, all der Gedanken voll, öffnete sie
das Couvert.
Gleich, als sie die Überschrift sah, ward sie sich des Mißgriffes
bewußt. »Lieber Bruder!« stand dort.
Aber unmöglich, das Folgende nicht zu lesen! — wenigstens nicht einen
Blick in die Zeilen zu werfen. Was ist geschehen? Gisbert schreibt an
Magnus — das erste Mal seit der Verstoßung ...
Ihre Hände zitterten, als sie las:
»Lieber Bruder!
Du wirst Dich wundern, von mir diese Zeilen zu erhalten. Unser alter
Vater ist die Veranlassung. Er befindet sich nicht gut, gewisse
Ereignisse haben ihm stark zugesetzt und, wie es scheint, seine
Gesundheit untergraben. Ich weiß nicht, ob Dir daran gelegen ist,
nach der Leichtigkeit zu urteilen, mit der Du Deine Familie, die es
so gut mit Dir meint, bei Seite warfst, hiervon Notiz zu nehmen.
Jedenfalls hielt ich es für meine Pflicht, Dich zu benachrichtigen.
Auch magst Du aus diesen Zeilen die Andeutung herauslesen, daß der
Moment zur Anbahnung eines Friedens nicht ungeeignet ist. Nicht, daß
wir Dein Handeln nachträglich billigen, nicht, daß wir uns mit dieser
Ehe nachträglich einverstanden erklären, aber wir sind geneigt, uns
überzeugen zu lassen, daß Du damals mit Deiner Ehre engagiert warst,
daß Dein leider zu weiches Herz sich von einem billigen Mitleid
überwältigen ließ — Du erklärtest ja ausdrücklich, daß Du nur ~aus
Mitleid~ ...«
Emmy war es, als erhielte sie von einer unsichtbaren Hand einen Schlag
ins Gesicht. Der Brief entglitt ihr. Ihre Brust rang nach Atem,
und ihre Hände umtasteten den Hals, als drohte sie zu ersticken.
Jetzt meinte sie zu Boden zu schlagen — wankend stürzte sie auf
das Sofa zu — und dort, mit einem gellenden Schrei, löste sich die
Erstickungsangst.
Lange hielt sie das Antlitz mit den Händen bedeckt; Stirn und Wangen
brannten wie nach einem wirklichen Schlag. Sie bebte am ganzen Körper
vor Erregung. Immer wieder wiegte sie den Kopf unter den Händen — es
ist wohl nicht möglich! — es ist nicht denkbar! Jetzt ließ sie die
Hände sinken — ihre Augen stierten leer in der Stube umher — endlich
trafen sie das Papier am Boden —
Sie schnellte empor, fuhr auf das Papier hin und raffte es auf — ihre
Hände flogen — vor ihren Augen schwirrte es — es gelang ihr nicht,
eine Zeile zu verfolgen — ihre Blicke stöberten wie trunken die
Buchstaben entlang — endlich! da hatte sie es wieder, das entsetzliche
Wort!
»Aus — Mit — leid!«
Langsam und laut kamen die Silben über ihre Lippen. Dann bewegten sie
sich stumm — immer die schrecklichen drei Silben — wie ein mächtiger
Magnet hielt das Wort ihre Augen gebannt — unmöglich, die Blicke
davonzureißen!
Und sie wiegte das Haupt auf und nieder — jetzt schneller: — ja, ja,
ja — das ist’s! Es war das Mitleid! Eine ungeheure Helle lohte von dem
Worte auf, alles, alles beleuchtend.
Nun knitterte sie das Papier in den Händen zusammen — konvulsivisch,
in einem Zornausbruch über sich selbst: — Gott im Himmel, wie konnte
sie sich so von Blindheit schlagen lassen! Bedurfte es erst eines
Briefes, um sie das Wort lesen zu machen! Deutlich stand es überall
geschrieben — jede Sorge des Tages, das ganze Elend ihrer Lage trug
die Devise: »Aus Mitleid!«
Ja, aus Magnus’ Augen, aus seiner verkümmerten Miene hätte sie es lesen
müssen! —
Nein, nein, das ist nicht wahr! Er liebt sie dennoch! Aber das Mitleid
ist stärker gewesen, als die Liebe!
Und in einem gewaltigen Thränenstrom brach der ungeheure Schmerz sich
Bahn.
* * * * *
Emmy beschloß zu gehen. Es bedurfte keines Entschlusses — es war so
selbstverständlich — das Wort wies ihr gebieterisch die Thüre.
Bald! Heute — nachher — gleich — ehe Magnus zurück ist! Es muß sein!
Wohin? Das ist gleichgültig! Es ist alles ein Nebel, darin sie vorwärts
tastet aufs Geratewohl — sie wird auf einen Abgrund stoßen, der so
barmherzig ist, sie aufzunehmen — vielleicht trifft sie ein Wasser,
das sie mit hinwegreißt und allem ein Ende macht ...
Magnus pflegte einen bestimmten Zug der Stettiner Bahn am Abend zu
benutzen. Bis dahin war Zeit, alle Vorbereitungen zu ihrer Flucht zu
treffen. Ihr war so elend, sie raffte alle Willenskraft zusammen;
mechanisch, in einer Art Betäubung hantierte sie. Es gab viel zu
schaffen und zu ordnen. Ein rührendes Pflichtgefühl gebot ihr, nicht
vom Posten zu desertieren, ohne diesen blank und in Ordnung zu
hinterlassen.
So machte sie sich mit größerer Peinlichkeit als sonst daran, die
kleine Wohnung, die die Stätte ihres kurzen Glückes war, in Stand zu
setzen. Mit dem Reinigen und Kramen vergingen Stunden. Oft überwältigte
sie eine Schwäche infolge der Anstrengung; sie ließ sich nieder, um
auszuruhen — dann fühlte sie Thränen in ihren Augen schwellen —
sofort machte sie sich wieder auf — zum Weinen und Grübeln ist jetzt
keine Zeit! — Thränen machen weich! — sie sollte und durfte in ihrem
Entschluß nicht wankend werden!
Dann kam die Stunde, wo sie sonst das Essen zu bereiten begann. Auch
das! Wenn er nach Hause käme, sollte er nicht einen kalten Herd und
einen leeren Tisch vorfinden. Freilich würde er nichts von der Speise
anrühren, wenn sie nicht da wäre — der erste Schreck würde ihn lähmen
— dann würde ihn die Angst zur Suche nach ihr aufhetzen.
Eine plötzliche Furcht ergriff sie: — er konnte früher kommen, sie
überrumpeln, dann erlahmte ihr die Kraft, das Unselige auszuführen ...
Es war alles fertig, das Fleisch brodelte im Topf, es begann zu dunkeln
— jetzt erst gewahrte sie, daß draußen der Schnee heftig stöberte. Das
hatte den Tag über angedauert, die Pfade im Garten waren verweht, alles
Geräusch von der Straße drang nur gedämpft herüber. Sie schauerte,
und ein Gefühl des Frostes überrieselte sie. Hier innen war es warm
und behaglich — so traulich dämmerte der gelbe Schein der Lampe —
sie mußte an die süßen Stunden der Abendstille denken, wenn die Welt
da draußen schwieg und nur ihr Glück hier immer wach war, spät in die
Nacht hinein.
Vorüber!
Sie setzte sich an seinen Schreibtisch, um die paar Zeilen des
Abschieds an ihn zu schreiben. Er sollte nebst ihnen den Brief des
Bruders vorfinden, wenn er käme. Eine gewaltige Erregung kam über
sie, und die Feder zitterte in ihrer Hand. Als sie die ersten Zeilen
hingeworfen, klingelte es.
Sie erschrak heftig — es war sein Klingeln! Erst ein leises Ticken, um
sie vorzubereiten, dann das laute, freudige Signal seiner Ankunft. Auch
darin gab sich seine Sorgfalt für sie kund.
Sie knitterte das angefangene Schreiben in die Tasche und eilte, um zu
öffnen.
Er war es. Sie prallte zurück, wie vor einem Unerwarteten, Fremden.
»Was ist Dir, Emmy?«
»Ach, Du bist es — ich hatte Dich nicht gleich erkannt ...«
»Puh, ein Wetter —« prustete er, mit den Füßen stapfend. Seine Kleider
waren mit Schneeflocken überhaucht.
»Ich bringe eine tüchtige Kälte mit herein — Du hast wohl Angst?« rief
er, da sie zögerte, nach ihrer Gewohnheit in seine Arme zu fliegen.
Ach, seine Stimme — seine Augen — seine Nähe! Sie fühlte etwas wanken
innerlichst. Sie breitete ihre Arme aus und stürzte in die seinen. In
einem Sturm leidenschaftlicher Freude umpreßte er ihre Gestalt. Ihr
Kopf wiegte an seiner Schulter: »ach Maggi ... Maggi!«
»Was ist Dir, mein Herz?«
Der seltsam flehende Ton ihrer Stimme machte ihn stutzig.
»Was ist Dir? Bist Du nicht wohl?« fragte er, ihr Köpfchen von seiner
Schulter hebend.
»Doch, doch —« nickte sie mit gesenkten Augen.
»Du hast Dich wahrscheinlich wieder zu sehr angestrengt — wie oft habe
ich Dich gebeten, das zu unterlassen — Du siehst blaß und verstört
aus.«
Sie wollte des Gerichtsvollziehers erwähnen und das als Grund ihres
Aussehens anführen. Ah, — er wird genug auszustehen haben — sie
will ihn und sich nicht die Stunde dieses Abschiedes durch solche
Trivialität vergällen!
»Nichts, Maggi ... es ist das Gewöhnliche, Du weißt.«
Sie litt in letzter Zeit viel an migränehaften Kopfschmerzen.
»Du wirst Dich gleich nach Tisch hinlegen, Du armes Herz! — Können
wir bald essen? Ich bringe einen Wolfshunger mit. Ich bin nicht zum
Frühstücken gekommen.«
»Das Essen ist bald fertig — Du wirst nasse Füße haben, Maggi —«
»Nun und Du fragst nicht, warum ich so früh komme? — eine gute
Nachricht!« rief er in die kleine Küche hinein, wo sie an den
Geschirren zu hantieren begann.
»Nun?«
»Die Simbergs haben mir eine Gratifikation zu Weihnachten versprochen.
Genug, um manches abzumachen — und es bleibt noch tüchtig für das
Christkindchen. Ich freue mich kindisch auf das Fest!«
Und nach einer Pause, da keine Antwort aus der Küche kam: »Nun, freust
Du Dich nicht?«
»Herrlich!« rief sie überlaut.
Wenn er geahnt, welch einen Schmerz ihr die Lüge dieses Ausrufes
ausgepreßt!
Er erklärte sein frühes Kommen. Es galt eine Arbeit, die Abfassung
eines Prospektes, die er dort im Comptoir doch nicht vollendet hätte.
Es wäre Arbeit bis spät in die Nacht hinein.
Das war schon einigemal vorgekommen. Während sie drinnen in der
Schlafstube schon zu Bette lag, hörte sie dann das Kritzeln seiner
Feder vom Schreibtisch her, und der Schein der Lampe, den sie nicht
missen wollte, streckte sich wie in hütender Wacht bis zu den Füßen
ihres Lagers hin. Und so war sie dann eingedämmert.
Bald saßen sie an dem kleinen Tisch beim einfachen Mahle. Wieder
krampfte sie alle Kraft zusammen, um sich unter seinen Blicken aufrecht
zu halten. Sie war fahlblaß. Das konnte auch ein Symptom ihres
Übelbefindens sein. Jeder Blick, jedes Wort, jede Bewegung von ihm war
eine zärtliche Sorge für sie. Einmal flammte eine Röte über ihr Antlitz
— es ist eine Lüge: — nicht »aus Mitleid!« — nein aus Liebe! aus
Liebe!
Sie wollte es ihn Auge in Auge frei herausfragen; er wäre nicht
imstande gewesen zu lügen. Aber das würde nichts bessern an der Lage.
In den Augen der andern bleibt die häßliche Devise: »Aus Mitleid!«
dennoch bestehen. Nach wie vor bedeutet sie für ihn den Makel! — Fort
mit dem Makel!
Er geleitete sie selber hinein in die Schlafstube und bettete sie dort.
Sie bestand darauf, sich in den Kleidern zu legen, da sie nachher noch
zu thun hätte. Es gab einen kleinen Streit deswegen, und er mußte
nachgeben.
Wohl eine Stunde lang lag sie dort wie angekettet durch seine Sorge,
die immer wieder herbeischlich, um nach ihr zu sehen. Zu ihren Füßen
wachte der Schein von der Lampe her, und sie hörte wie sonst das
Kritzeln seiner Feder.
Ihre Gedanken stürmten fiebernd. Sie wird nicht frei kommen — jetzt!
Er wird sie nicht einmal bis zur Thür lassen! Also auf morgen! O die
unsägliche Qual dieser Nacht, wo jeder Pulsschlag einen Abschied von
ihm bedeutet ...
Ihre Augen irrten in der Stube umher. Jetzt huschten sie über das
Schränkchen hin. Einzelne Schächtelchen und Medizinflaschen standen
dort von ihrer Krankheit her. Warum zuckte sie empor? warum fuhr es wie
ein siedender Strom durch ihre Glieder? Und die Augen wie hingebohrt
dort auf die Stelle, wo die Fläschchen standen ...
Es war eines darunter, das Morphium enthielt; es hatte ihr oft
Linderung gebracht — aber ein gefährliches Ding! — wie vorsichtig
waren die Tropfen jedesmal abgezählt worden! Magnus hatte es sogar eine
Zeit lang vor ihr verborgen, daß sie nicht einmal in seiner Abwesenheit
einen Mißgriff thäte. Deutlich unterschied sie es jetzt unter den
anderen Gläsern.
Wie ein Wirbelwind fuhr es durch ihre Gedanken — nur ein Hinhuschen
nach dem Schränkchen — ein Griff nach dem Fläschchen — nur ein
mutiger Schluck daraus — das ist die Flucht! Weiter kann man nicht
fliehen, als dahin! Niemand holt sie zurück von dort — und sie ist
dann so sicher vor dem selbsteigenen Gelüst einer Wiederkehr!
Wohin? — Auf einmal weiß sie — wohin!
Und während all ihre Fibern bebten, als wäre dieser Entschluß eine
körperliche Erschütterung gewesen — raffte sie dennoch so viel
Vorsicht zusammen, um ihm die drei Schritte dorthin zu verheimlichen.
Langsam, langsam erhob sie sich, und zollweise, einem nächtlichen Diebe
gleich, rückte sie auf den Strümpfen vorwärts nach dem Schränkchen hin.
Jetzt griff sie nach dem Glas — es gab ein leises Klirren, so bebte
ihre Hand.
Sie fühlte, wie sie vor Schreck erblaßte. Sie horchte — nichts als das
unermüdliche Kritzeln der Feder und das leise Ticken des treibenden
Schnees am Fenster.
Jetzt hielt sie das Fläschchen — wieder wie ein Dieb schlich sie
damit gegen das Lager zurück. Dort gegen den Bettpfosten gelehnt,
wollte sie es öffnen. Das gelang ihr nicht, der Glasstöpsel hatte sich
festgesetzt. Sie drehte und arbeitete daran — umsonst, der Stöpsel
rührte sich nicht!
Die Thür ist verriegelt! Als ob Jemand fliehen will — schon hat er die
Thür erreicht — wider Erwarten versagt das Schloß ... er ist gefangen!
Eine Verzweiflung bemächtigte sich ihrer, es zuckte in ihr, das Glas
an dem Pfosten zu zerschlagen und das kostbare Naß aus den Scherben zu
schlürfen. Abermals zerrte sie an dem Stöpsel — ein stöhnender Ruf
entfuhr ihren Lippen.
Gleich war Magnus aufgesprungen und auf den Ruf herzugeeilt. Er war
noch rechtzeitig da, um sie vor dem Hinstürzen aufzufangen.
»Was ist Dir? warum bist Du aufgestanden ...«
Es war keine Ohnmacht — ihr Atem flog so stürmisch — und sie wehrte
seinen Fragen mit heftigem Kopfschütteln.
Er brachte die Lampe herein, da fiel sein Blick auf das Fläschchen,
das ihre Hand noch immer umkrallt hielt. Er erkannte es sofort an dem
Glasstöpsel.
»Herr des Himmels — was hast Du gethan?«
Er war wie gelähmt vor Schreck. An dem verzweifelten Stieren ihrer
Augen, an dem verstörten Ausdruck ihrer erregten Miene erkannte er
sofort, daß sie nicht zur Linderung eines Schmerzes danach gegriffen.
»Verzeih ...« stöhnte sie.
Das Wort bestätigte den fürchterlichen Verdacht. Er entriß ihr das
Fläschchen, hob es gegen das Licht — sie konnte nicht viel genommen
haben. Nun merkte er erst, daß der Stöpsel haftete.
Er stürzte an dem Lager nieder. — »Bist Du von Sinnen —« schrie er —
»Du wolltest ...«
Sie nickte. Die unheimliche Energie dieses Nickens lähmte ihm ein
weiteres Wort. Entsetzt stierte er sie an.
Sie wies mit der Hand nach dem Papier auf dem Tisch hin.
Er griff danach, flog es durch — schleuderte es hin. Er begriff nicht
— offenbar hatte er das verhängnisvolle Wort gar nicht getroffen.
»Du bist krank! Du bist von Sinnen! Du könntest — Du könntest mich
verlassen — mich? Hast Du denn kein Mitleid ...«
Das Wort löste die Starrheit. Mit einer stürmischen Bewegung umschlang
sie seinen Hals und preßte sein Haupt an das ihre.
Ihr Körper erschütterte unter ihrem heftigen Schluchzen.
»Maggi — o, Maggi — Maggi ...«
Allmählich fand sie außer diesen noch andere Worte. Und schluchzend
wie ein Kind beichtete sie ihm alles. Ihr Fluchtversuch, und wie das
häßliche Wort sie zu dem unseligen Entschluß getrieben ...
»Wer hat das gesagt?« schnellte er auf.
»In dem Briefe dort stand es.«
Er raffte den Brief auf, suchte, suchte in den Zeilen. Da stand das
Wort! Nun loderte es auch ihm wie eine Flamme entgegen.
»Es ist nicht wahr!« rief er schrill, und seine Augen sprühten. —
»Glaubst Du es denn, Emmy? Ich bitte Dich, ich beschwöre Dich! —
glaubst Du es denn? Konntest Du es glauben?«
Nein, nein, keine Komödie in diesem Augenblick! Kein kindisches
Leugnen! Abermals stürzte er vor ihr nieder, das Haupt an ihrer Brust
bergend.
»Ich bin feige gewesen, Emmy — verzeih’ Du mir! Ich meinte, uns zu
retten mit dem Wort. Hab’ ich nicht gezeigt seitdem, daß es eine Lüge
war? — Aber ich will hin! — gleich morgen will ich hin! — will das
Wort widerrufen — sie sollen wissen, was es angerichtet! — sie sollen
wissen, wie ich Dich liebe! — ach, wie ich Dich liebe! — wie ich Dich
liebe!«
»Und dann sollen sie mich zum zweitenmal verstoßen! — bleibst Du mir
nicht, Emmy?« —
Lange nachdem saß er noch an ihrem Lager in der Nachtstille, während
der Schnee an das Fenster tickte, und horchte auf das Fluten ihres
Atems wie damals. Ein tiefer Schlaf hatte sie als Widerspiel nach all
der Erregung des Tages übermannt.
Hatte der Tod sie ihm nicht zum zweitenmal geschenkt? Und ein
sieghaftes Frohgefühl durchbebte ihn, daß sie ihm nun bleiben würde für
immer. —
Herr Köster triumphierte, als er von einer gewissen Rührscene hörte,
die am andern Tage in der Villa Joël zu Charlottenburg sich zwischen
Vater und Sohn abspielte: »Ich habe es ja gewußt — Sie brauchen uns —
sie können ohne uns nicht auskommen!«
Aber Frau Köster glaubte in ihrem Innern noch nicht an eine Versöhnung
von Herz zu Herzen — es müßte da erst ein gewisses Kerlchen kommen,
»der seinem Großpapa in die Glieder fahren würde«.
Die gute Frau sollte Recht behalten. Als das Kerlchen endlich da war,
stellte es sich heraus, daß Großpapa Joël demselben nicht gewachsen war.
[Illustration]
Nie!
[Illustration]
Sonst hätte er nie geheiratet — nie — nie!
»Lieber schöß’ ich mich tot!« Das war seine stehende Bekräftigung,
wenn eine Verlobung innerhalb des Regiments in der Luft hing und die
Kameraden ihn zu gleicher »Aktion« scherzweise reizten.
Dazu hatte er sich schon als ganz junger Dachs von einem Lieutenant
verschworen, und mit jeder Charge, die er emporstieg, nahm dieser
Schwur an Entrüstung zu, bis die wuchtigen Majorsepauletten auf seinen
breiten Schultern und das in der Kneipenluft bedenklich ins Hochrote,
zuweilen sogar bläulich gebeizte Kolorit seines braven Haudegengesichts
solchen Schwur überflüssig zu machen schienen.
Trotzdem aber immer noch: »Lieber schöß’ ich mir eine Kugel vor den
Kopf!« Eine drollige Art der Eitelkeit: — man sollte nicht etwa
denken, daß ihn die Jahre und der zunehmende Silberhauch seines
vorschriftsmäßigen Wilhelmsbartes von der Möglichkeit einer Heirat
ausschlössen! O wenn er nur wollte! Und er tapfte seine fleischige
Rechte, an der zwei verschliffene Familien-Siegelringe saßen, mit einer
Gebärde auf den Tisch, als wollte er sagen: »Ich brauchte nur die Hand
auszustrecken, und an allen Fingern bliebe mir eine hangen!«
Nicht als wenn es ihm an häuslichem Sinn gemangelt. Im Gegenteil,
schon als Lieutenant zeigte er ein Mißbehagen an der leidigen
Chambregarnie-Wirtschaft, und er hatte sich stückweise von seinen
verschiedenen Wirtsleuten emanzipiert, indem er nach und nach
eigene Möbel an Stelle der gemieteten anschaffte. Schließlich
brachten ihn der chronische Überschwemmungszustand eines empörend
altmodischen Waschtisches und die Gefühllosigkeit einer Wirtin, die
sich der Mitbenutzung des hundertjährigen Sofas durch den Pinscher
Schnurz widersetzte — (ich bitte Sie, Schnurz, der berühmteste und
gescheiteste Hund der Garnison!) zum Entschluß, sich gänzlich »eigen«
einzurichten.
Nichts Blankeres, als die hübsche kleine Wohnung, wo sein Bursche
den ganzen Tag über putzte, »fummelte«, scheuerte und wedelte, zum
Ärger der nachbarlichen Dienstmädchen, denen von ihren Herrinnen die
Unermüdlichkeit dieses musterhaften Reinlichkeitsgenies, »das doch nur
ein Mann ist!« hämisch vorgeworfen wurde.
Auch zog die Paradefront seiner fünf Fenster, hinter denen die weißen
Gardinen vor Sauberkeit leuchteten, den heimlichen Neidblick mancher
Mutter bedenklich überblühender Töchter auf sich: »ja, warum heiratet
er denn nicht?«
I, er hat es so ja tausendmal besser! I, was für eine Veranlassung
soll er haben, wildfremder Menschen Töchter zu füttern und mit Putz zu
behangen — »pardon«! mit einer entschuldigenden Verbeugung gegen einen
Verheirateten, der mit am Wirtstische saß. Gleich darauf aber wieder in
das zum Schnauzbart erhobene Bierglas hinein: »Lieber schöß ich mich
tot!«
Er fürchtet sich vor dem Pantoffel! hieß es. Konnte er sich doch
nicht einmal der Tyrannei seiner verschiedenen Burschen erwehren! So
wollte man unter dem Regime des einen ihn weniger =à quatre épingles=
gekleidet gesehen haben; ein anderer hätte es fertig gebracht,
seinen Herrn an bestimmten Abenden der Woche von der gewohnten
Kneipe fernzuhalten und zu einem hühnermäßig frühen Schlafengehen zu
veranlassen.
Elende Verleumdung! Dergleichen Verdacht stand im grellen Widerspruch
gegen seine bekannte und zuweilen berüchtigte Strammheit im Dienst.
Er hatte seine Kompagnie »höllisch im Zug«; er besaß die hellste
Kommandostimme des Regiments, er war ein schneidiger Exerziermeister
und der Schrecken seines Kapitän-d’armes. Und die bunte Flagge seiner
zahlreichen Ordensdekorationen bezeugte es, daß er die theoretische
Strammheit der Friedenszeit in praktische Tapferkeit vor dem Feinde
umzusetzen gewußt hatte.
So mußte es denn auch Wunder nehmen, daß er, der die gefährliche
Majorsecke flott umsegelt, plötzlich mit dem ominösen »blauen Brief«
eines Tages den Abschied auf den Tisch gelegt bekam. War es eine
gewisse Meinungsverschiedenheit mit seinem Regimentskommandeur? Hatte
er das Mißfallen eines Höheren auf dem Manöverfeld auf sich gezogen?
Oder sollte wirklich die prinzipielle Abneigung der Frau Kommandeuse
gegen das Junggesellentum schuld an seinem militärischen Untergang
gewesen sein? Die hageren, schnippischen Stänglein ihrer beiden Mädchen
besuchten zwar noch die Töchterschule, dennoch haßte sie jetzt schon
den völlig unbegreiflichen Stand des Junggesellentums. Und es war ihr
in ihrer durchgreifenden Art schon zuzutrauen, daß sie die Karriere
eines »ihrer« Offiziere an dieser starren Hassesklippe zum Scheitern
brächte.
Also a. D.! Das ist ein Ade! allen ehrgeizigen Hoffnungen. Das heißt
einen Strich unter alle Lebensträume ziehen! Das heißt eine 0 mit einem
Komma vor die Bedeutung eines Mannes in der weltlichen Rangordnung
setzen! Wer wenigstens verheiratet wäre und Kinder zu erziehen hätte!
Aber es giebt nichts Zweckloseres als ein a. D. ohne Familie!
Grollend packte er seine Sachen in einen Möbelwagen und siedelte nach
Pensionopolis in Thüringen über. Er hätte die Möbel verkaufen oder
versteigern lassen sollen, jetzt, da ihm kein Putzgenie in Gestalt
eines Burschen mehr zu Gebote stand! Aber er vermochte sich nicht davon
zu trennen — und Eigentum verpflichtet!
Eine Haushälterin? Brr! »lieber schöß’ ich ....«
Aber die Verschwörung kam nur ganz matt heraus. Er versuchte es mit
allerlei Bedienungsmethoden, doch die ehemals blanken Möbel büßten
ersichtlich an Haltung und Ansehen dabei ein. Es blieb nichts anderes
übrig, und kopfüber, mit geschlossenen Augen, stürzte er sich in dies
Wagnis, seinen kostbaren Hausstand, sowie seine noch kostbarere Person
der feindlichen Gewalt eines Weibes anzuvertrauen.
Nie war er sich so hilflos vorgekommen, als an jenem Tage, da er mit
mühsam aufrecht erhaltener Autoritätsmiene an seinem Schreibtisch
saß und die auf sein Zeitungsaufgebot massenweise herbeigeströmten
Weiblichkeiten, die sich für den begehrten Posten meldeten, Revue
passieren ließ. Ein ganzes in Front aufgestelltes Bataillon
abzukanzeln, das ist eine Kleinigkeit, aber solche damenmäßig
aufgedonnerten, mit Blicken und Bitten und einem Wortschwall,
sogar einzelne mit Jugend und leidlichem Frätzchen ausgestatteten
Frauenzimmer durch irgend eine Ausflucht hinauszukomplimentieren! Es
ward ihm ernstlich schwül, und es war wohl zuletzt die Verzweiflung,
die ihn zutappen und das übliche Mietsgeld in die mit einem
Filethandschuh bekleidete Hand einer angeblichen Witwe, »die es
eigentlich nicht nötig hätte«, und auch die polizeiliche Bevormundung
eines Mietsbuches verschmähte, drücken ließ.
Wie sah sie doch noch aus? Er hatte wirklich blindlings zugefaßt,
um dem peinlichen Examen, wo er wahrhaftig die Examinandenrolle
spielte, ein Ende zu machen. Sein Erstaunen war daher nicht gering,
als er am ersten Morgen nach dem Dienstantritt der Witwe, eine
ungemein ansehnliche Person von appetitlich sauberer Erscheinung,
drall und gesund und frisch, mit offenen, grellblauen Augen und
kindlichen Schelmengrübchen in den etwas starkblühenden Wangen,
das Präsentierbrett mit dem Frühstück auf den rundlichen Armen
balancierend, ins Zimmer treten sah. Hatte sie sich über Nacht
verjüngt? Ihr Alter, das er gestern abend auf 35½ taxiert, durfte
man bei dem freundlichen Morgensonnenschein ohne Schmeichelei bis
auf 29½, herabdrücken. Wenn sie sich wandte und er dann mit einem
prüfenden Blick, dem es nicht an leise schmunzelndem Wohlwollen
mangelte, ihrer davonschreitenden Gestalt nachsah, so setzte er
unwillkürlich noch einige Jährchen herab. Zu dieser Jugendtäuschung
trug wohl das glänzende Blondhaar bei, das hinten zu einem kräftigen
griechischen Knoten geschlungen war und in üppiger Wildnis in den
Nacken hinabwucherte.
Blond — ja blond! Wenn er überhaupt jemals eine Couleur bevorzugt, so
wäre es diese gewesen! Solche Erkenntnis ging ihm plötzlich auf.
Frau Glaß bedeutete überhaupt eine vollständige Umwälzung des
Haushaltes. Sie nahm sofort in breitester Weise davon Besitz, und es
sah fast aus, als gedächte sie, kein Stück mehr anderen Händen zu
überlassen.
Auch ihn selbst nicht! Zuerst empfand er ein gewisses verblüfftes
Grauen vor der naiven Sicherheit, mit der sie sich einnistete. Wie
sie seine Sachen nach ihrem Geschmack umstellte und ordnete, so
reorganisierte sie auch seine Lebensweise, z. B. wagte er es bald nicht
mehr, das Abendbrot in seinem Hause auszuschlagen, während er das
sonst in der Kneipe abzufertigen pflegte. Selbstverständlich ward der
Salon als »gute Stube« außer Gebrauch gesetzt, und er durchschritt den
Raum nur noch auf Fußspitzen, mit einer geheimen Scheu vor dem Geist
der peinlichen Ordnung, der hier waltete und gegen den die gerühmte
Sauberkeit der Burschenzeit nur ein elendes Gespenst war.
Anfangs versuchte er noch den Herrn herauszukehren. Aber sie lächelte
jeden Widerstand gegen die Anordnungen mit den Grübchen ihrer feisten
Wangen nieder. Ohne Zweifel verstand sie alles besser, sie, die einen
eigenen Hausstand besessen! — und aus ihren Worten lugte deutlich die
Mißachtung gegen den Junggesellen. Übrigens kochte sie vorzüglich,
und damit allein konnte sie ihn wehrlos machen; es war alles in
musterhafter Ordnung — was widersetzt er sich denn?
Teufel! er hatte doch einen »Dienstboten« gemietet, und er fühlte
sich vor ihr geniert wie vor einer Dame. »Adrett«! — das war ihr
Lieblingswort — unwillkürlich begann seine Haustoilette ebenfalls
gewisse »adrette« Allüren anzunehmen — aus Respekt vor ihr! Allmählich
stellte sich ein Gefühl bei ihm ein, als wenn er selbst auf Besuch in
seinem eigenen Hause sei.
In diesem Respektgefühl bestärkten ihn ihre nie ruhenden Anspielungen
auf den soliden Glanz ihrer Vergangenheit. Ihr Vater war ein
fürstlicher Schloßbeamter gewesen, und sie hatte als Kind mit
Prinzessinnen gespielt! Ihre Schwester war zuerst mit einem Herrn »von«
verlobt und heiratete dann einen Landwehroffizier. Ihr Mann hatte
einjährig gedient, und sie hatten, trotzdem sie nur Buchhalters waren,
mit den »ersten« Familien ihres Wohnortes verkehrt. O sie hatte nach
dem Tode ihres Mannes Anträge genug gehabt! Sie hätte einen Fabrikanten
haben können, einen leibhaftigen Millionär, dann einen Gutsbesitzer,
auch einen Baron — einen früheren Offizier ....
Dieses »auch« überfiel ihn wie ein Schreck: Herrgott, sie denkt und
hofft doch nicht etwa ....
Es war ihm an jedem Mittag peinlich, sie an seinem Tische servieren
zu sehen. Sie that das mit einer Miene, als wollte sie ihm bedeuten:
»Was hindert mich denn, mich dort auf der anderen Seite des Tisches als
Baronin dem Herrn Baron gegenüber niederzulassen?«
Er fühlte, er ahnte, daß die Macht, die sie über ihn ausübte, sich
eines Tages bis zu einem Überfall auf sein Junggesellentum erstrecken
könnte. Und dagegen galt es sich bei Zeiten zu wehren!
Schon umschwirrten ihn allerlei Anspielungen in der Kneipe, so oft
Frau Glaß ihm noch eine solche Kneipstunde gestattete: ironische
Erkundigungen nach seiner hübschen Hausmarschallin, kecke Neckereien,
scherzhafte Warnungen vor dem nicht zu ausnahmsweisen Schicksal
eingefleischter Junggesellen, die von ihren Haushälterinnen bis zum
Traualtar gedrängt worden waren.
»Lieber schöß’ ich mich tot ....«
Ja, wenn Frau Glaß nicht den geladenen und daher gefährlichen
Revolver, der unter der Waffendekoration seiner Wohnstube gehangen, in
übertriebener Vorsicht, daß das Ding eines Tages von selbst losginge,
weggenommen und versteckt hätte!
Sprach diese Wegnahme nicht deutlicher als Worte? Sagte sie ihm nicht
symbolisch: mit dem Totschießen wird es doch nichts! Du bist mir ja
doch verfallen!
Na, es wäre nicht das äußerste Unglück! Na, er würde Ruhe und Frieden
für den Rest seines Lebens genießen! Und verschiedene Beispiele
standen mit gaukelhafter Beharrlichkeit vor ihm. Ein alter Onkel
von ihm, der seine Wirtschafterin geheiratet und dabei »lächerlich
glücklich« geworden. Se. Excellenz, der General v. H., der da
draußen in seiner Villa am Walde von Pensionopolis trotz schreiender
Messalliance und ewig wacher Medisance ein idllysches und musterhaftes
Familiendasein führte. Na, was für Ansprüche erhebt er denn noch an das
Leben? Ein a. D.!
»Teufel, aber ich will nicht! Ich habe mich fünfzig Jahre gegen die Ehe
gesträubt, (er rechnete die Kinderjahre in dies Sträuben ein) man soll
mich nicht unterkriegen!«
Und laut, mit der äußersten Anstrengung seiner Autorität: »Frau Glaß,
ich sehe, Sie haben Schnurz den Schlafkorb abermals auf den Flur
geschoben —«
Sie zuckte mitleidig ironisch die rundlichen Schultern: »Wie der Herr
Baron befehlen —«
Und sie wollte den mit einem alten Kissen gefütterten Korb wieder
in die Schlafstube stellen, wo Schnurz zu Füßen seines Herrn zu
übernachten pflegte.
»Nun lassen Sie nur, Frau Glaß! wenn Sie glauben, daß es die Nacht da
draußen nicht zu kalt wird —«
Wie kam denn das? Unbegreiflich! — er entsetzte sich vor sich selber.
Wie kam er zu solcher empörenden Nachgiebigkeit? Gewissen ihrer Mienen
gegenüber sank ihm völlig der Mut. Und in solchen Momenten ahnte er,
daß er seinem Schicksal verfallen wäre ....
Sie aber staunte nicht über solchen Umschwung. O auch sie wußte, daß
er ihr unentrinnbar verfallen war! Eigentlich hatte sie schon von
ihm Besitz ergriffen, als sie ihn am Tage des Engagements so wehrlos
gegenüber ihrem Grübchenlächeln am Tische sitzen sah. Alles übrige
würde die Zeit reifen — sie wollte nichts übereilen.
Doch fand sie zuweilen, daß diese systematische Belagerungstaktik
sie zu langsam vorwärts brächte. Gut, man versuche es also mit
Gewaltmaßregeln!
Sie ließ also alle Schrecken ihres Putzteufels los. Seine
Bewegungsfreiheit innerhalb seiner Räume ward immer mehr durch gewisse
kreuz und quer über die Diele gestreckte Läuferstraßen beschränkt.
Auch sind gewisse Sofas nicht zum Hinsetzen oder gar Anlehnen da! Auch
können nur gewisse Kattungardinen eines kleinen Hinterzimmers den
Tabaksqualm vertragen, die andern ganz gewiß nicht! Auch gehören Hunde
auf den Hof, und nicht ins Zimmer!
Damit traf sie ihn am Herzen. Alles hätte er geduldig ertragen; er
hätte sich ja gerne mit dem Nießbrauch eines vierten Teiles seiner
Wohnung, auf den sie ihn eingeschränkt, begnügt — aber das arme
Hundevieh!
Sie verfolgte das Tier auf Schritt und Tritt und verleidete ihm das
bescheidenste Ruheplätzchen; sie sorgte dafür, daß es sich ja nicht
zu fett fräße. Alle Augenblicke scholl seine Jammerstimme, die ein
freundschaftlicher Klaps oder Fußtritt weckte, durch das Haus.
Es empörte ihn, er war öfter nahe daran zu kündigen, als er immer
wieder durch eine seltsam, schier gespenstisch auftauchende Erwägung
davon zurückgehalten wurde: — sie werde einfach nicht gehen! Sie würde
lächeln und — bleiben! Was ist da zu machen?
Es blieb nichts anderes als die Resignation. »Komm Schnurzel!« und er
rettete sich mit dem treuen Leidensgefährten nach den Kattungardinen
hin, die er mit dichten Sorgenwolken aus seiner Pfeife einräucherte.
»Was ist da zu machen, Schnurzel?« Das Tier winselte verständnisvoll
zur Antwort und schmiegte sich wie vor einem drohenden Fußtritt
zwischen seine Beine.
»Ich weiß, was uns beiden helfen würde, Schnurzel, — aber lieber
schössen wir uns tot, nicht wahr, Schnurzel?«
Das grundgescheite Hundevieh belferte zustimmend auf.
Die Dinge drängten zu einer Entscheidung. Die Luft war mit Unbehagen
und Peinlichkeit durchtränkt. Hatte sie ihn früher mit ihrem
Grübchenlächeln geduckt, so brachte ihn jetzt das Fehlen der Grübchen
ganz aus der Fassung. Ihre stumme und starre Art, die von dem Ausdruck
des Beleidigtseins strotzte, wurde immer unerträglicher. Kam er
sich längst schon wie ein Besuch in seiner Wohnung vor, so hatte er
jetzt das Gefühl eines Gastes, der in einem Hotel auf Credit lebt
und sich dafür die schlechteste Behandlung gefallen lassen muß. Wenn
sie bezweckt hatte, ihn mürbe zu machen, so hatte sie das vollkommen
erreicht!
Eine Entscheidung hing in der Luft. Entweder ginge ~sie~ (daran war
nicht zu denken!) oder ~er~ ginge, natürlich mit Schnurzel (welch ein
Widersinn — sein Eigentum im Stich zu lassen!) oder ein Gewisses
geschähe — er raffte sich auf und machte seine in Fleisch und Blut
übergegangene Redensart mit dem Totschießen zur Thatsache! .... wegen
einer Frau Glaß?
In diese Gewitterluft platzte der Besuch eines alten Regimentskameraden
herein. Der durchschaute sofort die Situation. Es müßte etwas
geschehen, und zwar gleich, und Energisches, ehe es zu spät!
»Weißt du was, alter Junge, du könntest mich wohl ein Endchen durch den
Thüringer Wald begleiten! Es ist herrlich jetzt. Ich erzählte dir, daß
meine Frau nebst Schwester in Berka zum Bade weilen. Aber natürlich
schleppe ich dich nicht bis dorthin —«
Der Gast kannte die Scheu seines alten Kameraden vor regelrechtem
Damenverkehr.
Thüringer Wald — es wehte wie ein Hauch der Freiheit von dem Wort her.
Schnurzel winselte vor Freude auf. Und er riß seinen Herrn mit fort.
»Topp! Ich fahre mit!« (»Aber natürlich nicht bis Berka!« setzte er
vorsichtig für sich hinzu. Frau Glaß würde auch wohl schwerlich den
Urlaub bis Berka ausdehnen!)
Frau Glaß verwunderte sich über den plötzlichen Entschluß, aber
sie wünschte doch »glückliche Reise!« mit ihrem bezauberndsten
Grübchenlächeln.
Er wollte in drei Tagen zurück sein. Frau Glaß wartete, wartete —
Schnurzel mindestens wird bei der Rückkunft diese Urlaubsüberschreitung
zu büßen haben!
Erst am sechsten Tage langte eine Nachricht an. Eine Postkarte, worin
ihr »Herr« (ein gänzlich unpassendes Wort!) ihr flüchtig mitteilte,
daß er seinen Freund nach Berka begleitet und sich vorzüglich wohl
befände. Er würde noch einige Tage ausbleiben, sie möchte unterdes
seine Abwesenheit zu einer gründlichen Reinigung der Wohnung benutzen.
Das war der offenbare Hohn! Sie sprühte.
Schnurzel befände sich ebenfalls wohl und ließe grüßen ....
Sie ballte ihre prallen Fäuste vor Wut über diese Herausforderung. Na
warte, wenn — »sie« zurückkehren!
Aber »sie« kamen nicht! An den Stammtischen von Pensionopolis hieß es,
der Major sei durchgebrannt — einfach durchgebrannt, alles, seine
Möbel, sein Eigentum im Stiche lassend.
»Das Gescheiteste, was er noch thun konnte!« lachte man. »Aber er kehrt
ja doch zurück!«
Auch Frau Glaß zählte sicher darauf, und sie hielt schon ihr ganzes
Arsenal von Rache für solche Rückkunft in Bereitschaft. Und dann ....
dann ist er verloren!
Plötzlich ward sie aus all dieser Siegeszuversicht durch einen
Doppelbrief gerissen. Eine Verlobungsanzeige eines gewissen Major a. D.
von P. mit einem Fräulein Herta von M., Tochter u. s. w.
Ihre grellblauen Augen glotzten das Papier an, lasen und glotzten und
weiteten sich.
»Nicht möglich!« kreischte sie auf; und das Papier zerknitterte in
ihrer Faust. Ein dummer Scherz, den ein anderer ihr bereitet ....
Doch die Begleitung der Anzeige bestätigte das Unmögliche. Ein
höflicher Brief, worin der Major auf die gedruckte Anzeige verwies;
eine kurze Andeutung seines Glückes, die ihr wie ein schriller Jauchzer
entgegenschnellte. Dann aber: in Anbetracht ihrer »treuen Dienste«
erlaubte er sich, ihr die Möbel, überhaupt das ganze Inventar seiner
Wohnung zur Verfügung zu stellen.
Schreck und Wut und Freude über die vom Himmel gefallene Schenkung,
dann wieder die himmelschreiende Enttäuschung: waren die Möbel ihr
nicht ohnedies verfallen?
Bald aber überwog der Triumph. Er hat nicht gewagt zurückzukehren —
aus Furcht vor ihr! Es wäre ihm auch nicht ratsam gewesen! Fräulein
von M. Aha, das ist die Schwägerin des unausstehlichen Herrn, der ihn
besuchte und dabei mit seiner Spürnase die Wohnung so durchschnüffelte!
»Viel Glück, viel Glück!«
Und sie besann sich nicht lange, ging an eine Truhe, kramte darin
und zog eine Papptafel mit dem gedruckten Avis »Möbliertes Zimmer zu
vermieten« daraus hervor. Diese befestigte sie sofort an dem einen
Fensterladen der »guten Stube.«
An den Stammtischen war ungeheures Halloh! Man konnte es nicht glauben.
Es war die Furcht vor der Rückkehr! Einfach durchgebrannt!
Aber man freute sich dennoch. Fräulein von M. war keine Jugend mehr,
auch keine Schönheit, aber sie würde ihm eine liebe und brave Frau
abgeben. Sie wäre das Gegenteil einer Frau Glaß — Schnurzel würde sich
freuen.
»Hoch die Madame Glaß!« rief einer.
Die Anderen stimmten lachend ein. Sie hat ja doch diese Verlobung
gestiftet! Sonst würde er nie geheiratet haben — nie, nie!
Die gekaufte Stimme
[Illustration]
»Ihre Wohnung?« rief der Wahlkommissär, ein Hauptmann a. D., mit
überflüssiger Energie; es dröhnte hallend von den getünchten Wänden
der leeren Schulstube, deren glänzend versessene und von mutwilligen
Knabenmessern verschnitzelte Pultbänke nach der einen Schmalseite
zusammengedrängt standen.
»Nr. 386!« kam die Antwort. Das kleine thüringische Bergstädtchen, das
nur durch eine Chaussee von unbequemen Steigungsverhältnissen mit der
übrigen Weltkultur Verbindung hatte, war nicht nach Straßen, sondern
nach der Gesammtzahl der Häuser numeriert.
Die überaus plumpe, grasgrün gestrichene Urne, die dem Verfertiger,
einem Klempner des Ortes, während der Wahltage Spott genug eintrug,
reichte dem Hauptmann gerade bis an das wulstige Doppelkinn, so daß
der Kugelkopf mit dem borstig geschorenen Haar wie aus der Urne selbst
zu tauchen schien; die runden, vorquellenden Augen glotzten euch mit
der scharfen Strenge eines Staatsanwaltes an, und der abgegriffene
Goldsiegelring an der mit den zweiten Knöcheln auf eine beschriebene
Liste aufgestemmten Hand funkelte drohend.
»Name!« donnerte es abermals.
»Gottlieb Simmel, Handarbeiter.«
Die Stimme klang gedrückt, die ganze mittelgroße Gestalt schien von der
Not des Tages verschabt und verbraucht zu sein, von dem geflickten,
grobleinenen Anzug, an dem Weste und Halstuch den Feiertag zu Ehren des
Wahlaktes herauskehrten, bis auf das graufarbene, rasierte Gesicht, wo
das schartige Messer gleich einer Tortur gewütet hatte, wie die feinen,
mit schwarzgeronnenem Blute gezeichneten Schnitte bezeugten.
Eine großartig geschwungene Handbewegung des Wahlkommissärs befahl
dem Wähler, seinen Zettel in das breite, gierig geöffnete Maul der
Urne zu schieben. Gottlieb Simmel schien leicht zusammenzuschrecken,
er zwinkerte unschlüssig mit den gelblichen Wimpern der grellblauen,
gutmütig dummen Augen und warf einen Blick nach der rechten Hand hinab,
wo er mehrere Zettel geknittert hielt; die waren ihm draußen am Eingang
der Schule mit ein paar scherzhaften Redensarten aufgedrängt worden.
Die Hand mit den Zetteln zuckte — am liebsten hätte er sie sämtlich
hineingeworfen.
»Nun?!« Die Stimme schien diesmal unmittelbar aus dem Innern der Urne
zu dröhnen.
Es war wie ein gewaltsamer Ruck, der an ihm zerrte. Er senkte die
Linke in die Hosentasche, suchte, immer mit den Augen zwinkernd, und
brachte schließlich einen verschmutzten, angefaserten Zettel hervor,
den die runden Glotzaugen über der Urne mit einem verweisenden Blick
gleichsam anfuhren. Jetzt verschlang das gierige Maul den Zettel, im Nu
verschwand auch der Kugelkopf, jedenfalls war er mit hinabgetaucht, um
das staatsgefährliche Geheimnis dieses Zettels zu erforschen.
Zögernd, auf die winkende Weisung eines Bleistiftes, der sich in der
Hand eines der Schreiber am Tische erhob, machte Simmel kehrt und
trollte sich davon; sein rechtes Bein hinkte leicht nachschlürfend.
Die grellblauen Augen thaten noch einen zerstreuten Rundblick
über die Stube. An der einen Wand hing eine Landkarte mit der
ungeheuerlich schwarzen Deltabildung eines verbrecherisch darüber
gestürzten Tintengusses, über dem Katheder ragte die kreidegraue
Wandtafel mit den kalligraphisch gemalten, bedeutungsvollen Worten:
»eier—eile—eimer—einer—eisen«; darunter die Karikatur eines frechen
Buben, der eine lange Nase machte. Auf dem Katheder, neben einem
breiten, schlägelustigen Lineal, lag eine zerrissene und beschmutzte
Knabenmütze mit geknicktem Lederschirm, die beim Aufräumen aus dem
Kehricht gerettet war.
Der Anblick dieser Mütze erinnerte ihn an seine eigenen beiden Rangen.
Er sah sie auf den Bänken dort sitzen und mit oval aufgerissenem
Mund »eier—eile—eimer« im Chorus mitplärren. Seine beiden Mädchen
saßen auf der anderen Seite des Korridors auf ähnlichen Bänken,
Ähnliches plärrend. Eins von den beiden daheim ist im nächsten Jahr
auch schulreif. Ein Seufzer entfuhr ihm. Es ist nicht das Schulgeld
— denn das bezahlt die Armen-Deputation — aber die Lesebücher, die
zerbrechlichen Schiefertafeln, die Hefte, Federn, Griffel — der Ruf
nach diesem Bildungsutensil ist wahrhaftig weit dringender als der nach
Brot! Jenes verlangt der Schulmeister, dahinter steckt die Polizei,
und man schafft es — das Hungern aber kümmert die hochweise Polizei
nicht! Dann die Mützen. Auf einmal sollen die Rangen, die außer ihrem
eigenen strohfarbenen, nie ganz unverdächtigen Wirrhaar, keine andere
Kopfbedeckung gekannt, mit Mützen in der Schule erscheinen. Wie viel
Tage Arbeitslohn hat es ihn doch gekostet, um dieser Schulmeisterlaune
zu genügen?
Nein, das Schullokal weckte in ihm keine freudigen Gedanken; und die
grüne Urne mit den Glotzaugen darüber hatte ihn völlig aus dem Text
gebracht. Draußen machte er sich mit einem Fluche Luft: »Teufel — es
ist doch ganz egal, ob man freinational oder deutschnational wählt!
Plunder ist beides!«
Es klang wie eine Beruhigung seines Gewissens. Wie kam er von den
Knabenmützen auf den Ausruf?
Es war das erste Mal, daß er sein Wahlrecht als deutscher Staatsbürger
ausgeübt. Ihm war so feierlich beklommen zu Mute, wie damals vor
Jahren, als er vor Gericht einen Zeugeneid abzulegen hatte; der
Richter hatte ihm die zeitlichen und ewigen Strafen eines Meineides so
schrecklich hingemalt, daß er lange nachher sein einfältiges Gewissen
mit der Frage quälte, ob er auch Silbe für Silbe richtig beschworen.
Das politische Leben des braven Bergstädtchens war in zwei Lager
gespalten. Hie deutschnational — hie freinational! Beide Parteien
waren dem einen gemeinsamen Stamm entwachsen, sie waren in ihren
Lebensbedingungen auf einander angewiesen wie die siamesischen
Zwillinge, ihre Prinzipien unterschieden sich nur um eine für den
Verstand des alltäglichen Zeitungslesers kaum merkliche Nuance —
dennoch befehdeten sie sich gegenseitig wie die feindlichsten Hunde,
diesmal besonders, wo die Regierung ein äußerst wirksames Fähnlein
für die Wahlkampagne ausgesteckt. Gekläff und Gebiß der beiden
Klatschblättchen, Wahlreden, Intriguen, Verspottung, Verleumdung,
Verfehmung bis in den Schoß der Familie hinein, all die häßliche
Ausgeburt des modernen parteipolitischen Treibens.
Das Wahlresultat ergab die Wahl des deutschnationalen Kandidaten
Rechtsanwalt Schwatzler mit einer Stimme Majorität. Die gegnerische
Partei schäumte vor Wut — bisher hatte sie das unbestrittene Monopol
des Sieges besessen. Eine Stimme Majorität! Welch ein Hohn des
Zufalls! Natürlich ist da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen!
Eine Stimme Majorität! Gottlieb Simmel war zuerst völlig verblüfft vor
Schreck und Staunen. Dann schnellte sein von der erbärmlichen Not des
Lebens in den Staub gedrücktes Bewußtsein zu einer Riesenhöhe empor.
Die eine Stimme Majorität, das bin ich! Gottlieb Simmel hat bisher nur
eine Null in der sozialen Weltordnung bedeutet, jetzt ist er plötzlich
zum ausschlaggebenden Einer angeschwollen!
Spät am Abend stolperte er die ächzenden Stufen der steilen
Hühnersteige zu seiner Dachstube empor, schwer wankend, mit schwülem
Atem. Er war kein Säufer, aber diesmal verlangte seine geheime Freude
nach einem Auslaß. In der Schnapskneipe hatten die anderen, wie sonst
immer, ihren groben, ja handgreiflichen Scherz an ihm ausgelassen.
Hallo! es lebe die Stimme des Gottlieb Simmel! Natürlich ist es seine!
Schmunzelnd steckte er den Scherz ein. Als wenn sie wüßten!
Er schlug durch die schlottrige Thür in die Kammer hinein, zwischen
die beiden bettartigen Gestelle, wo seine Sechs in zweierlei
geometrischen Verhältnissen, parallel und rechtwinklig zu einander
gedrängt schliefen. Sein Weib fuhr kreischend auf, der Keuchhusten des
Jüngsten bellte hohl durch den niederen Raum. Jene überhäufte ihn mit
Schimpfworten, lallend umtorkelte er ihr Lager. Was hat er nur mit
seiner »Stimme«?
»Ohne mich — wär’ der — Schwa — Schwa — Schwatzler gar nicht —
durchgegangen!«
Was faselt er für dummes Zeug? Ah, diese verdammte Wahl! Nicht genug,
daß sie ihn den ganzen Tag über »blau« machen heißt — muß er auch noch
die letzten paar Groschen im Krakehlwasser verthun!
Er bleibt dabei: seine Stimme ist die wichtigste im Reich ....
»Du bist verrückt!« schreit sie gegen ihn an. »Machst, daß du gleich zu
Bett kommst!«
Bis in das Gekeuch seines trunkenen Schlafes hinein bleibt er bei der
Verrücktheit. —
Die Freinationalen brüteten Rache; mit wütendem Eifer stöberten sie
nach einer Ungehörigkeit, wo sie den Hebel zur Vernichtung der Wahl
ansetzen könnten. Es klingt lächerlich, aber man meinte fast, sie
hätten es auf Gottfried Simmels Stimme abgesehen.
Zuerst ein dumpfes Gemunkel, nun wird das Gerücht vorsichtig von den
Basen am Biertisch destilliert, jetzt flattert es fast greifbar durch
die Zeitung — endlich! da haben sie das verbrecherische Ding von einer
Stimme endlich ertappt! Mit höhnendem Triumph wird das Zeichen der
Illoyalität vor den verdutzten Augen der Gegner geschwungen.
Und diese Stimme heißt — Gottlieb Simmel!
Am Tage vor der Wahl hatte Gottlieb Simmel im Hofe des Kaufmannes
Julius Quall Holz gehauen. Ein saures Stück Arbeit, denn das harte
Wurzelwerk widerstand der Axtschärfe, als wäre es selbst von Eisen;
seine Brust ächzte beim Zuhauen, und die hellen Schweißtropfen
spritzten im Wetteifer mit den Holzsplittern umher.
Stand plötzlich Herr Julius Quall neben ihm.
Die straffsitzende Moiré-Weste mit dem protzig geschwungenen Bogen der
schwergoldenen Uhrkette über dem Bäuchlein des Mannes schillerte in
der Sonne; sein kräftig gefärbtes Gourmandgesicht leuchtete; es ging
ein Geruch von Mus und Gewürz und allerlei pikanten Dingen von seinen
Kleidern aus.
»Ein zäher Bissen, he?« warf sein fettes Organ hin.
Der Arbeiter nickte, fuhr mit dem Rücken der Hand über die Stirnrunzeln
und hieb dann von neuem los.
Die Moiré-Weste sah eine Weile mit immer stärker glänzendem
Wohlgefallen zu, wie der Kerl dort sich abrackerte. Endlich warf das
fette Organ abermals ein Wort hin: »Ihr geht doch morgen zur Wahl,
Simmel?«
Der Arbeiter dehnte den steifen Körper langsam in die Höhe, seine
gelblichen Wimpern blinzelten verlegen, und eine Art mitleidigen
Lächelns glitt über die zähen Falten seines Gesichtes.
Daran hat er noch nicht gedacht. Die Wahl — er hat davon eine
Vorstellung ungefähr wie von einem Leckerbissen, der nur Leuten mit
schillerndem Bäuchlein ziemt.
»Aber Simmel, Ihr seid doch Staatsbürger! Ihr werdet doch Eure Pflicht
thun?«
Herr Julius Quall gehörte zu den fanatischen Heißspornen der
deutschnationalen Partei; seine Rührigkeit im Proselitenmachen war
bekannt.
Staatsbürger? — Das mitleidige Lächeln auf Gottlieb Simmels Gesicht
nahm um eine Nüance zu. Lieber Gott, den hohen Rang beansprucht er ja
gar nicht! »Man ist froh, wenn man was zu essen hat!« brachte er in
seiner gedrückten Art über die Lippen.
»Nun, nun, nun ....« fiel Herr Quall ein.
Es vibrierte eine leichte Entrüstung durch die Silben. Welch eine
klägliche politische Unmündigkeit!
»Ich meine doch, Simmel, Ihr könntet Euch die leichte Mühe machen!
Hingehen und so einen Zettel in die Urne legen!«
Des Kaufmanns Rechte zwängte sich dabei mit Daumen und Zeigefinger in
die Westentasche. Simmel verzog ausweichend die Schultern, spuckte in
die Hände und rieb die, um von neuem mit der Axt auszuholen.
»Es ist Euch doch einerlei, wen Ihr wählt, he, Simmel?« Und das feiste
Gourmandgesicht verzog sich zu einem cynischen Lächeln. Aus der
Westentasche kam ein zusammengefalteter weißer Zettel hervor.
Simmel ruckte abermals mit den Schultern. Er hatte in der Schnapskneipe
gehört, man müsse freinational wählen. Einzelne meinten, wenn es
hierorts einen praktischen Zweck hätte, so wäre sozialdemokratisch das
einzig Richtige. Wenn diese Richtung ans Ruder kommt, dann adjes die
Rackerei! Dann müssen die Reichen »schuften«, und wir Arbeiter sehen zu!
»Hier! Ihr werdet morgen hingehn und wählen! Macht keine Flausen!«
Herr Quall reichte dem Arbeiter den Zettel hin — seine Stimme klang
drohend: — Wenn er, Simmel, den Zettel nicht nimmt, so verliert er die
Kundschaft. Herr Quall liebt die »reinlichste Gesinnung« bei seiner
Umgebung!
Als Simmel den Zettel nahm, fiel ein Geldstück klingend auf den
Wurzelklotz. Herr Qualls Gesicht that überrascht, aber es färbte sich
dunkler. »Ah so,« sagte er, »ich hab’ das aus Versehn mit aus der
Tasche gezogen. Na, meinetwegen könnt Ihr es behalten.« Und mit einer
abermaligen Drohung im Ton: »Also gewählt wird! So was thut man, wenn
man etwas auf sich hält, schon aus freien Stücken!«
Der Arbeiter blinzelte verdutzt dem Kaufmann nach, dessen Stimme schon
wieder im Lagerraum kommandierte. Dann fielen seine Augen auf das
Geldstück, das im Sonnenschein funkelte. Es lag gerade in dem Spalt,
wo eine Axt zuletzt gewütet. Durch sein Hirn zuckte ein Verdacht: —
Bestechung? Es ist eine blanke Mark, so viel als ein Tagelohn, der
Kaufmann ist knauserig und verschenkt keine Mark ohne Gegenleistung ...
Bah, welch ein Wesen sie aus der lumpigen Wahl machen! Vielleicht hätte
ich ohnedem gewählt! Wen, ist gleichgültig. National heißen sie ja
beide!
Endlich nahm er das Geldstück und steckte es samt dem Zettel in die
Tasche. Es ist wie vom Himmel gefallen, gerade zur rechten Zeit!
Am anderen Tage rasierte er sich also und ging zur Wahl. Er will auch
etwas thun für das Geld! — Er ist ein ehrlicher Kerl! Natürlich
braucht niemand davon zu wissen: — es ist nicht ganz geheuer. Am Abend
aber wurde das Markstück, das ein Notloch zu stopfen bestimmt war, in
dem Triumph über den Erfolg seiner Stimme mit Schnaps hinabgespült. —
Das ganze Städtchen sprühte vor Alarm wegen des Stimmenkaufs. Herr
Quall that großspurig überlegen: wer will ihm das beweisen? Ho, er wird
der frechen Lüge schon das Handwerk legen! In Gegenwart von Zeugen
stellte er den Gottlieb Simmel: »Hab’ ich Ihnen ein Geldstück gegeben
mit der Weisung, deutschnational zu wählen?«
Der völlig verstörte Simmel wiegte verneinend den Kopf.
»Könnten Sie das vor Gericht beschwören, Simmel?«
Der Arbeiter besann sich, blinzelte, that einen Seufzer.
»Ja oder nein?« fuhr ihn jener energisch an.
»Ja!« nickte der andere. Es überlief ihn heiß. Aber unser Herrgott ist
Zeuge, daß er von dem Kaufmann kein Geld erhalten mit jener Weisung!
Recht muß Recht sein ...
Herr Quall schüttelte also den schändlichen Verdacht in seiner
kräftigen und geräuschvollen Weise schnell ab, wie ein Pudel, den
man ins Wasser geworfen, die Nässe aus seinem Pelze schüttelt. Den
nichtsnutzigen Ladenjungen, den er beargwöhnte, das listige Manöver
mit dem Markstück beobachtet und herumgebracht zu haben, jagte er zum
Teufel. Er steckte seine drohende Faust heraus: »Jede noch so verblümte
Andeutung wird einfach ans Gericht gebracht!« Herr Quall fackelt nicht!
»Und wenn wirklich?« höhnt er. »Wenn das Stimmvieh so dumm ist und sich
kaufen läßt ...«
Bei Gottlieb Simmel aber blieb die Schande hangen und ließ sich nicht
mehr abschütteln. Fortan war er geächtet bei Klein und Groß. Er wollte
sich in der Kneipe auf eine Bank setzen — die anderen erwiderten
nicht einmal sein Nicken; sie rückten auffällig von ihm ab — der Wirt
stapfte mit einem verächtlichen Blick das Glas Klaren vor ihm auf
den Tisch — nun flogen allerlei Anzüglichkeiten durch den Raum —
»Stimmen kauft!« plärrte einer im Ton eines Straßenverkäufers. — »Wie
stehn sie denn heute?« wandte sich ein anderer frech grinsend an den
Geächteten. — »Es giebt ’er, die kein’ zwei Pfennig wert sein!« —
»Pfui!« entrüstet spie einer aus. Simmel stürzte den Klaren hinab und
machte sich davon.
Er fand sich bei einem seiner regelmäßigen Arbeitsgeber ein. Die Magd
meldete ihn. Aus dem Speisezimmer donnerte jemand: »Er soll sich
fortscheren! Hier wird nicht mit Stimmen geschachert!« Die Magd schlug
ihm die Thür zu, als wäre er ein räudiger Hund.
Das war ein Freinationaler. Natürlich wollen die nichts von ihm wissen!
Doch an einer anderen Arbeitsstelle ging es ihm nicht besser. Das war
einer von der Gegnerpartei — der fürchtete, sich zu kompromittieren.
»Simmel, alter Freund, Ihr habt Dummheiten gemacht! Stimmen sind keine
Reiserbesen, mit denen man von Haus zu Haus hausieren geht! Ich habe
leider keine Verwendung für Euch!«
Ein Zorn wallte ihm zum Kopf, als er abermals vor der zugeschlagenen
Thür stand. »Teufel des Teufels! Was bin ich denn für ein Verbrecher?
Was hab’ ich denn begangen?« Es ward ihm ganz wirr im Sinn.
Zu Hause wartete seiner die Hölle. Seine Frau war außer sich. Auch sie
hatten die Weiber in Acht gethan, wie ihn die Männer. Auch vor ihr
wurde verächtlich ausgespieen, arge Schimpfworte prallten gegen ihre
Thür; der ganze Hof hing voll Skandal.
»Sag’ mir doch die Wahrheit, Gottlieb!« flehte sie ihn an. »Was ist es
doch? Du mußt was Fürchterliches begangen haben?«
Mit gebrochener Stimme berichtete er zum zehnten-, zum zwanzigstenmal
den Hergang der lächerlich einfachen Sache.
»Es ist nicht wahr! du lügst!« schrie sie ihn an.
Er nickte stöhnend — er weiß nichts anderes! Sie überhäufte ihn mit
Schmähungen, denselben, die ihr die anderen Weiber zugeschleudert.
Wehrlos saß er da. Einmal reckte er die gekrallten Hände mit einem
Wutausbruch in die Luft: daß man es doch fassen könnte, das unsagbare,
unerklärliche Verbrechen!
»Warum kommt man denn nicht, um mich festzusetzen, wenn ich so ein
Verbrecher bin!« rief er verzweifelt.
Er wartete auf den Gendarm, als wenn der Erlösung brächte von dem
entsetzlichen Bann. Aber der Gendarm stellte sich nicht ein.
Der älteste Bub kam aus der Schule, heulend, mit blutig zerschlagenem
Kopf. Eine Rauferei — und weswegen? Die Kinder haben dem Kind das
Verbrechen seines Vaters vorgeworfen! Sie wissen eben so wenig, was es
ist, aber der Haß ist nicht minder giftig, als bei den Großen.
Simmel stürzte fort auf die Polizei. Hier ist er! Sie sollen ihn doch
ins Loch schmeißen! Er wünscht, seinen Fall gerichtlich untersucht zu
haben!
Man grinste über den närrischen Kauz. Mit schneidendem Hohn warf man
ihm den Bescheid hin: »Für Sie giebt es keinen Paragraphen!«
Kein Paragraph für ihn und sein Verbrechen! Aber die Strafe muß er
erdulden — man läßt ihn mit den Seinen einfach verhungern!
Dennoch giebt es eine Gerechtigkeit! Der liebe Gott hält es nicht mit
seinen Ächtern! Der will nichts von dem Verbrechen wissen!
Simmel fand schließlich eine Stelle, die ihn für die nächste Zeit aus
der bittern Not rettete. Der Chaussee-Aufseher dingte ihn in Taglohn,
dem allgemeinen Bann zum Trotz. Oder war es etwa, weil der alte
Biedermann von einem Beamten taub war und somit außerhalb des Klatsches
stand, daß der Arbeiter Gnade bei ihm fand?
Da draußen auf der einsamen Chaussee erreichte ihn die Ächtung nicht,
und er war wenigstens von der Hungerstrafe erlöst. Er fühlte wie
das Erwachen von einem schwülen Alp. Auch schien die ganze unselige
Geschichte allmählich zu versickern.
Acht Wochen waren vergangen. Der Reichstag war längst eröffnet. Der
deutschnationale Abgeordnete Schwatzler heimste seine ersten Lorbeeren
als schlagfertiger, in allen Sätteln gerechter Redner ein. Da wurde
eines Frühmorgens unter der Thür der Simmelschen Kammer von unbekannter
Hand ein Zeitungsfetzen hineingeschoben. Unter den »Parlamentarischen
Nachrichten« war eine Notiz mit dickem, hämischem Tintenstrich
ausgezeichnet.
»Wie wir hören, wird die Wahl des Reichstags-Abgeordneten Schwatzler,
der bekanntlich seiner Zeit mit einer Stimme Majorität siegte,
nachträglich von der Wahlprüfungs-Kommission beanstandet. Es handelt
sich um die Stimme eines Arbeiters Namens Simmel, zu ⁂,
die seitens eines Vorstandsmitgliedes der deutschnationalen Partei
zu Gunsten des Obengenannten für 1 M. gekauft worden sein soll. Eine
Untersuchung ist im Gang; wir werden interessante Dinge zu hören
bekommen.«
Der Teufel ist also wieder los! Gottlieb Simmel bebte vor Wut und
Schreck. Es ist das Verhängnis dieser Stimme, das hinter ihm herhetzt.
Das da draußen auf der Chaussee war nur eine kurze Gnadenfrist. Er
weiß, das Verhängnis wird ihn in einen Abgrund hineinhetzen ...
Er wankte also, ganz verstört in seinen Sinnen, zur Arbeit auf die
Chaussee hinaus. »Es giebt keinen Paragraphen für Sie!« Das gellte ihm
stundenlang im Ohr. Das ist so gut als: er hat kein Recht zu atmen und
zu leben!
Gegen Mittag fand sich der taube Chaussee-Aufseher ein. »Simmel,« ruft
er überlaut, obgleich er zu flüstern wähnt, »Simmel, es thut mir leid,
aber ich muß Ihnen kündigen« —
Das übrige hört der Simmel nicht mehr. Es tanzt ihm vor den Augen.
Mechanisch hackt er noch eine Weile in dem harten Straßenkot. »Kein
Paragraph — kein Paragraph!« immer lauter, immer unheimlicher surren
und schwirren ihm die Worte im Ohr. Mechanisch setzt er die Beine und
schlenkert die Chaussee entlang nach Haus.
Unweit des Städtchens war eine kleine Baumpflanzung, die jetzt im
herrlichen Smaragd des jungen Frühlings prangte.
Simmel bog vom Wege ab, nach der Pflanzung hin. Seine stieren, wie
betrunkenen Blicke flogen an den Ästen der Bäume empor, als wenn er da
droben etwas suchte, das für ihn paßte. Endlich hatte er es gefunden.
—
Unter den »Parlamentarischen Nachrichten« stand drei Tage darauf
folgende Notiz:
»Wie wir hören, ist die Untersuchung wegen des ominösen Stimmenkaufs
in ⁂ niedergeschlagen, da sich der Hauptbelastungszeuge
erhängt hat. Die Wahl des Abgeordneten Schwatzler dürfte somit keine
Anfechtung mehr erfahren.«
Des Kaisers Fünf
[Illustration]
»Numero zwei!« sagte mein Vater und tippte mir von hinterrücks mit dem
Finger auf die Schulter, während sein Kopf nach dem offenen Fenster
hinübernickte, mit einem feinen wetternden, ironischen Ausdruck um die
bartlosen Lippen, der mir überhaupt nie gefallen hatte.
Das Fenster unserer gemeinsamen Kontorstube stand auf, und über die im
Sonnenduft flimmernden Gärten hinweg kam aus der Ferne in regelmäßigen
Pausen ein dumpfer Donnerhall.
»Hm!« nickte ich mißmutig dagegen, nur kurz aufschauend. Es war an
diesem Tage wirklich viel zu thun in der Korrespondenz, und ich duckte
den Kopf mit emporgezogenen Schultern wieder tiefer auf meine Arbeit
nieder. Sehr hübsch und patriotisch von Papa, daß er sich die Zeit nahm
und nun halblaut die fernen Kanonenschläge zu zählen begann!
»Das laß ich mir doch gefallen — so ein Prinz Wilhelm! — Nun schon
der zweite binnen Jahresfrist!« fing er wieder an, offenbar durch
mein gleichgültiges Wesen geärgert. »Bum! Achtzehn — neunzehn! — Wie
deutlich man den Schall diesmal vom Lustgarten her vernimmt — zwanzig!
— ich dächte im vorigen Jahr, bei dem ersten Prinzen, klang es nicht
ganz so klar herüber —ein—und—zwanzig—zwei—und—zwanzig —«
Ja, ich war ärgerlich, ich vermochte nicht in meines Vaters Jubel
einzustimmen. War dieser Jubel ein rein sachlicher und die Begeisterung
für das kräftige Gedeihen des Hohenzollernstammes nicht etwa
absichtlich übertrieben, in Anbetracht seiner sonst so ruhigen und den
mancherlei Fährnissen des Lebens gegenüber nicht aus dem Gleichgewicht
schlagenden Art? O ich merkte es wohl: es geschah mir zum Tort! —
eine herrliche und eindringliche Gelegenheit, mir meine beharrliche
Kinderlosigkeit aufzutrumpfen ....
Mir und meinem herzigen, lieben, braven Frauchen, die gewiß ebenso und
noch mehr darunter litt, daß sich über unserm Dache immer und immer
noch kein Rauschen von Storchesflügeln einfinden wollte. Denn seit
vier Jahren harrten wir dieses Rauschens. Und die ganze Familie mit
uns. Ich konnte es meinem guten Vater nicht verargen, wenn ihm diese
Großpapahoffnung all sein Fühlen und Denken immer eindringlicher und
hartnäckiger versetzte. Stand doch auch die Zukunft unseres alten
Geschäftshauses in Frage — unser Stamm würde mit Papa und mir
aussterben, wenn auch der Name bliebe, denn wir trugen, obgleich in
Berlin eingewandert, einen in der Berliner Luft sehr verbreiteten Namen.
Aber was war zu thun? Geduldig weiter zu harren und zu hoffen! Wenn nur
nicht der Kummer über das ausbleibende chimärische Glück bedenklich
an dem soliden Glücke zu rütteln begonnen hätte, das wir greifbar
in den Händen hielten. Diese steten Anspielungen; diese fast brutal
offenen Fragen, die an allerlei Gedenktagen herausplatzten; und die
Kontrolle, die fast ans Polizeiliche streifende Überwachung der biedern
Tanten- und Basenschaft! Zuletzt waren wir beiden unschuldig-schuldigen
Verbrecher so argwöhnisch geworden, und überall, in sonst ganz harmlos
klingenden Fragen und Bemerkungen, in Blicken und Mienen witterten wir
die Anklage.
Z. B. am Neujahrstag. Ist es nicht zum verzweifeln, wenn Papa während
unseres gemeinsamen traditionellen Familienfestessens wohl zehnmal die
Bemerkung über den Tisch wirft: »Ja, ja, was wird uns das neue Jahr
nicht für Überraschungen bringen ....« in allerlei Tonart, murmelnd,
schmunzelnd, nachdenklich, dann vom Klang der Gläser begleitet, sogar
in einem gewissen energisch ermunternden Ton. Und beileibe nicht aller
Augen verstohlen oder offen nach uns beiden hinzielend! Beileibe waren
~wir~ ja gar nicht damit gemeint!
Z. B. wenn mein Frauchen ihre Schwiegermama besucht. Die rundliche,
kleine, weiche Hand der in allen Dingen maßvollen und durchaus nicht
schwiegermütterlichen Dame streichelt sanft, mit linder Zärtlichkeit
meiner Frau über das Oval der Wangen, wobei sich die untersetzte Figur
etwas herausrecken muß — keine Frage, höchstens ein kaum verlautbares
»nun?« Aber Mamas eigenartig grellblaue Augen fragen um so deutlicher,
ob es denn noch immer nichts zu beichten gäbe.
Z. B. bei Tante Eckberte. Sie war eine besondere Respektsperson in der
Familie, eine alleinstehende Dame von ausgesprochener Erbtantenwürde,
auf das vorsichtigste von uns allen behandelt, als wäre sie das
kostbarste Porzellan. Sie hatte »das Geld« — als wenn wir nicht alle
zur Zufriedenheit davon besäßen! — aber dieses Geld von ihr strahlte
etwas wie eine Gloriole aus, in der sich mancherlei Hoffnungen sonnten.
Doch schien ihr von uns allen niemand so besonders geeignet oder gar
würdig, dereinst nach ihrem Ableben — Gott erhalte sie noch lange!
— von solchem Sonnenschein überschüttet zu werden, niemand als das
Kommende, sehnsüchtig Erwartete — mochte es auch nur ein Nichtchen
sein, denn sie bestand nicht so dringend auf der Fortsetzung des
Mannesstammes, einerlei, ihr Vorname würde sich so gut auf ein »er« wie
eine »sie« übertragen lassen. Und das war Bedingung, schien sie doch
in ihren Namen verliebt: — »nicht wahr, mein Söhnchen,« sagte sie zu
mir, »Eckberte ist der schönste Name, ich möchte wohl, daß ihn noch ein
anderer in der Familie trüge, ich möchte das wohl noch erleben.«
Und ihre überaus klugen grauen Äuglein glitzerten mit einer gewissen,
naiven, verschmitzten Begehrlichkeit dazu.
Ja das war ausgemacht: »wenn« — dann sollte und mußte »es« Eckbert
oder Eckberte heißen. Emmy hatte sich lange genug gegen diesen
außergewöhnlichen, seltsam stachelichten Namen gesträubt, es hatte
sogar Thränen deswegen gegeben, damals, vor Jahren, als unsere
Hoffnungen noch nicht mit beharrlicher Enttäuschung vergällt waren. Nun
waren wir einig, längst einig über diesen Namen, es fehlte nur noch das
Köpfchen dort in jener imaginären Wiege, das ihn uns abnähme ....
Da schien mir doch Onkel Gustavs zutappende Art tausendmal lieber. Er
war der Bruder meiner Mutter, ein Major a. D., der seine Muße damit
ausfüllte, in seinem Villengarten zu Charlottenburg Rosen zu züchten,
sonst aber eine durchaus nicht blütenzarte Persönlichkeit. Also ein
energischer Schlag seiner rauhbehaarten Rechten auf meine Schulter:
»Na, Alterchen, was machst du? Immer noch nichts zu taufen? Na mach’
doch kein so saures Gesicht! Komm her, wir wollen einmal anstoßen —
sollst meinen Neuen kennen lernen, ein Graacher von 76 — hui! (und
er stieß einen Pfiff des Entzückens aus) — Prosit also auf Euren
Nachexercierer!«
Und nachdem wir von dem wirklich köstlichen Tropfen tüchtig genippt:
»Übrigens viel Schererei mit solcher Krabbelgesellschaft!« Er deutete
mit einem kräftigen Seufzer auf den jüngsten seiner drei Söhne, die er
in der Armee hatte, »ein Schwerenöter, der die Haare auf seines Vaters
Kopf nicht verschont mit seiner Schuldenpassion!« Allerdings hatte
das leichtlebige Vetterchen auf diesem Boden stark geweidet, nach des
Onkels leuchtender Glatze zu urteilen.
»Fünf—und—zwanzig — — sechs—und—zwanzig!« zählte mein Vater
weiter, immer schärfer accentuierend. »Ich bin doch neugierig, ob es
ein Prinz oder eine Prinzessin wird —«
Ich zuckte stumm die Schultern und fuhr in meiner Arbeit fort. Er wurde
immer lebhafter, je mehr die Kanonenschüsse sich der entscheidenden
Zahl näherten. »Eine Prinzessin zur Abwechselung wäre auch ganz nett —
sieben—und—zwanzig — bum! das war ein gehöriger Knall! — na macht
doch vorwärts, da draußen!« rief er nach dem offenen Fenster hin, mit
komischer Ungeduld.
Jetzt noch drei, dann zwei Schüsse — »Dreißig!« rief er feierlich.
Dann still, erwartungsvolles Schweigen ringsum, selbst das Bienengesumm
im Garten schien anzuhalten, um zu lauschen, ob es eine Prinzessin und
damit das Freudenschießen zu Ende.
»Bum—mm!« Ein Kanonenschuß, so freudig laut erschallend, daß das Glas
dort auf der Wasserkaraffe ein leises Klingeln bekam.
»Bumm!« Mein Vater schlug dabei mit der Hand auf das Pult — »hurrah,
ein Prinz! Numero zwei! Famos! Herrlich! — Na, freust du dich denn
nicht mit, Junge?«
»Famos, Papa —« drückte ich kleinlaut hervor, mit einem erzwungenen
Lächeln.
»Was wird sich der alte Kaiser freuen!« meinte mein Vater.
»Na ob!« erwiderte ich. Diesmal war es doch keine bloße Anspielung von
Papa. Welch ein unausstehlicher Egoist bin ich doch, daß ich mich nicht
einmal von Herzen zu freuen vermag über fremdes Glück — da es doch
sogar ein Kaiserglück ist!
An Arbeiten war nicht mehr zu denken, solange der dumpfe Donner der
Kanonenschüsse nun durch die Luft daherrollte. Und es wollte eine
Ewigkeit dauern, bis der Prinz seine ihm zustehende Schußzahl erhalten.
Oft schienen sich die Schläge zu beeilen, dann kamen wieder um so
längere Pausen. Papa zählte nun nicht mehr mit, desto andächtiger
lauschte er, und jeder Schuß zitterte wie ein froher Schein über sein
Antlitz.
Wie würde er sich erst freuen, »wenn« — ach, dieses »wenn!« Mit einer
krampfhaften Anstrengung, der dummen, quälenden, neidischen Anwandlung
Herr zu werden, rief ich plötzlich »Neunundsechzig!« und horchte, und
zählte weiter — es war das beste!
»O wir sind ja viel weiter,« fiel Papa ein. »Du brauchst keine Sorge zu
haben, die dort verzählen sich schon nicht.«
Mein Trotz aber hieß mich weiterzählen, aufs Geratewohl, ins Blaue
hinein. Plötzlich hörte das Schießen auf. Wieder die Stille, eine so
seltsam feierliche Stille, die allmählich erst wieder von dem vielerlei
Tagesgeräusch überdeckt wurde.
Papa nickte mir zu, und ich nickte zurück über das Pult. Dann senkte
er den Kopf, um die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Aber ich
merkte seinem hastigen Gekritzel an, wie erregt er war. Jetzt schwellte
ein Seufzer seine Brust — verriet der nicht nur zu deutlich, welch
eine Enttäuschung sich unter all der lauten Freude versteckt gehalten,
um nun in der Stille doppelt fühlbar zu werden!
Ich war froh, als der Schlag unseres Regulators mich aus dieser Pein
erlöste. Mein gutes Weib ... der Gedanke an sie begleitete mich durch
das Gewühl der Straßen. Sie wird die Schüsse ebenfalls vernommen haben
— und was hat sie dabei empfunden! Im Grunde eine Thorheit, sich
darüber zu grämen — waren wir denn nicht glücklich? lebten wir nicht
in Eintracht und Treue?
Aber die Gaukelei dieser hergezauberten Glücksbilder wollte nicht
recht wirken hier auf der Straße. Schien es mir doch, als hinge ein
verklärender Schein auf all den sonst von Geschäftsnot und erbärmlicher
Eigensorge verzerrten oder verhärteten Gesichtern. Sie gedachten des
neugeborenen Prinzen .... Zitterte nicht immer noch der Freudendonner
durch die blaue Luft? Leuchtete nicht das Grün der Bäume so festlich?
Wie ein körperlich schwerer Schatten fiel es über mich, als ich
unsere Hausthür durchschritt und das zum Frösteln kühle Treppenhaus
hinanstieg. Es war so still in der Wohnung, und meine Tritte knarrten
hart und aufdringlich, aber eine andere Stille als jene voll Freude
vibrierende, die dem letzten Kanonenschuß gefolgt.
Emmy erhob sich von ihrem Lieblingsplatze dort in dem von Gewächsen
und Blumen gefüllten Erker — führte sie nicht selbst, die Kinderlose,
solch eine Art Blumendasein? Ihre Arbeit in der Hand, schwebte sie auf
mich zu, mit einem feinen Lächeln des Willkomms; um ihr goldblondes
Haar flimmerte das Tageslicht, und ihre großen dunklen Augen strahlten
mir entgegen.
»Du kommst heute etwas früher, Kurt?«
Ach, ihre liebe Stimme, die mir wie eine Rührung zum Herzen drang!
Und ich umarmte sie lange, länger und inniger als sonst. Als sie ihr
Köpfchen von meiner Schulter erhob, glaubte mein argwöhnischer Blick zu
bemerken, daß ihre Augenlider gerötet waren — gewiß hatte sie geweint,
und — — »deshalb!«
Aber kein Wort davon, bis wir an unserm Mittagstische saßen. Noch nie
war mir diese Tafel so ungeheuerlich groß erschienen; die Aussteuer
hatte wohl auf ganze Reihen kleiner Gäste gerechnet; wie verloren kamen
wir uns vor, wenn wir so die eine Ecke besetzt hielten, und die weiten
Flächen des Tischtuches sich in schneeiger Einsamkeit vor uns breiteten
— ja heute schien die Tafel sich noch besonders gereckt und gedehnt zu
haben.
Ich nahm mir Mut und sprang offen gegen das Thema an: »Du hast doch den
Kanonendonner gehört, Emmy, mein Liebling?«
Sie nickte: »Ein Prinz, ich weiß — der erste ist kaum ein Jahr alt —«
Sie gab sich Mühe, die Freude zu heucheln mit ihrem erzwungenen
Lächeln. Wie süß sie aussah! wie köstlich sie blühte in ihrer
Gesundheit, in ihrer von keinem Hauch getrübten Schöne! Eine Art Zorn
flog mich an, und zwischen den Zähnen drängte ein leiser Ruf hervor,
der fast wie eine Drohung klang, eine Drohung gegen das Schicksal ....
Ich faßte ihre weiße warme Hand und preßte sie: »Na nimm dir es nicht
zu Herzen, mein liebes, armes Weibi —«
»Arm« hatte ich sie genannt! Gewiß war sie arm, einsam und arm trotz
meiner Liebe — wiesen nicht die Finger der ganzen Verwandtschaft auf
diese Armut hin? Das Wort hatte sie getroffen, in ihren Augen schwollen
Thränen, und der letzte Zwang des Lächelns verzitterte um ihre Lippen.
Ich war aufgestanden und hielt ihr schluchzendes Köpfchen in meinen
Händen: — »Eine Dummheit! Eine Lächerlichkeit! I was werden wir uns
das so zu Herzen nehmen! — komm, komm her! — ich hab’ dich lieb, du
liebst mich! — wir beide, ach wir beide! — ist das nicht genug?«
Sie wehrte leise, mit einem Wiegen ihres Kopfes, und schluchzend
brach ihr lange verhaltener Schmerz hervor. O sie hatte es längst
gemerkt, wie sie bei unserer Familie nicht für voll angesehen würde
— »deswegen!« Papa und Mama und Tante Eckberte hatten ja nur einen
Gedanken — — »den!« Sie wäre ihnen allen die bitterste Enttäuschung!
Und es würde nur noch schlimmer werden, je mehr die Aussicht schwände.
»Du selbst, Kurt, — du sollst sehn — du selbst wirst mich zuletzt
nicht mehr lieb haben!«
»Wa—a—as?!« Ich lachte hell und übertrieben kräftig auf.
»Du bekommst es auch einmal satt, fort und fort auf den Vorwurf bei den
Deinen zu stoßen —« schluchzte sie weiter.
»Na, du Närrchen, wer sagt denn, daß wir diesen Vorwurf nicht noch
eines Tages tüchtig zu Schanden machen.« Ich zählte ihr verschiedene
Fälle aus unserm Bekanntenkreise auf. »Und nun komm! Wir müssen uns
selber verlachen wegen unserer Thorheit! Und sag’ einmal, Liebling,
Weibi, ist das wohl patriotisch? Geschwind nimm dein Glas! Statt
anzustoßen auf das Wohl unseres jüngsten Prinzen, sitzen sie und
jammern und verzagen! — da soll doch gleich ....«
Und ich ergriff mein Glas und hielt es gegen das ihre; zögernd nahm sie
das, und das anstoßende Krystall gab einen hellen, freudig klingenden
Ton.
»So ist’s recht! Und nun kein Wort mehr davon! Ich hab’ dich lieb —
du hast mich lieb — von einer Chimäre laß’ ich mir meine Liebe nicht
über den Haufen werfen! Auf die Gesundheit also des kleinsten aller
Königlichen Hoheiten!«
Durch ihre Thränen lächelte sie innig, während der Wiederschein des
goldgelben Rheinweines wie Sonnenlicht über ihre Züge flimmerte. —
Ein Jahr darauf kam ich zufällig über den Opernplatz nach dem Schloß
zu, als gegen die Museumsseite des Lustgartens sich Auflauf und Gedräng
bemerkbar machte. Was fragte ich noch? — es war jährig! es war wieder
Juli! — natürlich ein neuer Prinz! Soeben ist die Artillerie dort
am Anfahren, um auch diesem Sproß am kräftigen Hohenzollernstamm den
hundertfach dröhnenden Willkommgruß zu entbieten.
Da packte mich ein lächerlicher Zorn. Jetzt ins Kontor? Nimmermehr!
Damit mir Papa abermals wie im vorigen Jahr auf die Schulter tippt, mit
seinem höhnischen »Numero Drei, mein Junge!« Abermals soll ich die Qual
von hundert und ein Kanonendonnern wehrlos ertragen, jeder Schlag eine
Mahnung und ein Verweis. Schießt Ihr, so viel Ihr wollt, ich mach’ mich
davon ....
Hüpfte also eilends in eine »Erster« und befahl dem Kutscher, die
Linden herunter zu jagen — wohin? — nun einerlei, nach dem Tiergarten
zu, tief in den Tiergarten hinein! Der Kerl auf dem Bock blickte mich
unter dem Lederrand seines Hutes etwas verwundert an: ich wollte mich
doch nicht etwa totschießen dort im Gebüsch — und so eilig?
Aber die Kanonenschüsse waren schneller als mein Droschkengaul. Jetzt
schütterte der erste Donner durch die Luft. Die Leute auf dem Trottoir
blieben stehn und horchten, andere nickten, die wußten schon — wieder
breitete sich der freudige Schein über die Gesichter, wieder bekam das
Grün der alten Linden ein so festliches Ansehen. Und Schuß auf Schuß
mir nachjagend in den Tiergarten hinein, ja dort in der Waldesstille
hallte es erst recht deutlich über den Wipfeln. Umsonst dieser Qual zu
entfliehen!
Vielleicht war es nur eine Prinzessin, und das Geschieße hatte bald ein
Ende. Da wandte mein Kutscher seinen breiten Rücken ein wenig herum und
warf über die Schulter die Bemerkung hin: »Is schon wieder’n Prinz —
dacht’ ick mir doch!«
»Wieso? haben Sie gezählt?« rief ich dagegen, und meine Stimme mochte
wohl die Erregung nicht verbergen.
»Ick wußt’ schon, auch ohne zu zählen — bei’n Prinzen Wilhelm is det
schon nich’ anders. Jedet Jahr eene Nummer — lauter Jungens! —«
»Fahren Sie um den See herum zurück!« befahl ich. Hatte ich wohl nötig
gehabt, in den Tiergarten zu entfliehen, um mir den Prinzen Wilhelm als
ein vorbildliches Muster auftrumpfen zu lassen? Das hätte ich auch im
Kontor haben können!
Doch der Schreckliche dort auf dem Bock ließ nicht nach. Der
Kanonendonner reizte seinen eignen Vaterstolz; nach einer Pause wandte
er sich abermals herum: »Stücker acht hab’ ick och. Nich lauter
Jungens, Mächens müssen och sind. Det wird Prinz Wilhelm och insehn
dhun, und det nächste Jahr um die Zeit, wann sie wieder knallen, da
können se wat mit’s Pulver sparen — nu is en Mächen dran.«
Genug! Welche Aussicht! Ich fürchtete damals, der Mann möchte recht
haben mit seiner Prophezeiung der Prinzen-Serie. »Jedet Jahr ene Nummer
....« Jedes Jahr wohl ungefähr um diese Zeit würde ich mir meine eigne
Kinderlosigkeit mit Kanonengeknall vorwerfen lassen müssen! Es war zu
viel! Ich gab dem Kutscher die Adresse unserer Firma an — ich wollte
hin, mich an das Pult setzen und dem Angriff von der anderen Seite
energisch stand bieten — ich wollte mir dergleichen Anspielungen und
Trümpfe ein für allemal ernstlich verbitten.
Unterwegs aber stellte sich mir immer deutlicher die vorigjährige Scene
an unserm Mittagstische dar. Mein armes Weibchen — diesmal würde
sie noch ganz anders unter dem alle Poren des Hauses durchdringenden
Kanonendonner gelitten haben! Denn die unselige geheime Gegnerschaft,
die sich innerhalb meiner Familie gegen sie gebildet hatte, war im
Laufe dieses Jahres noch gewachsen. Es klingt grausam, dennoch muß
ich die alten Leute nicht ganz ohne Verteidigung lassen. Meines
Vaters Stammesbewußtsein litt unter der Aussicht, daß unsere Familie
ganz verlöschen müßte; die Firma, die alte, angesehene Firma, die
den Wandlungen von Jahrhunderten zu trotzen schien, so fest war sie
gegründet, sollte in absehbarer Zeit an andere Namen und Menschen
übergehen — die fixe Idee dieser enttäuschten Großvaterhoffnungen war
in ihrer Beharrlichkeit wohl erklärlich, mußte sie nicht im Gegenteil
immer mehr an Schärfe und Bitternis zunehmen? Die ganze Familie war
zuletzt auf diesen Ton gestimmt, die Sticheleien mehrten sich, immer
deutlicher die Anspielungen, immer häufiger die Verstimmungen zwischen
uns Verbrechern und dem Gros der andern Partei. Unser Argwohn lauerte
auf Schritt und Tritt der neuen Demütigung. Ja, als eine andauernde
Kränkung empfand es meine gute Frau. Sie hatte recht gehabt: man
sah sie nicht für voll an in unserer Familie; allerlei dumme kleine
Geschichten, die vor unserer Ehe gespielt und die das entsetzliche
liebe Mein und Dein betrafen, wurden ausgekramt, von neuem wurde an
ihrer Mitgift gemäkelt und die Standesgemäßheit meiner Heirat, über
die der Adel einiger Hunderttausende von Mark zu entscheiden hatte,
abermals auf die Wagschale gelegt. Zwar nicht vor unsern Augen, doch
der Klatsch wisperte uns dies und das ins Ohr, die Dinge natürlich
vergrößernd.
Unsere Besuche hatten sich mehr und mehr auf festliche Gelegenheiten
eingeschränkt. Da unterstanden wir aber auch um so erbarmungsloser dem
Gemäkel und der Kritik der ganzen Verwandtensippe. Ein böses Wort
wurde mir zugeraunt: man hätte sich an maßgebender Stelle geäußert,
meine Frau wäre unbedeutend, eine schöne Puppe, die aber nichts
bedeutet. —
Emmy war unter der Last ihres Verbrechens immer stiller geworden,
sie hatte fast ihre alte herzige Fröhlichkeit eingebüßt, wenigstens
ihnen gegenüber. Gewiß lag die Acht meiner Familie wie ein böser
Bann auf ihrem Herzen — kein Wunder, daß die Kritik ein wenig
recht bekam! Freilich bedeutete sie nichts, da sie der Firma keinen
Nachfolger geschenkt — eine Mutter zu sein, ist stets ein Verdienst!
»Unbedeutend« — ein schlimmer Hieb für einen Ehemann, der in seiner
Frau den Ausbund aller äußeren und seelischen Vorzüge anbetete!
Wie immer blieb etwas von solcher Kritik als ein schmerzlicher Stachel
hangen. Auch unser schönes intimes Glück bekam von Zeit zu Zeit einen
häßlichen Hauch. Eine bange Ahnung beschlich mich zuweilen: — sollte
unserer Liebe und unserm Frieden eine Gefahr drohen? Hatte sie mich
nicht vor Jahresfrist gewarnt: »Zuletzt wirst du selbst mich nicht mehr
lieb haben, Kurt —«
Eine ungeheure Angst erfaßte mich plötzlich. »Nicht Markgrafenstraße!«
rief ich dem Besitzer der Acht, »aber nicht lauter Jungens,« zu.
»Fahren Sie Kurfürstenstraße!«
Der lederne Kutscherhut reckte sich kurz auf mit der stummen Bemerkung,
was es doch für Käuze gäbe unter den Fahrgästen; dann in einer
equipagenmäßigen Kurve lenkte das Gefährte zur Seite, um den Kanal
entlang nach meiner Wohnung zu rollen.
Wie ich es geahnt — meine Frau in Thränen! Und welch eine schluchzende
Bitternis, die sich weder durch mein ärgerliches und einen Hohn
heuchelndes Lachen, noch durch meine Liebkosungen beschwichtigen
lassen wollte. Sie mochte kurz vor mir nach Hause gekehrt sein,
das Capotehütchen saß ihr noch auf dem Kopf, die Handschuhe lagen
in der Hast abgestreift auf dem Teppich. Auf der Straße hatte der
Kanonendonner sie wohl überrascht, und all das im Laufe des letzten
Jahres angesammelte Leid brach nun in einer Flut von Thränen aus. Aber
immerhin eine Lächerlichkeit — Gott wie oft muß man das betonen und
beschwören!
Es war etwas anderes, schlimmeres, wie sie mir endlich schluchzend
gestand. Sie hatte also ihrer Schwiegermama einen Besuch abgestattet,
einen rücksichtsvollen Mußbesuch, den sie der alten Dame längst
schuldig gewesen. Auch Tante Eckberte war zufällig anwesend; und dort,
mitten in das Gespräch, war der Kanonendonner hineingefahren. Emmy
wußte sofort, und das Blut war ihr heiß zu Kopf geströmt. Der Wind
mußte so stehn, daß das Gedonner ganz nahe klang — »Der neue Prinz!«
rief Mama nach dem dritten Schuß. Tante Eckberte in ihrer nervös
beweglichen Art war ans Fenster getrippelt, um nur ja nichts von den
kostbaren Tönen zu versäumen — »na aber so was!« kicherte sie wie
in kindlicher Freude, und bei den nächsten Schüssen schlug sie die
Händchen zusammen vor Entzücken.
»Prinzeß Wilhelm, das ist eine Natur! alle Wetter! (sie scheute sich
nicht, ihre innere Kraftart durch ein gelegentliches kleines Flüchlein
zu beweisen). Und schon das dritte! Natürlich wieder ein Junge! — die
Schüsse klingen schon so, als ob es ein Prinz wäre.«
Jetzt erschien auch Papa in der Thüre. Nur ganz kurz: »N’tag, Emmy,
wie geht’s dir?« Und dann gleich losfahrend in seinem auftrumpfenden
Enthusiasmus: »Was sagt ihr nun? Nummer drei! Das ist ja wundervoll! —
das ist ja geradezu verblüffend! — bumm!«
Darauf eine Pause, während der die drei Alten mit Blicken und Nicken
und Ausrufen und signalmäßigen Bewegungen ihr Entzücken austauschten.
O ich konnte mir die Scene genau vorstellen, es bedurfte nur Emmys
Andeutungen! Hatte sie nicht dort vor ihnen gesessen wie eine eines
Verbrechens Angeklagte? Am liebsten wäre sie dem schrecklichen
Kanonendonner und den noch schrecklicheren Bemerkungen entflohen, aber
ihr Urteil mußte ja doch erst deutlich gesprochen werden!
»Na freust du dich denn nicht auch, Emmy?« fing Mama an.
Gleich nachdem Papa: »Wir werden ja nun wohl verzichten, nicht wahr?
— Das Beispiel da zieht eben nicht — na ich weiß, du kannst ja nicht
dafür, aber ....«
Was denn »aber«? Nun sie verlangten ja wohl, daß sich das arme Frauchen
auch duckte wie eine Verbrecherin — man mochte ihr nicht verzeihen,
daß sie ihren Sinn trotzdem stolz und hoch aufrecht hielt, wie es ihrer
prächtigen Art entsprach.
Tante Eckberte aber gab den Trumpf: »Ich werde also meinen Namen
unbenutzt mit ins Grab nehmen — niemand ist da, der ihn haben will!
Wenn mir doch wenigstens der Gefallen geschähe — aber so!«
Dann mit einem listig-anzüglichen Blinzeln ihrer klugen Äuglein, zu
Papa gewandt: »Du, Franz, ich habe mich also entschlossen, daß nach
meinem Tode der Lützowplatz endlich geräumt wird — ich werde in meinem
Testament dafür sorgen.«
Ich kann mir die Wirkung auf meinen Vater und meine Mutter denken.
Wie sie in sich zusammensanken vor Schreck und sprachlos das
unsichtbare Wort »Testament« anstierten. Tante Eckberte’s Testament
— ein Popanz, der von Zeit zu Zeit in unserer Familie auftauchte,
um allerlei Verstörungen darin anzurichten. Die schrullenhafte alte
Dame gefiel sich darin, da sie diese Wirkung kannte, das Schreckmittel
bei angemessenen Gelegenheiten spielen zu lassen. Es gab allerlei
Stiftungen und Verwendungsarten, auf die das ominöse Testament
hinzielte — »mein Geld will von euch ja keiner! — ja wenn Kurtens
(das waren wir) Nachkommen hätten, da braucht’ ich mir nicht meinen
alten Kopf zu zerplagen — aber so!«
Diesmal war es also der Lützowplatz. Man kennt diesen Schandfleck
Berlins, ein herrlicher, zu einem eleganten Schmuckplatz mitten im
vornehmen Westen wie geschaffener Raum, den aber das Besitzrecht eines
Finanzkonsortiums in einer allem Geschmack hohnsprechenden Weise
ausnutzt, indem es ihn an Kohlenhandlungen vermietet und allerlei
hökerhafte Wirtschaften dort duldet. Tante Eckberte war eine Anwohnerin
dieses Platzes; gewiß wäre ihr Andenken ein gesegnetes gewesen im
ganzen Westen, ja in ganz Berlin, wenn sie dem unausstehlichen Zustand
ein Ende gemacht — freilich auf Kosten von uns andern Erbberechtigten.
Es war zu viel! Die Luft war so überladen mit Anzüglichkeitsstoff,
und der Schall des Kanonendonners schien die feindliche Stimmung zu
vermehren — noch ein paar ähnlich spitzige Bemerkungen, dann fand es
Emmy für geratener, das Feld zu räumen. Sie that es mit einem bösen,
häßlichen, nicht ganz pietätvollen Wort, das ihnen die unerhörte
Grausamkeit vorwarf. Hier erst, im eignen Hause, brach der ganze Jammer
los: — ist sie nicht das unglücklichste Weib auf der Welt? Sie will
nie wieder das Haus meiner Eltern betreten! Sie hat nun genug all der
Kränkung! Und erneutes Weinen und Schluchzen. Vergeblich suchte ich sie
zu beschwichtigen: ich wollte mit Papa und Mama ein ernstliches Wort
reden — es ist nur die Schrulle! — sie können doch nicht im Ernst ihr
und mir ein Verbrechen anrechnen!
»Thun sie aber, Kurt!« schluchzte Emmy. »Es kommt noch viel schlimmer!
Sie werden mich ganz verdrängen! Sie werden nicht ruhen, bis ich
abgereist bin! Ich bin ja nichts — ich bin keinen Kanonenschuß wert —
laß mich — ich will fort — ganz fort von hier — es soll mich niemand
wiedersehen!«
Ein Anfall, den ihr meisten von uns Ehemännern wohl kennen möget. Doch
kein noch so wohlgemeintes Hohnlachen und keine Zärtlichkeit half
dagegen.
Hatte sie mich nicht in dies Verbrechertum gestürzt? Nein, sie wollte
nicht schuld sein, daß ich selbst den Herzen der Meinen entfremdet
würde! Wenn es so weiter ginge, so liefe ich noch Gefahr, enterbt zu
werden, und andere schlimme Dinge.
Ich schlug unsanft genug mit der Hand auf den Tisch, daß die
Gegenstände darauf hüpften: »Einerlei, mag kommen, was will — ich
geh’ hin! — ich will mich aussprechen! — ich will doch sehn, ob ich
dieser Lächerlichkeit nicht Herr werde!«
Eine Stunde darauf befand ich mich im feindlichen Lager, das in großer
Erregung war. Emmy hätte sie, die alten Leute, beleidigt.
»Sie wird Abbitte thun deswegen!« fuhr ich heraus — »aber man wird sie
nicht ferner quälen! — und mich nicht!«
Wo und wann hätte jemand irgend eine Anspielung gemacht? Ist jemand
schuld daran, wenn sich alljährlich Kanonen aufpflanzen, um Prinz
Wilhelm einen neuen Jungen anzuschießen? Nie und nirgends wäre auch
nur die Spur eines Vorwurfes gefallen — Emmy’s und mein argwöhnischer
Sinn sähen Gespenster. Ja, fühlten wir uns denn schuldig? »Enttäuscht
sind wir alle ein wenig — aber daran gewöhnt man sich — nicht wahr,
Eckbertchen?«
»I, was werdet Ihr Euch echauffieren — deswegen!« meinte Tante listig
— »ich kann den Lützowplatz ja immer schon als Kinderspielplatz
einrichten lassen inzwischen ....«
Das »inzwischen« brachte uns alle zum Lachen. Sie also hielt an der
Hoffnung fest, die gute, brave Polterin — mit dem Lützowplatz war es
also nur ein Scherz gewesen! Sie wehrte sich gegen diese Auffassung,
aber der Friede war gemacht. Wir wollten uns künftig nicht mehr das
Leben verbittern, es sollte keine Anspielung fallen »inzwischen« —
nicht einmal, wenn Prinz Wilhelm im nächsten Jahr abermals schießen
lassen würde.
»Was unfehlbar eintreffen wird!« rief der unverbesserliche Papa. —
Was aber nicht eintraf, nicht in diesem und nicht im nächstfolgenden
Jahre, wie ihr alle wißt. Aber auch die Hoffnung, die von uns wie
von der gegnerischen Seite in Tante Eckberte’s bedeutungsvolles
»inzwischen« gesetzt worden war, ging ebensowenig in Erfüllung. Weiter
warteten wir vergeblich, daß sich das Rauschen von Storchflügeln über
unserm Dache vernehmen ließe. Und eine stille Resignation bemächtigte
sich unser: sollten wir deshalb mit Harm in die Zukunft schauen, oder
uns gar unsere kostbare Liebe gefährden lassen?
Das Verhältnis zu unsern Eltern hatte sich nach jenem Gewitter am
Geburtstag Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Adalbert leidlich
freundlich gestaltet. Wenigstens im äußeren Verkehr. Eine rührende und
thränenreiche Scene schien den unheimlichen Bann gebrochen zu haben,
und das Schwiegertöchterchen war zu Gnaden und Frieden aufgenommen
worden. War es nicht besser, daß wir gemeinsam an unserer aller großer
Enttäuschung trugen und uns gelegentlich in offenen Worten darüber
ausließen?
Doch alles das nur ein Waffenstillstand! Von Potsdam her, wo Prinz
Wilhelms junges Familienglück eingenistet war, zog ein neues Gewitter
gegen uns herauf. Schon im Sommer des Jahres 1886, bei der ersten
interessanten Nachricht, die vom Marmorpalais her ins Publikum drang,
glaubten wir die Luft vom Kanonendonner erzitternd. O wir hatten uns
wohl, auf die längere Pause vertrauend, zu vorzeitig in unsern Frieden
gewiegt! Nun brach die alte Unseligkeit von neuem los.
Nicht, daß im gegnerischen Lager auch nur eine Andeutung gefallen wäre,
die uns allarmiert hätte. O nein — vollkommenes Schweigen von jetzt
ab, eine Art Abkommen, daß von der neuen Prinzenhoffnung kein Spürchen
erwähnt werde. Das aber gerade war’s! Gerade in diesem Schweigen ließ
sich der gespenstische Kanonendonner um so deutlicher und unheilvoller
vernehmen. Er würde gegen den Winter hin immer lauter heraufschwellen
— um Ruhe und Gemütlichkeit dieser Saison wäre es geschehen! Wir
ahnten, wir wußten, daß eine neue Katastrophe bevorstände. Papa würde
nicht an sich halten, und die altjüngferliche Schadenfreude der alten
Tante Eckberte, die mit listigem Äugleinzwinkern das Thema an seiner
empfindlichsten Stelle anfassen würde! Welch neue Qualen standen uns
bevor!
Nervös — nun ja, wir schwelgten beide förmlich in dieser
Modekrankheit, und sie verbitterte uns unser schönes, stilles, heiteres
Eheglück. Zum Teufel! wegen einiger Dutzend Kanonenschüsse, die in
vielen Wochen vom Lustgarten heraufdonnern sollten ... Wir waren
närrisch! ach, wir waren damals durchaus keine Helden!
Und diesmal mitten im Winter! Im Sommer hätte man dem Geknall
entfliehen können und der unausbleiblichen Katastrophe im Elternhaus.
Wir hätten uns durch Berge und Wälder dagegen schützen können; nun aber
galt es auszuharren und die Narretei nicht gar zu weit zu treiben.
Ach, auszuharren! Zufällig fiel meine offenbare und vom Arzt
beglaubigte Nervosität mit einer gewissen Krisis zusammen, die über
unserm Geschäftsverkehre wetterleuchtete. Papa und ich, wir vermochten
uns diesmal nicht wie sonst immer über die einzuschlagenden Maßnahmen
zu einigen. Diesmal war er es, der gewisse kostspielige Neuerungen
vertrat, während ich in hartnäckigem Eigensinn meine Hand zu solchen
Extravaganzen, wie ich es nannte, nicht bieten wollte. Da gab es Streit
und Widerstreit und heftige Erörterungen von einer Seite unseres
gemeinsamen Doppelpultes zur anderen. Und über all dem Zwiespalt das
unheimliche Kanonendonnern, das näher und näher rückte.
Zuletzt eine Explosion! Aus einem mißstimmigen Schweigen platzte Papa
eines Morgens plötzlich hervor: »Ich weiß wirklich nicht, Söhnchen,
für wen ~du~, gerade ~du~ sparen willst —« (das »du« doppelt und
dreifach unterstrichen!) und einen gewissen zwinkernden Seitenblick
des mit kurzen, grauen, borstigen Härchen bedeckten Kopfes nach mir
hinüber; ein gewisses spöttisches Zucken um die bartlosen, aber stets
glänzend glatt rasierten Lippen, dazu das dreifach unterstrichene »du!«
Es brachte mich außer mir, und innerlich schnellte etwas in mir auf.
»Das brauchst du mir nicht gerade heute vorzuhalten, Papa —« drückte
ich mit einer Anstrengung, ruhig zu bleiben, mühsam genug hervor. »Ich
dächte, das hätte noch Zeit bis zum Januar —«
»Wieso Januar — was meinst du damit?«
O, er verstand durchaus nicht! Er hatte ja beileibe keine Anspielung
»darauf« gemacht!
»Na, zum Januar ist das Schießen wieder fällig, da kann es ja von neuem
über uns losgehen, über mich und meine Frau —«
»Höre Kurt, du bist krank, du siehst Gespenster — das verbitte ich
mir, daß du unser Gerechtigkeitsgefühl antastest! Ist die ganze Zeit
über auch nur ein Wort gefallen — darüber?«
»Allerdings nicht — kein Wort! Aber eure Mienen — euer Schweigen!
Meinst du, wir wären blind und taub?«
»Na, nun soll doch gleich —« und mein Vater schlug mit aufbrausendem
Erstaunen auf einen Pack Papiere, daß es einen klatschenden Lärm gab.
»Hör’ mal, du bist krank, du bist — du bist —« und das richtige, dazu
passende Wort abwehrend, fuchtelte seine flache Hand in der Luft.
»Na, sag’ es nur gleich heraus, was du meinst, Vater. Gewiß bin ich im
Begriff — das zu werden! Und wer ist daran schuld? — Ihr! Ihr! —
Ihr!«
»Da soll aber doch gleich —« der Alte sprang von seinem Drehschemel,
kletterte mit hilflosen Gebärden wieder darauf, schlang seine Beine um
das Schemelbein und schnappte nach Luft — »wir sollen schuld daran
sein, wa—a—as?«
Und ein Staccato von heisern, kichernden Lachtönen.
»Nächstens könnt Ihr es uns ja wieder auftrumpfen,« zischelte ich —
»nächstens läßt Prinz Wilhelm ja wieder schießen —«
»Und wir werden uns von Herzen darüber freuen! Das ist gute
Preußenpflicht! Am Ende gar ist Sr. Königliche Hoheit Prinz Wilhelm
schuld daran — die Geschichte wird immer besser! — hör’ mal, wenn du
solche Angst vor dem Freudenschießen hast, so mach’ dich doch davon!
Eine kleine Luftveränderung würde deinen Nerven gut thun.«
»Thu’ ich auch! Wird sie auch!« rief ich in sprühender Erregtheit, und
mit einem lautschallenden Puff schlug ich das große Buch vor mir zu;
von dem Winde wirbelten einige lose Blätter in der Stube umher.
»Deine Neuerungen mach’ ich ohnedies nicht mit, Vater! Such’ dir einen
andern Beirat!«
Noch ein paar aufprallende Redensarten hin und her. Und ein scharfes,
spitziges Wort, mein armes Weib betreffend, eine Grausamkeit, die ich
Papa nie und nie zugetraut — dann war es genug! Ich verließ das Pult
und die Stube, um für lange Zeit, vielleicht für immer, nicht mehr
dorthin zurückzukehren. Alle Vermittelungsversuche von Mama und Tante
scheiterten an meinem harten Sinn. »Luftveränderung — nun gut — Ihr
sollt sie haben — wir reisen also!«
Übrigens hatten wir ja darin eine Unterstützung durch den Arzt, der
längst schon einen, wenn auch nur kurzen Ortswechsel für »unsere
Nervosität« in Vorschlag gebracht. Auf also und fort! — glaubt ihr
wohl, daß ich närrisch genug war damals, mich wie ein Kind zu freuen,
weil ich auf irgend eine Weise von dem Kanonendonner des neuen Prinzen
erlöst sein sollte?
Und wir flohen, weit, recht weit, bis jenseits des Meeres, bis an
den Rand der Wüste — mochten sie nun donnern, soviel sie wollten am
Lustgarten, wir waren in Sicherheit!
Dennoch sollten wir auch in solcher Ferne nicht ganz verschont bleiben.
Die unseligen Telegraphen und ihre meerdurchspannenden Kabel! Es
war am Abend des 29. Januar 1887; wir waren gerade von einem Ausflug
nach den Pyramiden zu unserm vorzüglichen Hotel Shepherd in Kairo
zurückgekehrt, als das bedeutungsvolle Telegramm mitten in die Table
d’hôte einschlug. Natürlich ein Anlaß für feierfrohe Deutsche, die
Sektgläser schäumen zu lassen! Welch eine Ironie: wir, die wir mitten
darunter saßen und uns nicht auszuschließen vermochten und gezwungen
waren, mit unsern Gläsern einzustimmen in den patriotischen Jubel: —
»Hoch der neue Prinz!« Und welch eine schalkige Stimmung: »Hurrah, die
Nummer 4! Hurrah das drittel Dutzend junger Hohenzollern!«
Am Spätabend jedoch, nachdem wir wider Willen mitgelacht und
mitgejubelt in der mutwillig heiteren Gesellschaft, gab es im Hotel
Shepherd auf einem gewissen Zimmer eine seltsam stumme Rührungsscene
zwischen zwei gewissen Ehegatten. Kein Wort über die Nummer 4 —
keinerlei Anspielung, nur ein langes, lautloses Umarmen: schämten sie
sich nicht ein wenig die beiden Leutchen, ob ihres Kleinmutes, ihrer
Narretei, ob ihrer lächerlichen Flucht ...
Wie mochten wohl unsere Alten da oben in Berlin das Ereignis verbracht
haben? Der Gedanke daran fiel mir schwer aufs Herz. War es nicht
das einfachste, den Groll und Zwist hier im Wüstensande zu begraben
und die Rückreise anzutreten? — Damit uns binnen Jahresfrist der
Kanonendonner von Numero 5 aufs neue davonjagte ....
Nein, meine Nerven waren noch lange nicht wieder in Ordnung! Und mein
Starrsinn nahm also die Gelegenheit wahr, eine sehr günstige Stellung,
die sich mir bei einer großen Handelsgesellschaft in Alexandrien bot,
nicht auszuschlagen. Wer weiß, was sich vielleicht in Jahr und Tag
geändert haben würde!
Freilich gab es gewaltige Änderungen droben in der Heimat. Über dem
Hohenzollernhause zog sich das verhängnisvolle Wolkendunkel zusammen;
in banger Erwartung, zwischen Furcht und Hoffnung, lauschten die Herzen
aller Deutschen nach San Remo hinüber, wo sich die grausam bittere
Tragödie des edlen fürstlichen Dulders abspielte. Wer dachte an eignes
oder eigengemachtes Leid vor solchem, ganz Deutschland bewegenden
Schmerz?
Dann senkten sich die Fahnen Europas, ja der ganzen zivilisierten Welt,
über dem Grabe des greisen Heldenkaisers. Dann setzte sich Kaiser
Friedrich die Dornenkrone aufs Haupt, und Tropfen für Tropfen sahen
wir das Blut rinnen über das blasse Märtyrerantlitz, bis die grausam
bittere Tragödie ihren Abschluß fand in der stillen, grünumschatteten
Friedenskirche zu Potsdam.
Heil Wilhelms II. jungstrotzender Kaiserkraft! Hei, wie sie sich in
den Sattel schwang! Wie sie alle, auch die Widerspenstischsten in ihren
Bann zwang, nach neuen wetterumleuchteten Zielen aufwärts!
Und hinweg mit dem pietätlos lächerlichen Groll, der mich Kinderlosen
gegen das üppig sprossende Hohenzollernglück geplagt! Vier Buben,
ei und das Sprossen am alten Königsstamme will noch lange kein Ende
nehmen. — giebt es nicht zum Juli abermals ein neues Prinzenschießen?
Wie wäre es, wenn wir der egyptischen Komödie ein Ende machten
und unserm Heimweh nachgäben und alles zum Alten kehrten? Nur die
Nervosität vor dem Kanonendonner, die wollten wir im Wüstensande
begraben.
Noch gab es ein Schwanken, als eines Tages ein abermaliges langes und
stilles Umarmen stattfand zwischen zwei gewissen Leutchen. Nicht ganz
stumm: — ein paar zögernd hingehauchte, bebend schämige Worte von den
Lippen des jungen Weibes, das seine glühende Stirn an dem bärtigen
Halse des Gatten barg ...
»Was?! — Nicht möglich! — Wirklich!? Ach, du Liebe, Liebe, Einzige!«
Und ich in der Stube wie närrisch umherjubeln, und mich nicht mehr
lassen können vor unbändiger Freude — wißt ihr, es ging nun ins
siebente Jahr, daß wir vergeblich — »~darauf~« geharrt!
Es war am Mittag des 27. Juli, als ich, von der Anhalter Bahn kommend,
mit meiner Droschke die Friedrichsstraße entlang fuhr; hatte ich es
doch recht eilig gehabt mit meiner Heimfahrt. Plötzlich, im lärmenden
Geräusch, hallte ein dumpfdröhnender Ton von fernher. Die Leute auf dem
Trottoir hielten an und horchten — Fenster öffneten sich, über die
Gesichter flog jener fröhliche Sonnenschein. Mein Kutscher wandte sich
langsam herum, wies mit der Peitsche nach der Gegend des Kanonenhalles
und meinte phlegmatisch wie sein Vorgänger damals: — »Wird wohl Numero
fünfe sind!«
»Fahren Sie so fix als möglich!« rief ich dem Manne erregt zu. Als wenn
sie zu schnell hintereinander knallen könnten und ich die Schwelle des
Elternhauses nicht erreichte, ehe das Schießen zu Ende; — aber es
würden wohl 101 Schüsse werden!
Unter dem Donner eines seltsam lauten Kanonenschusses stürmte ich in
unsere Kontorstube. Wie verstört erhob sich meines Vaters Antlitz aus
den stützenden Händen, und seine blinzelnden Augen starrten mich an wie
eine Erscheinung.
»Papa — t’ag Papa! Ich bin’s! Ja, und mit was für einer Botschaft!«
Wir lagen uns schluchzend in den Armen — bis wieder ein Donner
dazwischen fuhr. Ich riß mich los:
»Siehst du, Papa, deswegen bin ich gekommen! Ich habe mich geeilt
genug! — Herrjeh, was bin ich gefahren! Ich wollte nicht, daß du das
Schießen ohne mich anhörtest. Bumm! Auch für mich und für uns alle! So
Gott will, schenken wir euch im nächsten Jahr auch einen Prinzen. Und
nun verzeih’ mir alles Böse — all das Hohenzollernglück war schuld
daran ...«
Abermaliges Umarmen, und das Gedonner von »Numero fünf«, das unsere
rührenden Auseinandersetzungen begleitete. —
Im Herbst desselben Jahres schlenderte ich eines Abends mit meinem
Weibe durch die Leipzigerstraße. Vor einem bekannten Bilderladen staute
sich eine gaffende Menge; Rufe des Entzückens aus Frauenmund, und ein
Herr rief ein kräftiges »famos!«
Wir drängten uns heran und, zwischen den Schultern der Gaffenden
hindurch, gewahrten wir endlich den Gegenstand der entzückten
Neugierde. Es war eine Photographie in Kabinettsformat, von dem
grellen, hellgelben Gaslichte scharf beleuchtet, jenes seitdem so
volkstümliche Gruppenbild, das die hohe Frau und Mutter mit ihren fünf
kaiserlichen Knaben darstellt.
»Des Kaisers Fünf — —« stammelte ich, und mein Weib schmiegte ihren
Arm inniger und fester in den meinen.
Ich weiß nicht, ob es auch ihr so geschah? — als wir uns endlich
von dem Anblick des wunderhaften Bildes losgerissen und nun auf dem
Trottoir weiterschritten, war vor meinen Augen ein so seltsames
Flimmern und Schwanken — die Menschen, der Schein der Läden, die
Laternen, alles in einer feuchten Unsicherheit verschwimmend ....
Der
Friedensschluss
»Nein —« kam es über ihre Lippen, nur ein flüsternder Hauch.
Sie meinte das Wort laut hallen zu hören durch die Weite des Salons,
und nun harrte sie, was darauf folgen würde, innerlich erbebend,
während ihr Antlitz starr, ohne eine Spur der Erregung, auf die
Flackerglut des Kaminfeuers gerichtet blieb.
Aber das prasselnde Getös dieses Feuers, von den durch den Schlot
herabfauchenden Windstößen erregt, hatte das Wort verschlungen; im
wütenden Ungestüm prallte der Sturm gegen die breiten Scheibenflächen
des Erkervorbaues; irgendwo an der Außenseite girrte etwas
Losgerissenes; auf dem Korridor schlug eine Thür donnernd ins Schloß:
wie sich für uns mauervergrabene Städter der Frühling anzukündigen
pflegt.
»Nein —« Der Mann, der den Raum in der Länge mit seinen wuchtig
aufsetzenden Schritten maß, hatte das Wort nicht vernommen, so sehr der
dicke Smyrna die Tritte dämpfte. Aber er wußte, daß es kommen würde,
er fürchtete: — bedeutete es nicht wie einen Axthieb, der das Glück
ihres Kindes jäh daniederschlagen würde? Denn gegen dieses »Nein,«
gerade gegen dieses, gäbe es keinen Widerstand.
Er war ein Fünfziger, von straff aufrechter Haltung und bestimmt
abgegrenzten Bewegungen; Gepräge und Ausdruck seines Gesichtes,
der gepflegte und energische dunkelgraue Schnurrbart bei sonstiger
Wangenglätte, das eigenartig anliegende und uniformsmäßig Zugeknöpfte
seines Anzugs konnten auf den Militär schließen lassen; doch diese
Augen schienen in dem Lampenschein nächtlicher Aktenarbeit erbleicht,
es fehlte ihnen der falkenartige, scharf zufassende Blick, wie ihn beim
Soldaten der stete Umgang mit vielen Menschen und die Notwendigkeit
schnellen Entschlusses auszubilden pflegen.
Jedesmal, wenn der Wirkliche Geheime und Vortragende Rat von Wussow von
dem Erker aus nach dem Kamin zuschritt, aus der wechselnden Tageshelle
des stürmischen Aprilnachmittags nach dem durch die roten Huschlichter
phantastisch erleuchteten Hintergrund, wobei er gewisse Umwege um
einzelne der vielen in dem Raum verteilten Sessel machen mußte, ruhte
sein sorgenvoll erwartender Blick auf der Gestalt seines Weibes. Es war
wie ein erbarmendes Umhüllen: — oh, er hätte ihr das wohl ersparen
mögen! Er wußte, was ihr Mutterherz litt und kämpfte in dieser Stunde.
Er verstand das »nein,« das sich immer wieder bis zu ihren Lippen
rang, um von neuem unterdrückt zu werden.
Es war die Rasse, die Herkunft, die Leidenschaft, der verhängnisvolle
Drang der Umstände, die ihr die Weigerung auspreßten. Vergebens wehrte
sich die andre Macht, die Mutterliebe, dagegen. Oh, wohl hätte er ihr
den Auskampf dieses Zwiespalts ersparen mögen ... sie, die geborene
Französin, die ihrem Gatten, dem Deutschen, dem von ihrer Nation heiß
gehaßten Preußen, in die Ehe gefolgt war, sich selbst verbannend aus
ihrem Vaterlande, von den Ihren mit dem Fluch völligen Schweigens
belastet, zwanzig Jahre hindurch — sie also sollte ihr Jawort geben,
daß ihre Tochter einen preußischen Offizier heiratete! Das war zuviel!
Dagegen bäumte sich ihr Franzosenstolz. Nimmermehr! — Vieles hatte sie
erduldet, manche geheime Demütigung um des geliebten Mannes willen.
Aber ihr eignes Kind, das Blut ihres Blutes, an einen »=prussien=« in
Uniform auszuliefern, die Wiederholung ihres eignen Verbrechens —
nein, das nicht!
Sie saß auf einem Sessel vor der Mitte des Kamins, ihre Füße,
die in ausgeschnittenen Lackschuhen staken, auf das vergoldete
Bronzegitter gestemmt, die Arme flach über die Kniee gestreckt, mit
gefalteten Händen; es war mehr als ein Falten, ein konvulsivisches
Ineinanderklammern der länglichen Finger, der Ausdruck ihres innern
Kampfes, ja wie ein Beschwören: man möchte Erbarmen mit ihr haben und
ihr das verhängnisvolle »Nein« ersparen. Aber der Oberkörper ohne
Anlehnung, hoch aufrecht, in seiner schlank-stolzen Haltung, die ihr
zu eigen war, den Kopf unmerklich zur Seite geneigt, eine leichte
und graziös erscheinende Milderung jener etwas an das Unnahbare
gemahnenden Haltung. Die Glut flackerte über ihr Antlitz und belebte
seine starre Verlorenheit. Es war ein feines Oval mit etwas nervös
ausgeprägten Zügen, von einem großen Augenpaar beherrscht; graubraune
Pupillen, jetzt unruhig erglänzend von der Erregung, wie von dem
Wiederschein des Flammenspiels, im Schatten der langen, dichten,
aufgebogenen Wimpern; die Lippen, ohnedies schmal und von energischer
Zeichnung, fest eingepreßt, mit leicht herabgezogenen Winkeln, wo der
Hauch eines für Rassefranzösinnen unerläßlichen Flaums angedeutet
war. Ihr mattes, glanzloses Haar war in einem kunstlosen Knoten am
Hinterkopf aufgeschlungen, mit einer reizvollen Schwere auf den Nacken
herablastend; die in Scheitel geteilten Stirnbanden zeigten einzelne
graue Fäden, den Tribut an ihre ungeleugneten Vierzig.
Jetzt blieb der Schreitende in der Mitte des Raumes halten und sagte
in sanftgedämpftem Tone: »Du sollst dich frei entschließen, Leonie —
deinem Herzen soll keine Gewalt angethan werden —«
Es geschah auf französisch, wie die Gatten oft, besonders in der
Intimität häuslicher Sorgen, in dieser Sprache zu verkehren pflegten.
Diesmal mochte deren Anwendung überdies noch eine Konzession an die
Französin bedeuten: — würde das Opfer, das man von ihr verlangte, in
rauhe, deutsche Barbarenworte gefaßt (Leonies scherzhafte Bezeichnung)
nicht um so brutaler erscheinen?
Keine Antwort vom Kamin her; nur das wie zornig aufgeregte Prasselgetös
der Flammen. Und er fuhr fort, die Stimme zu noch größerer Schonung
zwingend: »Ich möchte nur in aller Ruhe rekapitulieren. Du sollst dich
entscheiden, wann du willst, wie du willst — wir werden dir nicht
grollen — wir begreifen — auch Mariot wird verstehen, wenn auch nicht
gleich — sie wird deine Gegengründe langsam, allmählich fassen lernen,
obgleich es schwer sein mag für ihr blutjunges Herz —«
Er meinte ein Stöhnen vom Kamin her zu vernehmen — wohl auch nur eine
Wirkung der Flammen, als wenn menschliche Stimmen jammerten; hie und da
gab es in dem jungen Holz plötzliche Explosionen, wie das Aufpuffen von
Schüssen. Sie saß immer noch regungslos, in das Geloder starrend, nicht
ein Wimperschlag; das, was lebte in ihrem Antlitz, war das Lichter- und
Schattenspiel des Feuers. Vielleicht hörte sie nicht einmal?
»=Léonie= — =ma chérie= —«
Er trat an ihren Sessel heran, die Hand auf die Rückenlehne stützend.
Eine plötzliche Dunkelheit verfinsterte den Raum, wohl eine mit
Schloßen überladene Wolke, die aus Südwest herangejagt war, eine
gewitterartig unheimliche Stimmung verbreitend; die Scheine und Lichter
des Feuers zuckten und züngelten jetzt über die ganze Zimmerweite hin,
die Kanten der Bilder und Möbel anfachend, und die vielen eleganten
Sächelchen und Japonerien, welche die Liebhaberei der Französin auf
allen Tischen und Konsolen angehäuft, mit glitzernden und funkelnden
Reflexen belebend, bis in das kleine originelle Bibelot-Museum des
Erkers hinein.
»Machst du mir einen Vorwurf, daß ich ihm überhaupt unser Haus
öffnete?« begann er von neuem, »dem Sohn eines alten, liebwerten
Kollegen, in dessen Elternhaus in Königsberg ich so viel Liebes
genossen. Hätten wir bei unsrer weitreichenden Gastlichkeit ihm unsre
Thür verschließen sollen? Gerade ihm — seiner Uniform, da wir andre
bunte Röcke genug an unserm Tische sehen: — eine Berliner Geselligkeit
ohne zweierlei Tuch, ich bitte dich! Du hattest dich daran gewöhnt, du
warst und bist meine tapfre Leonie! Aber gerade ihn auszuschließen,
der unter all der schneidigen Buntheit die Elite vorstellt, einen
Generalstäbler in seinen Jahren! — Das verstehst du nicht so, aber
ich versichere dich, er hat die glänzendste Zukunft, er wird Karriere
machen — die alten Tüchtigen treten ab, den jungen Tüchtigen gehört
die Bahn —«
»Ich achte ihn, ich ahne und schätze seine Tüchtigkeit —« erwiderte
sie zögernd, mit ihrer vom geheimen Weh verschleierten Stimme, ohne den
Kopf nach ihrem Gatten aufzuwenden, die Augen wie fasziniert von der
Flammenhelle. »Ich habe ihn lieb, er ist mir so sympathisch wie irgend
jemand von ihnen allen — ich — ich —«
Sie schüttelte die zusammengefalteten Hände, die sie nicht gelöst
hatte, gegen das Feuer hin, daß die Ringe aufblitzten. »Ah!« entfuhr es
ihr laut und ächzend, wie in einer Verzweiflung.
»Quäle dich nicht —« beruhigte er. »Ich versichere dich nochmals, wir
verstehen! Alle begreifen wir es; niemand, der dir deinen Widerstand
als Verbrechen anrechnet, niemand! — Mariot freilich — nein, aber
auch sie, auch sie nicht!«
»Mein armes, armes Kind —« flüsterte sie dumpf. »Jetzt soll sie für
das Verbrechen ihrer noch ärmeren Mama büßen — O Gott!«
»Wir wollen es nicht so tragisch nehmen. Das bischen Uniform — sollten
wir nicht darüber hinwegkommen? Oder hast du dich verschworen, (er
wollte es mit einem leichten Scherzton versuchen) sie, unsre Einzige,
nur an einen Spanier, oder an einen Brasilianer, etwas, das möglichst
wenig preußisch ist, wegzugeben, wenn dich das Preußentuch so empört —«
»Ich kann nicht! — ich darf nicht! — ich bin es meinem alten Vater
schuldig! — genug, daß seine Tochter das Verbrechen — =pardon!= —
das Verbrechen begangen! — und nun seine Enkelin — das ist zuviel! —
Ich, ich zähle nicht — aber die Meinen! Ich hoffe auf eine Versöhnung
— seit zwanzig Jahren — seit jenem unseligen Frankfurter Frieden
harre ich darauf — es hieße diese Hoffnung kurz abschneiden — für
immer ...«
Sie hob die zusammengefalteten Hände gegen das Antlitz und bedeckte die
Augen mit den geöffneten Flächen. Abermals entfuhr ihr ein quälender
Ächzton.
Er fühlte, daß es grausam wäre, sie jetzt in dieser Stunde mit weiteren
Argumenten zu bedrängen. Sie würde sich beruhigen. Dergleichen Krisen
kannte er, und er achtete sie. Hätte sie leichtsinniger und banaler
das Los ihrer Verbannung tragen sollen, da sie sich doch aus freiem
Entschluß in solche begeben? Hätte sie den dünnen Hoffnungsfaden,
der sie an die Ihrigen und an ihr Vaterland band, mit einem trotzig
herausfordernden Ruck zerreißen sollen? Achtung vor ihrer starken
Heimatliebe, der wir Deutschen doch nacheifern sollten! Pietät vor
dem bittern Kampf, den ihr Herz auszufechten im Begriff ist! —
Übrigens, keine drohende Lebensfrage, die Liebe einer achtzehnjährigen
Geheimratstochter zu einem jungen und stattlichen Hauptmann! — und er
lieh diesem Troste sogar offenen Ausdruck in Form einer Selbstanklage:
»Wir hätten es freilich nicht so weit kommen lassen sollen. Wir
waren blind. Ich sage ~wir~ — was sehen wir Väter zumal? Aber du,
Leonie! Sahst du denn nicht? Musik ist stets gefährlich; auf solchem
vierhändigen Tönespiel vergaukeln sich die Herzen. — Du hast überhaupt
wohl nicht mit einem deutschen Mädchenherzen gerechnet? Bei euch
giebt es keine sogenannte Mädchenliebe, nach euern Romançiers zu
urteilen, ich weiß nicht. Du warst eine hochromantische Ausnahme. Sie
ist eben die Tochter ihrer Mutter, sie hat von dir das französische
Temperament. — Sie thut mir leid, er ebenso — sie lieben sich, diese
leichtsinnigen Herrschaften? Es ist mehr als ein gesellschaftlicher
Flirt. Daß ich so blind war, daß du mich nicht warntest! — Welch
eine Überrumpelung, als Herr von Werthern sich vor einer Stunde bei
mir anmelden ließ und in seiner famosen Art, die stets weiß, was sie
will, um Mariots Hand bat! Keine Spur einer Besorgnis, daß er auf eine
Weigerung stoßen könnte — die Siegesgewißheit seines militärischen
Erfolges! Die beiden Leutchen sind eben einig —«
»Oh!« fuhr sie mit einem leisen Ton der Entrüstung auf.
»Bei euch in Frankreich, Léonie, gilt dergleichen als eine
Ungeheuerlichkeit. Sie werden sich gestern abend auf dem Balle
ausgesprochen haben; er gestand es selber.«
»Laß mich mit ihm reden, Adolf! Laß mich! Ich werde ihm alles erklären.
Er ist loyal. Er wird mich verstehen — er wird — er muß —«
»Und Mariot? — Du kannst versichert sein, daß sie unter Thränen
erklären wird, nicht leben zu wollen, wenn wir nicht .... Nun, auch das
wird sich geben! Aber sei darauf gefaßt, sie hat ganz das Temperament
ihrer Mutter. Verschworst du dich nicht auch desgleichen, damals?«
Er schwieg und begann von neuem auf und ab zu schreiten, ihre
Gestalt und jede ihrer Bewegungen belauernd. Jetzt öffnete sich die
Wolkenschleuse, dichte Schloßenmassen schütteten hernieder und schlugen
mit scharfem Trommelgetön gegen die Scheiben; die ganze Luft von einem
gewaltigen Rauschen erfüllt. Es war fast Nacht; das Reich gehörte den
Kaminflammen. Doch achteten sie beide nicht des Unwetters. Ihre Arme
waren mit gelösten Händen herabgesunken, das sah fast aus wie Ergebung,
doch ihr Kopf schien sich um so energischer aufgeregt zu haben, und
die Augen starrten wieder ins Feuer, ohne einen Wimperschlag. Ein
rotglühender Schein übergoß Gestalt und Gesicht, die Umrisse des Kopfes
hoben sich, von der Fensterseite gesehen, scharfgezeichnet gegen die
Helle ab, ein eigenartig effektvolles Bildnis — hatte er dergleichen
nicht schon einmal gesehen? Oh, es lebte in seinem Gedächtnis wie
eingebrannt, jenes andre, seltsam Gleiche! Ihre Gestalt wie heute,
von dem grellen Flammenschein überloht, dieselbe stolze Haltung,
dasselbe Starren der wundervoll großen Augen. Nur, daß jener Schein
dem brodelnden Glutrachen einer Lokomotivesse entfachte und daß, statt
der Geborgenheit vor den Schloßen da draußen, wirbelnder Schneesturm
des Winters von Anno 70 sie umbrandete, während er mit ihr auf der
Lokomotive durch die Nacht daherfuhr ....
Ein Stück wildpoetischer Romantik in dem gewaltigen, männermordenden
Drama des deutsch-französischen Krieges. Es war in jenen letzten
Novembertagen, da der Kampf um den Besitz von Orleans tobte, das
wichtige, strategische Bollwerk, an dem der Glaube an die Befreiung
Frankreichs zäh angeklammert haftete, auch noch nach den Niederlagen
von Beaune la Rolande und Loigny, die dem Vormarsch der Loire-Armee
unter Aurelle de Paladines ein energisches Halt geboten und die zähen
Verzweiflungsschlachten um Orleans am 2. und 5. Dezember einleiteten.
Es war am Abend des 30. November, als der damalige Reservelieutenant
in einem holsteinischen Regiment, von Wussow, den Auftrag erhielt,
wichtige und eilige Ordres von seiten seines Korpskommandos nach den
Vorposten zu befördern; da die Telegraphenleitungen gekappt waren
und nicht spielten, und ein Depeschenritt durch das unsichere, von
feindlichen Rächerbanden bedrohte Land nicht ratsam schien, so wurde
eine Lokomotive zur Beförderung gewählt. Die Rekognoszierung hatte
zwar eine Fahrbarkeit der betreffenden von Eisenbahnabteilungen
wiederhergestellten Linie ergeben, doch mußte man auch hier auf
rächerische Tücken seitens der Bevölkerung gefaßt sein; die Fahrt war
um so mehr nicht ungefährlich, als man sie ohne die Sicherung durch
Telegraphen und bei völliger Löschung der Lichtsignale ausführen mußte.
Im Begriffe, auf den Bahnhof von P. mit seiner kleinen Eskorte von
Mannschaften das Plateau der Lokomotive zu besteigen, wurde Lieutenant
von Wussow von einer dunkel vermummten Dame angesprochen, deren
Wunsch, mitzufahren, zuerst in dem scharftönenden Auszischeln des
Maschinendampfes nicht sofort verstanden wurde.
»Wieso? — Sie wünschen mitzufahren, mein Fräulein?« Und seine
Überraschung drückte sich noch mehr in dem Blick seiner Augen aus,
als in dem Ton der Worte: — welch ein Augenpaar! Der Pionier, der
in seiner rußgeschwärzten Uniform als Heizer waltete, hatte gerade
die Eisenthür des Feuerraums geöffnet, und der grelle Loderschein
überflutete die Gestalt der Dame: — schlank, elegant, jung, ein
blasses Gesichtsoval, von dem schwarzen spanischen Spitzenshawl
umrahmt, und die Augen mit ihrem eigenartigen Mandelschnitt, die ihn
aus ihren seltsam weiten Pupillentiefen in ihrer feindlich unnahbaren
Kühle trafen; keine Spur einer freundlichen oder bittenden Regung in
dem Antlitz, die ihr immerhin gewagtes Ansinnen unterstützt hätte,
im Gegenteil, zwischen den Brauen standen zwei kurze, senkrechte
Falten eingegraben, die sonst wohl fehlten, die deutliche Signatur des
Preußenhasses.
»Mein Herr, ich bin keine Spionin —« kam es aus dem, wenn er nicht
sprach, festgepreßten Mund; eine Stimme von dunklem, altartigem
Ton, der unter freundlicheren Bedingungen etwas Herzbezauberndes
haben mochte, für solche musikalisch Raffinierte, die sich durch den
Sprechklang einer Stimme überhaupt bezaubern lassen können.
»Oh, ich zweifle nicht —« gab er zur Antwort; nicht ganz seine
Überzeugung. »Aber, was kann Sie, mein Fräulein, zu diesem Wunsche
veranlassen?«
»Eine Bagatelle für Sie, mein Herr, eine Wichtigkeit für mich,
wenigstens für meinen Vater. Ich bin die Tochter des bekannten
Schriftstellers S.« (wir wollen hier die persönlichen Dokumente hinter
Buchstaben verstecken.)
»Ah —« entfuhr es ihm, als ob er den Namen kennte und gar verehrte,
doch nichts als eine Anwandlung der Galanterie, von seiner
kriegsmäßigen Abenteuerlaune angestachelt: eine junge, schöne, elegante
Französin, tapfer und unerschrocken, da sie solches unternimmt ... was
wird er sich weigern?
»Wir sind aus Paris geflüchtet, mein Herr, vor der Einschließung; doch
gelang es uns nicht, bis zu unserm Besitz vorzudringen, da mein Vater
hier in P. erkrankte. Es wäre uns sehr wichtig gewesen, diesen Besitz
zu erreichen, um ihn zu beschützen. Mein Vater ist ein Sammler, Schloß
La Mireille birgt die kostbarsten Kunst- und Bücherschätze, es ist
berühmt deswegen. Wir glaubten es in diesen Tagen schon in Gefahr —«
»Sie können beruhigt sein, mein Fräulein, es wird kein preußisches
Bajonett eines ihrer Bilder zerfetzen, wie es von uns Barbaren heißt,
auch pflegen wir nicht mit kostbaren Inkunabeln einzuheizen —« fiel er
ein, zur Wahrung seiner Preußenehre.
Und in der unwandelbaren Kühle erwiderte sie mit dem Gemeinplatz: »=À
la guerre, comme à la guerre!= Wir möchten hindern, was zu hindern ist.
Da mein Vater nicht transportfähig, meine Brüder bei der Nordarmee
fechten, so habe ich es übernommen, unsre Kostbarkeiten zu schützen.
Ich sah von unsrer Wohnung aus, wie man sich zu der Fahrt anschickte,
und ich habe mich ohne Zaudern auf den Weg gemacht, wider Papas Willen.
Gilt es doch, ihm Beruhigung zu verschaffen. Übrigens handelt es sich
auch um die Bergung höchst wichtiger Familienpapiere.«
»Unsre Fahrt ist nicht ohne Gefahr, mein Fräulein —«
»Ich fürchte mich nicht! — niemand!« setzte sie hinzu, und diesmal
vibrierten die beiden tiefen Fältchen zwischen den Brauen ein wenig.
Ein kurzes, stummes Examen, das sein Blick in ihren Mienen anstellte,
dann die halbdrohende Frage: »Es verhält sich so, wie Sie sagen?«
»Monsieur!« kam es zur Antwort, es klang wie Stahlesklirren.
Auf dies Wort hin seinerseits eine Geste, die sie zum Aufsteigen
aufforderte, mit dem abermaligen Versuch der Galanterie. »Eine I.
Klasse kann ich Ihnen freilich nicht anbieten. Wir fahren gleich ab,
bitte!«
Oben auf dem Plateau, zwischen Tender und Lokomotive wies er ihr einen
Sitzplatz zwischen den Kohlen auf mitgenommenen Decken an, den sie
ablehnte, indem sie sich in die eine Ecke des Schutzdaches schmiegte.
Nachdem die bewaffnete Eskorte eingestiegen, gab er den Pionieren das
Zeichen zur Abfahrt.
Anfangs ging die Fahrt mit einiger Geschwindigkeit. Dann als die
letzten Lichter der Stadt in der Ferne verschwunden waren, begann die
Maschine ihren Lauf zu verlangsamen, denn ringsum, vorwärts, rückwärts
nichts als das schwarze Land, die schwarze Nacht des wolkenbedeckten
Himmels, ein gleichsam schwarzes, unheilbrütendes, alles umhüllendes
Schweigen, alle Signale gelöscht, die Wärterhäuser verlassen, nur der
Schein des Feuers, der von Zeit zu Zeit, wenn die Esse geöffnet wurde,
über Ackerfurchen und dürre Hecken, gefrorene Wassertümpel, einsame
Wegestrecken und schlafende Häuser wie gespenstisch hinhuschte, die
übrige Dunkelheit noch um so tiefer verdichtend. Nun begann es zu
schneien, ein immer stärkeres Gewirbel, das hier, in der sausenden
Fahrt, eine sturmartige Heftigkeit annahm, eine zweite Nacht, die mit
ihrem fort und fort niederflatternden Schleier die andre verdeckte;
selbst die Flocken nahmen außer dem Bereich der Feuerstreifen, wo sie
roten Funken glichen, eine schwarze Färbung an.
Und vorwärts in die Nacht hinein, mit wechselndem Tempo; jetzt war es
nur ein Schleichen, ein vorsichtiges Tasten, als wenn die Maschine
irgend einen heimtückisch über das Geleise gelegten Stamm, oder eine
Ausrenkung der Schienen witterte; ein paarmal, so an den Brücken, wurde
gehalten und die Bahn rekognosziert. Dann aber, wie in neu gewonnener
Sicherheit ging es in einem tollkühnen Gejage wieder los, als schämte
man sich des Zagens; bis auch dieser Ansatz zur Eile wieder erlahmte
und das fast schrittweise Vorwärtstasten wieder begann. Die Dunkelheit
scheint wie ein körperlich zu überwindendes Hindernis; das langsame
Vorwärtsdringen ist wie ein Anstemmen dagegen, und der fort und fort
wirbelnde, tobende und in peitschenden Streifen anwehende Schnee macht
die Illusion dieses Anstemmens fast zur Wirklichkeit.
Wie lange dauerte solche Fahrt? Ihn, den Lieutenant, dünkte sie
viele Stunden lang. Und seltsam, wie er sich ihr Ende nicht einmal
herbeiwünschte — wie er fort und fort so weiterzufahren wünschte —
ein seltsam thörichtes Gelüste, denn sie, deren rätselhafter Bann ihn
zu solchem geheimnisvollen Wunsche stachelte, hatte keinen Blick für
ihn, für niemand von den Prüssiens, die in ziemlicher Enge den schmalen
Raum besetzt hielten. Zweimal hatte er versucht, ein Wort an sie zu
richten, eine Frage, ob sie nicht fröre, ob er ihr ein Glas Wein zur
Stärkung anbieten dürfe. Nichts, kein Wort, nur ein kühl abweisendes
Kopfbeugen. Sie schien unempfindlich gegen die Dunkelheit, gegen den
Schnee, vor dem sie unter dem Schutzdach nur teilweise gedeckt war;
auch gegen die eigenartige Gefahr — ja diese schien sie zu reizen,
und ihm war es, wenn die Maschine zum neuen Vorrasen ausholte, als
umspielte ein ganz unmerkliches Zucken der Befriedigung ihren schön
geschnittenen Mund. Ihre Augen blieben unverwandt durch das runde
Lugfenster nach außen gerichtet, in das unaufhörliche Gewirbel hinein.
Und so war er in ihren Anblick versunken, wie ihn dünkte, stundenlang;
stand und sah und staunte und empfand eine seltsame, schmerzlich süße
Freude, die Blicke an ihrer geheimnisvollen Schönheit zu weiden,
seine Sinne an dem herben Hauch der Tapferkeit zu erquicken, der sie
umwehte und ihr Wesen hinaushob über die gebrechliche Koketterie ihres
Geschlechts. Er hätte viel darum gegeben, ihr den Ausdruck seiner
Bewunderung nur mit einem Worte andeuten zu dürfen — ja nur mit einem
Blick — besonders dann, wenn die Lichtflut der geöffneten Esse sie mit
dem feurigen Mantel umfloß und ihre Gestalt wie in einer überirdischen
Glorie leuchtete. Auch gegen den blendenden Feuerschein schien sie
unempfindlich, nur blieb sie zuletzt nicht mehr ganz so regungslos
starr; jetzt begann sie von Zeit zu Zeit den Kopf um die Eisenkante des
Schutzschirmes vorzubeugen, des scharfen, eisigen Wehens nicht achtend.
Und sie horchte mit gespannteren Augen.
»Herr Lieutenant,« sagte sie plötzlich, »ich bitte Sie, in wenigen
Minuten halten zu lassen! Es ist hier!«
»Aber wieso?« entfuhr es ihm verwundert. Denn nichts als das
Schneegetriebe da draußen.
»Ich höre unsere Hunde. Es ist hier! Bitte!«
Jetzt erst vernahmen die andern durch das Gedröhn und Gerassel und
vieltönige Geräusch des eisernen Ungeheuers ein Gekläff und Geläut
von Hunden. Jetzt war es, als huschte der Feuerschein, das Gestöber
durchdringend, über das steile Dachwerk eines schloßartigen Gebäudes.
»Bitte!«
»Halt!« befahl der Lieutenant. Mit kreischendem Laut stoppte die
Lokomotive.
»Ich danke Ihnen! Sie haben mir — uns (verbesserte sie sich) einen
großen Dienst erwiesen —« Damit raffte sie die Kleider zusammen und
stieg hinab.
»Mein Fräulein —«
Er wollte ihr nach. Er durfte sie doch nicht so in die Nacht hinein ...
Als wenn er ihr dennoch etwas zu sagen hätte — mochte sie es hören
wollen, oder nicht ... Aber fort! Er stand und sah ihre Gestalt durch
das Gestöber dahineilen, immer undeutlicher, bis sie gänzlich in der
Nacht verschwand. Nichts als das Gekläff der Hunde, das jetzt laut
durch die Nacht hallte, von der großen dunklen Masse her, die seitwärts
des Schienenstranges durch den Schnee dämmerte.
»Befehlen der Herr Lieutenant weiter zu fahren?«
»Los!« rief er dem Pionier zu — es klang wie ein Ruf der Befreiung von
dem hexenhaften Bann, von der sinnbethörenden Vision. »Und geben Sie
ein paar tüchtige Sporen!«
Die Maschine nahm einen tollen Anlauf und raste in die Nacht hinein, um
bald darauf in einem von Soldaten wimmelnden Bahnhof zu münden, dem
Ziel der abenteuerlichen Fahrt.
Los — ja los! Doch das Wort erwies sich als ohnmächtig gegen den
Zauber solcher Erinnerung. Immer wieder tauchte das Bildnis ihrer
Erscheinung, in den vibrierenden Glutmantel gehüllt, gaukelnd vor
seinen Sinnen empor, auf dem Marsche, im Schneeschlamm der grundlosen
Wege, im Bivouac, dem schlaf- und feuerlosen, jetzt, während des
Gefechts — da schien es erst recht in seinem Element, wo die
Hornsignale gellten, die Kugeln zischelten, die Erde unter dem Donner
der Geschütze erbebte, und der Tod sich seiner reichen Ernte freute
unter den stürmenden, vom beißenden Pulverqualm umwogten Kolonnen.
Plötzlich aber war es fort, mit jeder Dämmerung seines Bewußtseins
getilgt. Als es dann wiederkehrte, nach einigen Tagen, hatte es die
Gestalt eines gespenstischen Phantoms angenommen, das mit feurigen
Flügeln vor ihm hereilte, da draußen im stöbernden Schnee, während er
mit immer qualvollerer Sehnsucht die Lokomotive zur Eile spornte und
das brüllende »Los! Los!« seines Wundfieberwahns ihn, zur Verzweiflung
der Wärter, bis an die Grenze der Erschöpfung brachte. —
Der Schloßensturm hatte sich ausgetobt, und die Tageshelle rückte vom
Erker aus wieder gegen den Kamin vor, dessen Glüheffekte dämpfend. Da
hallte die Korridorglocke. Erschreckt fuhr Léonie aus ihrem brütenden
Schweigen empor: »Ich bin für niemand zu sprechen!« rief sie. »Adolf,
willst du dafür sorgen?«
»Es ist Mariot,« entgegnete er — »ich kenne ihre Art zu läuten,
frisch, resolut wie ihr ganzes Wesen.« (Das letztere nicht
unabsichtlich).
»Noch nicht!« rief Léonie, die flach übereinander gelegten Hände in
flehender Gebärde zu ihrem Gatten erhoben. »Jetzt noch nicht! — ich
möchte mich besinnen — ich will mich ...«
Und sie stockte, die Hände fielen herab, und ihre Augen wandten sich
wieder dem Feuer zu, es war ein leidenschaftliches Auflodern darin,
und zwischen den Brauen wetterten die kurzen, tiefen Furchen: ein
abermaliges Aufbäumen der Französin in ihr. Mehr als das! In diesen
Minuten flog mit blitzartigem Zickzack all das vor nun zwanzig Jahren
Geschehene an ihr vorüber. Sie wiegte langsam den Kopf, und jetzt
schüttelte sie ihn heftig: »Nein, ich kann nicht! Ich bin entschlossen!
Ich durfte nicht wanken, auch das war ja schon sündhaft — — nein!«
Diesmal gellte das Wort laut durch den Saal. Es war der Axthieb, der in
den jungen Blütenbaum gefahren. Der Geheimrat fühlte, daß es dagegen
für ihn keinen Widerstand geben dürfte. Man sollte sie nicht quälen,
gerade jetzt nicht, da der Mai heranrückte, der den Frankfurter
Frieden gebracht. War es nicht jedesmal um diese Zeit, daß die alten
Zweifel und Schmerzen, ja die geheim gärenden Reuegedanken in ihr mit
oft erschreckender Gewalt wieder auflebten. Und sie sollte jetzt,
gerade jetzt, ihre Zustimmung geben, daß die Enkelin ihres Vaters einen
Preußen ... Nein! Es würde schon so bleiben müssen! »Armes Kind!«
entfuhr es ihm unhörbar. Und lauter: »Beruhige dich nur, Léonie, ich
werde mit Mariot alles besprechen —«
Dann saß sie, die Hände an die Augen pressend, wie gelähmt, und
horchte auf den Klang seiner Stimme im Nebenraum, die berichtete,
entschuldigte, in einen bedauernden, dann zärtlichen Ton fiel und
schließlich ganz verstummte. Vergeblich wartete sie auf Mariots
Antwort: — doch kein Ton ihrer Stimme. Kannte sie ihre Tochter denn
nicht? Mußte sie nicht wissen, daß das Mädchen eine solche Nachricht
mit stummem Stolze hinnehmen werde? — kein weichlicher Ausbruch der
Verzweiflung! — nicht vor anderen!
»Nein« — Würde es unabwendbar, unverrückbar bleiben, dies grausame
Wort? Hatte sich damals, vor zwanzig Jahren, nicht ein andres »Nein«
dennoch in ein »Ja« verwandelt?
Nein! — jenes erste, das die Französin ausstieß gegen die stutzende
Erregung, die sich ihrer bemächtigt hatte, da sie an einem
Dezembermorgen die in ein Lazarett verwandelten Säle ihres väterlichen
Schlosses La Mireille durchschritt und auf einem der Lager, in der
Reihe französischer Verwundeter, auf ~sein~ Antlitz stieß. Sie hatte es
wohl erkannt. Wieder, wie in jener Nacht auf der Lokomotive, fühlte sie
die Augen des Preußen auf sich gerichtet, jetzt leidensgroß, wie von
dem Schreck einer fiebernden Vision geweitet, da auch er sie erkannt
haben mußte. Welch ein tückischer Zufallskobold! Welch eine Brutalität
romantischer Verkettung!
Aber wie in einem Zwang willenloser Suggestion erlahmte ihr Zögern, und
sie war an das Bett herangetreten und hatte ihn begrüßt; das, was sie
ihm wie den andern als Herrin des Hauses schuldig war. Stand sie nicht
jetzt im Dienst der Barmherzigkeit, die keine nationalen Stachelzäune
kennt? War sie ihm nicht zu Dankbarkeit verpflichtet? Denn was wäre
aus La Mireille geworden, wenn ihr nicht die Fahrt hierher verstattet
worden, und sie dann nicht durch ihre tapfere Haltung die Schätze des
Schlosses vor den Vandalismen der barbarischen Soldateska, wie sie
meinte, zu schützen vermocht? Heftig hatte der Kampf um La Mireille
getobt, sie war nicht von ihrem Posten gewichen, ja einen Brand, der
auf dem linken Flügel ausbrach und diesen einäscherte, hatte nicht am
wenigsten ihre Energie einzuschränken gewußt.
Dieser Begegnung folgten andere, immer häufigere, besonders später,
da der Verwundete in der Genesung war und sich im milden Sonnenschein
der Touraine auf der Terrasse des Schlosses bewegen konnte. So sehr
das »Nein« in ihrer Brust sich sträubte dagegen. Was geschah denn?
Ein liebenswürdiger, ein hochgebildeter Mann, der das reichste
Verständnis zeigte für die edle Geisteskultur ihres Vaterlandes, und
der dessen Sprache in seltener Vollendung sprach — durchaus nichts
von einem Barbar! An diesen schien sie erst erinnert zu werden, als
er in seiner vollen Montur vor ihr stand, um Abschied zu nehmen. Er
hatte sie wiederholt gebeten, mit ihr korrespondieren zu dürfen, jetzt
wiederholte er die Bitte, nichts als diese, aber sie fühlten beide die
stille Glut verhaltener Leidenschaft, das Weh des Abschiedes durch ihre
Worte vibrieren. Sie fand abermals nicht die Kraft, das »Nein!« über
ihre Lippen zu bringen, während doch ihre Augen, wider ihren Willen, so
jakräftig erglänzten.
Das verbrecherische Geheimnis eines Briefwechsels zwischen einem
Preußen und einer Französin, während gerade die Ihrigen, besonders ihr
Vater, in dem Schmerz und der Entrüstung über den schreienden Hohn
dieses Frankfurter Friedens patriotisch schwelgten! Oft genug war sie
im Begriffe, die geheime Schmach dieser komplottartigen Verbindung mit
einer jähen Entsagung abzuthun — vergeblich!
Da tauchte er plötzlich vor ihren erschrockenen Augen leibhaftig
wieder auf. Es war zu Spaa, wo sich die Familie S. zur Kur befand.
Er war gekommen, um von ihrem Vater nichts Geringeres als ihre Hand
zu erbitten. Alles durfte er für diese Werbung in die Wagschale
legen: seine stattliche Persönlichkeit, seinen Namen, sein Vermögen,
seine bevorzugte Staatsstellung, die zu einer glänzenden Karriere
berechtigte — aber auf der gegnerischen Schale nichts als die beiden
Worte: »Frankfurter Friede,« die der Vater und berühmte Schriftsteller
mit einer gewissen theatralischen Entrüstung zur Antwort einsetzte.
Hiermit wäre wohl der Schluß dieses so romantisch begonnenen Abenteuers
gegeben gewesen, wenn nicht im Winter darauf Herr S. selbst eine
unerwartete Lösung herbeigeführt: eine blendende, reiche Partie, die
er seiner Tochter, als eine feste Abmachung hinter ihrem Rücken,
vorschlug und kraft seiner väterlichen Autorität aufzwingen wollte.
Da geschah es, daß ein andres »Nein« sich in ihrem Herzen aufbäumte
gegen solche Vergewaltigung. Das heilige Vaterland verzeihe ihr das
Verbrechen, wenn sie in dieser grausamen Drängnis wankend wurde und
sich dem geliebten Manne nunmehr auslieferte, allen Hassesvorurteilen
zum Trotz. So lief also in den Dezembertagen von 1871, da jene Kämpfe
um Orleans jährig wurden, eine Notiz durch die Boulevardblätter, die
Tochter des Schriftstellers S. habe sich gegen den Willen der Ihrigen
mit einem Prüssien ehelich verbunden. Welche Blasphemie! Die offenbare
Kirchenschändung, begangen an dem Namen eines der patriotischsten
Schriftsteller etc. etc.
Der Schritt bedeutete für sie die Verbannung; sie hatte seitdem die
Ihren weder wiedergesehen, noch den Boden ihres Heimatlandes betreten.
Zwischen ihr und jenen stand noch immer die Mauer des Frankfurter
Friedens aufgerichtet. Und sie hoffte auf deren Fall, sei es, daß
die Revanche sie im kühnen Wagemut eines Tages gewaltsam umstürzte,
sei es, daß der Großmut des Siegers sie in reuiger Einkehr von
selbst beseitigte, wie sie mit vielen ihrer Landsleute chimärisch
beanspruchte. So hoffte und hoffte sie in ererbter französischer
Selbstverblendung — »=c’est plus fort que moi!=« — man soll und muß
ihr verzeihen! — auch Mariot! —
Jetzt öffnete sich die Flügelthüre, und Mariot erschien auf der
Schwelle. Léonie’s schlankes, stolzes Ebenbild, doch von liebreizender
Frische, mit freien, offenen, hellen Augen, den deutschen Augen ihres
Vaters; auch der vollere Mund zeigte nicht die energische und strenge
Verschlossenheit, die den Lippen ihrer Mutter solch herben Ausdruck
verlieh. Jetzt war das Oval ihrer Wangen von fahler Blässe überhaucht,
und ihre Augen hatten etwas angstvoll Gespanntes, als fürchteten sie,
sich in Thränen zu verraten; ihre Lippen, aus denen die sonst blühende
Farbe gewichen, atmeten halb geöffnet, in verhaltener Erregung.
Langsam näherte sie sich dem Kamin. Langsam erhob sich Léonie, nicht
ohne daß ihre Hand sich tastend auf die Lehne des Sessels stützte.
Dann ruhte der Kopf der Tochter stumm, in zitterndem Schweigen an der
Schulter der Mutter.
»Wirst du mir verzeihen, mein Kind, mein armes Kind?«
»Mutter, wie du beschließest, so ist es — so ist es« — (ein kurzes
Stocken, dann laut und fest:) »so ist es recht, Mutter!«
Die Mutter hatte die Frage in französischer Sprache gestellt;
Mariots Antwort geschah auf deutsch. In Léonies Brust war es wie ein
Zurückzucken. Deutsch — jetzt, in solcher Stunde! Wie hart, wie
abweisend es klang, wie feindlich, trotz der Bedeutung der Worte! Als
wenn sich ein zweiter Friede von Frankfurt plötzlich aufgerichtet
zwischen ihrem Herzen und dem ihres Kindes. —
Vierzehn Tage darauf, an einem Spätmorgen, trat der Geheimrat mit
einem Zeitungsblatt in der Hand an seine Gattin heran, die auf einer
Chaiselongue ruhte, lässig und müde in Journalen stöbernd. Die
Balkonthüre stand auf, wohlig warme Luft strömte herein, die Straße
lag geblendet im lachenden Frühlingssonnenschein, und der Reflex
der goldig-grellen Lichtflut umspielte mit einer gewissen frohen
Deutlichkeit die Gegenstände des Zimmers. Auf dem Balkon sonnten sich
die Stubenpflanzen, die Palmenfächer glänzten in breitem Metallglanz,
die Azaleen standen im leuchtenden Flor, helle Knospenpunkte
schimmerten im jungen hellgrünen Laub. Doch Léonie hatte keine Freude
an diesem Frühlingsweben; es lastete auf ihr wie ein schwerer Alp:
nicht die Nähe des unseligen 10. Mai allein, die auch in anderen
Jahren eine gewisse krankhafte Krise in ihr hervorrief, nein das dumpf
anklagende Schmerzgefühl, daß sie sich ihren Lieben, dem Gatten wie
dem Kinde, entfremdet durch ihr trotzig-beharrliches »Nein«, daß sie
in ihrem eignen Hause eine Fremde geworden, als Französin geduldet
unter den Preußen — ja so war es! Das schonende Benehmen täuschte
sie nicht darüber hinweg. Oh, sie empfand sehr wohl, wie hinter jeder
Liebkosung ihres Gatten der geheime Vorwurf lauerte. Hatte sie nicht
wie erleichtert aufgeatmet, als Mariot, wie beschlossen wurde, nachdem
man die Werbung des Freiherrn von Werthern in aller Form abgewiesen,
zu ihrer Tante nach Schlesien abgereist war? Nun hatte sie nicht mehr
die Anklage der großen, wie im geheimen Weh erstarrten Mädchenaugen
zu bestehen. Hier galt es nicht eine jener flatternden Ballneigungen
durch einen Thränenstrom wegzuschwemmen, nein, Wussow hatte recht, ein
Blütenbaum war niedergehauen worden, da hilft kein tröstendes Anbinden
und Aufrichten ....
Wegen einer Uniform! Fast war es zum Lachen. So sind wir von der hohen
Civilisation; ein Vorurteil, ein Fetzen alter Tradition, eine Phrase,
ein gelltönendes Wort: Revanche, Satisfaktion, Ehre, Standesbewußtsein,
dergleichen vermag bestimmend in unser Schicksal einzugreifen; der rote
Lappen des Frankfurter Friedens stachelt immer wieder von neuem den
Preußenhaß unserer westlichen Nachbarn zum wütenden Koller auf.
Aber durfte sie anders handeln? Durfte sie ihrem alten Vater diese
neue Schmach anthun? Ihm, der gerade jetzt, als die Beschickung der
Berliner Ausstellung durch französische Künstler im Werk war, seinen
chauvinistischen Warnruf in poetischen Trompetenworten =à la= Victor
Hugo hatte erschallen lassen; da ihr älterer Bruder, ein Schlachten-
und Revanchemaler von Ruf, als einer der ersten sich zu dem Gang =à
Berlin= weigerte? Jetzt, gerade jetzt! — arme Mariot, deren Glück
einer Verkettung politischer Zufälle zum Opfer fallen mußte! — daran
klammerte sie sich zum Schutz gegen ihre Selbstanklage. —
»Léonie, ich wollte dich avertieren —« sagte der Geheimrat, »du sollst
nicht überrascht werden. In der Zeitung steht eine gewisse Notiz —«
»Gieb her!«
»Du darfst nicht erschrecken — es handelt sich um deinen Vater —«
»Wieder einen seiner Ausfälle gegen euch Preußen? Gieb!«
»Nicht das. Dein Papa ist krank, er liegt auf Schloß La Mireille
danieder.«
»Tot!« schnellte sie auf.
»Nicht das, armes Herz! Aber wir wollen auf alles gefaßt sein! — komm,
laß dich nicht zu sehr alterieren.«
Sie entwand sich seinem sanft umfassenden Arm: »So will ich hin!
Gleich! Sofort!«
»Oh! Du bist selber leidend. Du willst hin?«
»Er soll nicht sterben, ohne daß er mir verziehen — er darf nicht!
Sofort werde ich abreisen!«
Vergebliches Überreden, sie von ihrem Entschluß abzulenken: die alte
tapfere Art des Jahres 70 schien in ihr von neuem aufgeweckt. Sie
wollte hin, nach Mireille, durch das Verhau von Vorurteil und Haß und
Verblendung, das ihr die Heimat feindlich verwehrte, sich einen Weg
bahnen zu ihrem sterbenden Vater hin, sich das erlösende Wort der
Verzeihung von seinen Lippen erflehen, dann wird alles gut — »auch
hier!«
»Wegen uns mache dir doch keine Gedanken —« wehrte er.
»Ich wünsche, daß auch hierin etwas entschieden werde —« sagte sie
mit dumpfem Starren. Und das andere nur hingemurmelt: »Ich wünschte zu
wissen, wo ich hingehöre ...«
Was meinte sie damit? Man muß sie gewähren lassen! Er dachte an ihre
That von damals, ein ermutigendes Wort wäre eine Herabwürdigung
gewesen; seine Begleitung, die er ihr für ein paar Reisestunden
wenigstens, angeboten, lehnte sie ab: es wäre besser, daß sie allein
mit ihren Gedanken sei. So half er ihr auf dem Bahnhof in ein Coupé
erster Klasse, das die Bezeichnung ›Berlin-Köln-Paris‹ trug, (den
andern kürzern Weg über Frankfurt hatte er absichtlich ausgeschlossen)
stand und winkte, während der Zug in der Wolke selbsterzeugten
Dampfes mit steigendem Rasseln hinglitt, nach dem Coupéfenster hin,
wo ihre hohe Gestalt aufgerichtet hielt, nur mit einem ganz leisen
Neigen ihres fahlblassen, tiefernsten Antlitzes seinen Abschiedsgruß
erwidernd. Immer noch stand er, da der Zug längst entschwunden. Was
war das für ein seltsamer Gedanke, der sein Herz wie mit eiskalter
Hand umkrampfte? Wenn sie nicht mehr wiederkehrte ... ist sie
doch gegangen, sich Entscheidung zu holen, wo sie denn hingehört!
Unsinn! Für einen Königlichen Vortragenden Rat im Finanzministerium
ein ganz berufswidriger Gedanke! Wie kam er dazu? Und während er
seltsam schnell mit den Augen zwinkerte, als gälte es dort etwas zu
unterdrücken, lachte er halblaut auf. —
Am neunten Tage nach diesem stand er abermals auf dem Perron, um sie
nach ihrer Rückkehr in Empfang zu nehmen. Er hatte während der ganzen
Zeit nur ganz knappe Nachrichten von ihr erhalten, Depeschen, in der
Hast hingeworfene Zeilen, Geschäftliches, ihre Rückreise und Ankunft
betreffend. Ihr Vater war der heftigen Lungenentzündung erlegen,
die Zeitungen brachten Nekrologe und das übliche kritische Resumé
seiner litterarischen Bedeutung, die Franzosen betrauerten aufrichtig
den Verlust eines großen Patrioten. Von ihr war ihm keine Andeutung
zugekommen, ob sie ihn noch lebend angetroffen und den Zweck ihrer
Reise, seine Verzeihung, erwirkt. Er war sehr erregt, wieder in völlig
berufswidriger Weise, als er jetzt ihrer in schwarzen Krepp gehüllten
Gestalt aus dem Coupé half und sie dann in stummer Umarmung an seine
Brust preßte. Ihren Zügen war die ausgestandene Leidenszeit aufgeprägt;
sie schien gealtert und ihre Wangen abgehagert; war es nur eine
Täuschung, daß beim Zurückschlagen des langwallenden Schleiers die
Scheitelwellen ihres Haares im deutlichen Grau erschimmerten?
Für jetzt nur die wenigen, halbgestammelten Worte, die solchen
Empfang zu begleiten pflegen. Doch die eine Frage, die deutlich ihre
Seelenverfassung erraten ließ: »Mariot? Ist gute Nachricht von ihr
da?« Mit solch vibrierender Bangnis schienen die Worte ausgepreßt.
»Ich danke. Sie scheint wohl — Du findest einen Brief von ihr
vor. Lieb wie immer — — Wir wollen den Diener mit deinen Sachen
vorausfahren lassen, ist dir’s recht, Léonie?«
Erst als sie im Wagen saßen, kam die Antwort auf diese Frage »Ach ja,
Luft! Ich atme auf. Laß uns einen Umweg durchs Grüne machen!«
Er befahl dem Kutscher, einen größeren Umweg durch den Tiergarten zu
nehmen. Es war ein wunderschöner Frühlingsabend. Vor den beiden Cafés
am Potsdamer Platz wimmelte es von Gästen, auf den Trottoirs davor
war ein lebhafter Begehr nach grellbunten Blumen; die herrlichen
Linden der beiden Platzsquares standen in leuchtendem Grün, die
antikisierenden Wachttempel überragend; fernhin verduftete der Prospekt
der Leipzigerstraße im rosigen Dunst, selbst das hastende, rasselnde
Verkehrsleben schien von einer festlichen Verklärung überhaucht. Sie
fuhren durch die Bellevuestraße, unter dem dämmernden Schattendach der
strotzend belaubten Kastanien, an denen die Kandelaberkerzen der weißen
und roten Blüten eben aufgesteckt waren; in den Vorgärten waltete
der Wetteifer, welcher den andern in der Pracht seines Blumenflors
überböte, eine Frühlingsspezialität dieser stimmungsvollen Avenue.
»Wie schön es hier ist — bei euch —« entfuhr es flüsternd Léonies
Lippen. »Ach die Luft!«
Wiederholt atmete sie in vollen erquickenden Zügen, als wenn sie von
einem herzbeklemmenden Druck befreit werde.
Und beim Anblick des Tiergartens ein Ruf des Staunens: »Wie grün!«
»War es denn dort noch nicht —« fragte er zögernd.
Sie wandte den Kopf zur Seite, wo die Siegesallee mit ihren korrekten
Lindenbäumchen sich in die Ferne verengte, von dem in der Abendsonne
glühenden Goldkoloß der Siegesgöttin beherrscht. »Eis ...« hauchte sie
hervor. Und ein Schauer schien sie zu überrieseln.
Er verstand. Doch nicht der üppige Garten der Touraine, wo sie die Tage
geweilt, — nein das Eis des Hasses, auf das sie gestoßen, als wäre ihr
ganzes Inneres davon erstarrt bis in den Blick ihrer dunkelumrandeten
Augen hinan.
Eine Stille lang, während er das Wort klingen zu hören wähnte, fuhren
sie durch das Waldesdunkel des Parkes. Leise tastete er nach ihrer
Hand: »Gut, daß du wieder da bist, Léonie« — begann er. »Mir war sehr
bang.«
»Du hattest Ursache, du Ärmster —« flüsterte sie dumpf. Dann
auffahrend, mit einem schrillen Ton: »Ah, dieser Haß! Sie sind toll!
Sie vergiften alles damit! Selbst die Pietät einer Sterbestunde ist
ihnen nicht heilig vor ihrem Haß!«
Dann nach einer abermaligen Stille: »Wie war ich geeilt, nur um
seine Hand noch einmal zu ergreifen! Es war ein Wunder, daß man mich
überhaupt vorließ, — bis an das Lager meines armen Vaters. Ihm sei
verziehen, Gott sei seiner Seele gnädig! Wenn er mir auch nicht
verziehen — wenn er auch gegangen ist, ohne mir zu vergeben ...«
Ihre Stimme stockte in plötzlicher Erschütterung.
»Nicht?!« rief er in voller Empörung.
Sie faßte sich, reckte sich empor: »Ich habe mich tapfer gehalten all
die Zeit über, mein Stolz gegen den Haß meiner Brüder und Verwandten —
sie waren unerbittlich, von einer beleidigend kühlen Höflichkeit. Aber
ich blieb, ich wollte nicht weichen, bis ich an dem Grabe meines Vaters
mein Gebet gesprochen —«
»Du trafst ihn noch bei Besinnung?«
»Man hatte mich nicht ohne Einspruch an sein Sterbelager gelassen. Man
schützte die Aufregung vor. Ich drang dennoch bis zu ihm. Ich hätte
ihn kaum wiedererkannt. Er aber mich — o wohl, er mich! Er schien wie
aus einer Betäubung zu erwachen — seine großen Künstleraugen fragend
auf mich gerichtet — tastend — ein Schimmer der alten Liebe, die
darin aufzuleben schien. ›Mein Vater, ich bin’s‹, schluchzte ich,
›ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten‹ — Es war ein
Besinnen in diesen Augen, all sein Empfinden darin wiedergespiegelt —
o ich sah bis auf den Grund seiner Seele. Seine Léonie, sein Liebling
von damals — die Freude, die er stets an mir hatte — hat er nicht
seinen Roman »Gabriele« zu deiner Verherrlichung geschrieben? Und
dann der Schmerz dieser Trennung, die geheime Sehnsucht, die in der
Tiefe seines verwaisten Herzens fort und fort gebangt, wenn auch der
Mund meinen Namen nicht aussprach — ich sah den Kampf, den seine
Liebe kämpfte gegen das andere, gegen die Krankheit, das Gift — gegen
den Preußenhaß. Ich sah das Gift die Obmacht gewinnen, seinen Blick
erstarren, den Schimmer der alten Liebe sich in Eis verwandeln —
hatte er nicht den Mut, den andern gegenüber, die hinter mir dieser
Scene beiwohnten? Nicht den Mut, das Wort, den Namen auszusprechen,
der auf seinen Lippen schwebte — Gott sei seiner Seele gnädig! —
er schloß die Augen. Ich hatte seine Hand ergriffen und jetzt fühlte
ich, wie die sich regte, leise, leise — aus der meinen fort — sich
zu befreien suchte — zuletzt ein Ruck — es war wie ein Zurückstoßen
— ja das! O Gott! Es war das »nein!«, das sein Preußenhaß gegen
mich, die Abtrünnige, die Vervehmte seines Geschlechtes und seiner
Nation, geschleudert. Ich sank mit dem Kopf gegen die Bettstatt, hart
hinschlagend — ich glaube, ein Schrei entfuhr mir — ich weiß nichts
— nichts mehr ganz klar —«
»Mein armes Herz —« und er preßte um so inniger ihre Hand.
»Du fragtest mich vorhin, ob denn dort unten der Frühling nicht ....
Auch das weiß ich nicht. Ich habe nichts gesehen. Doch, ich erinnere
mich, nicht weit von seinem Grabe, wo ich betend kniete, da ragte ein
Blütenbaum, von jenen winzigen japanischen Rosen, die ich so liebe —
— Ich werde den Ort wohl nicht wiedersehen —«
»Nun sollst du dich erholen, du Arme — nun darfst du nicht mehr fort
und fort daran denken!«
»Ich möchte alles vergessen — bis auf das Grab mit seinem Blütenbaum
— mein Vaterland, alles — o Gott, ich wollte, ich dürfte mich einmal
ausweinen — mein Herz ist so voll —«
Dann, sich abermals aufraffend: »Wie schön es bei euch ist! — Wie gut
ihr seid! — — Wie grün das Laub geworden! — Ach, die Luft! Wie das
Atmen erquickt! — ich habe lange nicht mehr frei geatmet — und — und
—«
Sie riß die Hand aus der seinen und reichte ihm dann in überquellender
Bewegung die beiden Hände hin!
»Und ihr verzeiht mir, ihr, du und Mariot! Damals konnte ich nicht
anders — jetzt, jetzt erst weiß ich, wo ich hingehöre —«
»Ich wußte es längst, aber du sträubtest dich gegen die Erkenntnis —«
»Du wirst gleich morgen Herrn von Werthern zu mir bitten, ich habe mit
ihm zu reden, aber anderes als damals —«
»Soll ich auch Mariot kommen lassen?«
»Ach, mein Kind! Schnell, wir wollen ihr telegraphieren!«
In dem Gedanken dieses Wiedersehens saß sie verloren. Galt es nicht
eine Mauer einzureißen, die sich zwischen dem Mutter- und dem
Kindesherzen aufgerichtet? Aber hinter den Trümmern leuchtet das
verheißende Frühlingsgrün.
»Wie schön es ist!« rief sie plötzlich aus, mit einer Geste über den
blauenden See weisend.
»Das Laub hat sich mächtig herausgemacht. Ja so ein Berliner Frühling
— so ein deutscher Frühling! Den wenigstens sollen sie uns nicht« ....
Er stockte. Nicht jetzt davon: ein andermal wollte er seiner
Überzeugung Ausdruck geben, daß doch zuletzt die Liebe den Sieg davon
trüge über den Haß und daß selbst über der Mauer des Frankfurter
Friedens dereinst sich grünende Wipfel von hüben und drüben vereinigen
würden. Man muß ihnen nur Zeit lassen zum Wachsen, recht viel Zeit ...
Doppelgänger
[Illustration]
Zuerst waren sie mit dem Paar hoch oben auf dem Kölner Dom
zusammengetroffen. In dem engen stockdunkeln Schneckengewinde der
steilen Wendeltreppe hatte ihr eigenes mutwilliges Gezwitscher mit dem
kichernden Geflüster der anderen Stimmen zusammengeklungen. Und als
man dann gemeinsam in die blendende Helle des Altans herausgetreten
und das Ah! des Erstaunens über das prächtige Panorama von den Lippen
verflogen war, begann man sich gegenseitig zu mustern. Verständnisvolle
Blicke hin und her, und ein gewisses verschmitztes Lächeln: o man hat
sich sofort erkannt! Man gehört derselben Gemeinschaft, demselben
Orden, derselben Bestimmung an. Gott, wie soll man nur diese Gleichheit
ausdrücken? Nun, man befindet sich in demselben selig unruhvollen
Ausnahmezustand einer Hochzeitsreise!
Die kleine lebhafte Frau Wendland stieß ihren Gatten verstohlen an:
»Du, Fritz, hast du gemerkt?« Und ihre Zähnchen lachten ihm wie im
hellen Triumph ins Gesicht.
Herr Fritz Wendland wehrte die Frage mit einer seltsam knappen Geste
ab, die man fast als eine leise Verachtung deuten konnte; als ob
ihm Hochzeitsreisende von allen andern Reisenden am allerwenigsten
interessieren könnten.
Was hat er überhaupt heute? Er ist karg und kurz und zerstreut!
Er hatte als Bräutigam einmal ein leises Wort gegen den Unfug des
Hochzeitsreisens erhoben. Natürlich war er sofort vor dem kindlichen
Enthusiasmus verstummt, mit dem sein Bräutchen sich die bevorstehende
Reise ausmalte.
Aber es ist jetzt gar keine Zeit zu solchen Fragen und Zweifeln. Also
da drüben liegt Deutz — die Kuppel dort ist St. Gereon — dort das
Siebengebirge —
Der Führer mühte sich, dem andern Paare den gestaltlosen Luftschimmer
am Horizont, der das Siebengebirge bedeuten sollte, zu bezeichnen.
»Dort, Karl, na doch dort!« und die junge Frau, eine hübsche,
etwas stark zum Untersetzten neigende Person, nicht gerade von der
allerduftigsten Blütenjugend, aber äußerst »chic« gekleidet, wie es der
kleinstädtischen Frau Wendland vorkam, stach in ihrer resoluten Art mit
dem neumodisch auffallenden Sonnenschirm in die Luft: »Na dort! Siehst
du denn nicht, Karl?«
Also »Karl«! Ein gleichfalls hübscher Mann, hager, dunkel, rasiert,
distinguiert, von einem geheimnißvollen vornehmen Etwas getragen, mit
stark blitzenden Ringen an der einen Hand. Er scheint einigen Respekt
vor dem resoluten Sonnenschirm zu haben — jetzt erkennt auch er jenen
Luftschimmer bereitwillig als das Siebengebirge an.
»Komm!« und er fügt ein zärtliches Diminutiv hinzu, das Frau Wendland
nicht recht versteht. Etwas burschikos faßt er mit der ringbeschwerten
Hand um ihren prallen, in blaugrauen Foulard gespannten Arm und
schiebt die junge Frau nach der engen Pforte zurück. Der Treppenraum
wiederhallt abermals von dem fröhlichen Gelächter der beiden.
»Ein reizendes Paar!« sagt Frau Wendland. »Wie lustig sie sind!«
»Warum nicht,« meint Herr Wendland matt. Ei, weshalb umfaßt er mit
seiner Hand nicht gleichfalls ihren Arm und schiebt sein Frauchen in
neckischer Zärtlichkeit nach der Treppe zu?
»Sehr nette Leute« — und ein leiser Seufzer entschlüpft ihr —
»besonders er, ein so feiner Mann!« (»So zuvorkommend und lieb!« fügte
sie für sich hinzu.)
»Ich habe sie mir darauf nicht angesehen! Komm, Anna!«
Nicht »Ännchen«, nicht »Weibchen« — »süßes Weib« — »kleine
Frau« — keines der Attribute aus dem üblichen Sprachschatze für
Hochzeitsreisende ...
Diesmal hatte das Echo des Treppenraumes nur die Heiterkeit des einen,
nicht des Wendlandschen Paares, zu vervielfältigen.
Im Wagen erst, als sie vom Domportal abfuhren, gab Herr Wendland eine
Art Entschuldigung seiner Laune, die er offenbar bereute.
»Weißt du, mein Liebling, ich habe Hochzeitsreisende als solche nie
ausstehen können!« platzte er heraus.
Doch gleich, vor ihrer erschreckten Miene, verbesserte er sich, mit
den gespreizten Fingern an seinen Schnurrbart fahrend und mit einer
gewissen schelmischen Miene dazu lächelnd, der die kleine Frau nur
schwer widerstand: »Die Anwesenden natürlich ausgenommen, Ännchen.
Weißt du, ein ganz dummes Junggesellenvorurteil!«
Ah, sie waren ja so glücklich, so glücklich! Solche winzige Wölkchen
heben im Vorübersegeln nur die reine Bläue des Firmaments.
Am Mittag, bei der Table d’hote, als eben der Fisch aufgetragen wurde,
machte Wendland seine Frau selbst auf ein ferner sitzendes Paar
aufmerksam: »Die jungen Leute vom Dom, nicht?« — »Die jungen Leute«
— als wenn er und Anna schon so alt wären, und über Liebeskindereien
längst hinaus!
»Wo?«
»Nun, dort drüben! Der Oberkellner stellt eben den Kübel mit der
Sektflasche vor sie hin.«
»Ah!«
Anna war ganz Augen, von ihren großen, schönen klaren Kinderaugen.
Wahrhaftig, sie sind’s! Ein hübscher Zufall! Sie hätte am liebsten nach
dem Paar hinübergenickt? Sind nicht alle Hochzeitsreisende in einer Art
Verwandtschaft? Aber sie nahm sich diesmal in acht, sie wollte Fritz
gegenüber diese Verwandtschaft nicht betonen.
Wirklich ein nettes Paar! Alles an ihnen strahlt und gleißt und
glitzert von ihrem neuen Glück. Die Aufmerksamkeit der Tischgäste
richtet sich auf sie, und ihre Champagnerlaune teilt sich der
Nachbarschaft mit.
Frau Anna findet, daß sie beide selbst dagegen durchaus keine
hochzeitliche Miene zur Schau tragen. Ein paarmal macht sie einen
Versuch zu einer Fröhlichkeit, aber es bleibt bei diesem Versuch:
seltsam — der Anblick des anderen Paares scheint wie lähmend auf sie
zu wirken.
Champagnertrinkende sind anderen ja stets »über«. O, sie, die
Wendlands, könnten ja auch einen Kork knallen lassen! Aber sie haben
sich für diese erste Reise Genügsamkeit gelobt. Sie sind Anfänger und
gedenken es durch Fleiß und Sparsamkeit zu etwas zu bringen in der
Welt. Übrigens bedarf denn ihr junges Glück solch prickelnder Anreizung?
Zweimal noch im Laufe des Tages begegneten sie dem Paar, in der Passage
und im Theater. »Unser Paar« nannten sie es jetzt scherzend.
»Ich möchte wohl wissen, wie sie heißen und wer sie sind« — meinte
Anna, als sie am Abend ins Hotel zurückkehrten.
»Das wollen wir bald erfahren!« rief Fritz gefällig. »Kellner, die
Fremdenliste!«
»Konstantin van Beveren, Fabrikant, nebst Frau,« stand dort verzeichnet.
»Fabrikant!« fuhr die kleine Frau entzückt auf »Dasselbe wie wir! Aber
woher?«
»Deutschland« stand da. »Freilich!« sagte sie enttäuscht. Es erhob
sich noch ein kurzer Streit darüber, ob es »van« oder gar »von« hieße.
»Meinetwegen: ich schenke dir auch noch das »von« für dein Paar, wenn
es dich glücklich macht!« rief er ironisch.
Am andern Tage, als sie mit der Bergbahn den Drachenfels erreicht: —
natürlich, Herr van Beveren nebst Frau aus Deutschland! »Ich wußte es!«
knurrte Herr Wendland in komischem Ärger.
»Unser Paar« kam auf zwei munteren Eselein dahergetrabt, lachend,
aufgeräumt und glücklich wie immer, sie in einem originellen
Frühlingskleid, das unter den Damen auf der Terrasse Aufsehen machte.
Gewiß ist ja die Eselspartie viel amüsanter als die Bahn — Herr von
(am einfachsten, um alle ferneren Zweifel zu heben: »von«) Beveren
trifft immer das Richtige!
Herr Wendland sah selbst die Thorheit ein, sich durch ein Nichts die
hochzeitliche Laune verderben zu lassen. Aber die unvermeidliche
Flasche »Drachenblut«, bei der sie sich niedergelassen, ward schneller
geleert, als man beabsichtigte.
Am anderen Tage, in Rolandseck, wieder bei der Table d’hote: — »Herr
von Beveren nebst Frau aus Deutschland!«
Sie hätten am liebsten beide hell aufgelacht. Ohne Zweifel, ihre
Doppelgänger! »Wir werden ihnen nun nicht mehr entgehen!« seufzte
Fritz lachend. Und aus Verzweiflung, um dem andern Paare ein Paroli zu
bieten, ließ er eine Flasche Heidsick aufsetzen.
»Kellner, eine Flasche Röderer, aber gefroren!« echote Herr von Beveren
gleich danach auf der anderen Seite.
Eine Gruppe Junggesellen an dem einen Ende des Tisches machte sich
sofort mit ihrem billigen Spott über die beiden champagnertrinkenden
Paare her. »Hochzeitsreisende!« Das Wort flatterte kichernd von Teller
zu Teller.
Der alte Junggesellentrotz erwachte noch einmal in Fritz Wendland.
»Wetter, ich will nicht sofort von jedem Laffen als Hochzeitsreisender
erkannt und tituliert werden!« Seine Laune war dahin; er hielt nur
mit Mühe an sich. Droben auf der Stube aber, im Angesicht eines der
herrlichsten Panoramas der Welt, kam sein Grimm dennoch zum Ausbruch.
»Eine Dummheit! Eine fürchterliche Dummheit — dein Paar!« wütete er,
und der Champagner wirkte diesmal in das Gegenteil.
»~Dein~ Paar! Wieso ~dein~ Paar! Wie komme ich dazu, Fritz?«
»Nun, du hast sie doch entdeckt! Wenn du sie nicht entdeckt ...«
»So wären sie wohl überhaupt nicht vorhanden?« fiel sie höhnend ein.
Er ließ sich hinreißen und rief: »Es giebt nichts Lächerlicheres auf
der Welt als Hochzeitsreisende!«
Das war zu viel! Sie brach in stürmische Thränen aus, die ersten
Thränen auf dieser Reise, ja, die ersten, die sie überhaupt vergossen,
seit sie ihm gehörte, jene ausgenommen, die in ihren verklärten
Augen tauten, als sie am Hochzeitstage, beide dem Festtrubel endlich
entschlüpft, Brust an Brust die übergroße Seligkeit ausströmen ließen.
»Wie ist es möglich? Wie ist es möglich!« schluchzte sie, die Hände
ringend.
»Ja, wie ist es möglich!« wiederholte er. »Lärme doch nicht so!
Weswegen? — es ist zum Lachen! — wegen eines wildfremden Ehepaares,
das uns garnichts angeht!« und er unterdrückte eben noch die Hälfte
eines Fluches.
»Wenn ich das gewußt — o, wenn ich das gewußt!« jammerte sie.
»So hättest du wohl nicht geheiratet, wie?« fuhr er grimmig heraus.
Ein stärkerer Thränenguß. Es war schade um den herrlichen
Sonnenuntergang, der das Siebengebirge in Goldpurpur verklärte.
Graueste Regenstimmung für sie. Natürlich sitzt Herr von Beveren nebst
Frau jetzt auf der berühmten Bahnhofveranda und grinst mit seinem
unverschämten Gesicht einen Fleck in die Landschaft. O du Jammer des
Hochzeitsreisens!
Es dauerte eine gute Weile, bis sie ihre Vernunft wieder fanden.
Was war denn eigentlich? »Du Närrchen!« liebkoste er ihr verweintes
Gesichtchen, »du bist mein süßes Närrchen!«
Sie ließ es geschehen. Aber das böse Wort von der Lächerlichket der
Hochzeitsreisenden glimmte weiter in ihr.
Sie hatten nicht den Mut zu bleiben: der Anblick des entsetzlichen
Paares würde sofort die Situation wieder in Thränen auflösen, das
ahnten sie. Und in einem Anfall lachender Energie beschlossen sie
abzureisen. Rolandseck war ihnen ja ohnehin verdorben.
Am anderen Mittag bestiegen sie von Remagen aus das Schiff. Nicht ohne
Zagen und Bangen: werden ihre Doppelgänger nicht darauf sein? Gottlob,
die Bahn war frei! Sie durften sich ungestört dem Genuß der Rheinfahrt
hingeben!
Nach einer halben Stunde tanzte von einer kleinen Nachenstation aus ein
Kahn mit roter Flagge in den bäumenden Wellen des Dampfers.
Fritz Wendland erblaßte vor Zorn.
»Sie sind’s,« ächzte sie außer sich und ließ die ausgebreitete
Rheinkarte im Winde flattern.
Kein Zweifel mehr. Der Kahn ward in dem Schaumgetose des Rades
gelandet. Herr von Beveren nebst Frau stiegen die Falltreppe hinan;
mit ihrem unausstehlichen Glückseligkeitslächeln, funkelnagelneuer
gekleidet denn je — »Hochzeitsreisende!« das Wort stand auf all den
gaffenden Mienen ringsum.
Herr Wendland zuckte ein Gelüste in den Fäusten, den Störer ihres
Friedens einfach zu packen und in den Rhein zu werfen. Das war wohl
zu stark! Aber vielleicht würde man es zu einem Wortwechsel, zu einer
Rempelei bringen — o, er war zu allem fähig! Hochzeitsreisen macht
wild!
Das Paar, von tänzelnden Kellnern umschwärmt, setzte sich sofort
zu einem opulenten Frühstück — natürlich knallte auch hier der
Miniaturböller des Champagnerkorkes.
»Wie protzig, wie gewöhnlich!« zischelte Wendland.
Bei dem Anblick des Paares ward der Schmerz von gestern abend bei Anna
wieder wach. »Das finde ich nicht —« erwiderte sie bissig. »Wenigstens
empfinden sie nichts von der Lächerlichkeit des Hochzeitsreisens!«
Sie fixierte lange und scharf mit dem Glase eine gewisse Burg dort oben
auf dem Waldhügel, um ihre Thränen zu verbergen. Er versenkte sich in
die Rheinkarte.
Welch eine Rheinreise! Und wie hatte sie sich darauf gefreut! Fritz ist
ein Ungeheuer! Er liebt sie nicht! O, er liebt sie nie und nie! Ich bin
das unglückseligste Geschöpf auf der Erde! Meine Mama, wenn meine arme
Mama das wüßte!
Es wurde Station Koblenz ausgerufen. Mit nervöser Hast raffte und
schnürte sie plötzlich die Reiseeffekten zusammen.
»Wieso, Anna?« fuhr er verwundert auf.
»Ich bleib’ nicht — ich steig’ aus!« Das »ich« stark betont. Sie
wollte sich wenigstens in einem Hotelzimmer in Ruhe ausweinen; die
verhaltenen Thränen erstickten sie noch!
»Du nimmst mich doch mit?« höhnte er.
»Wir kehren sofort um und reisen nach Hause!« (Der Klang ihrer Stimme
hatte etwas Kochendes.)
»Bon!«
Nichts Brutaleres, als der Kanonenschuß dieses »Bon!« O, wie sie ihn
haßte! Er hat kein Gefühl — er hat kein Herz — nicht einmal Verstand,
sonst würde er an diesem wildfremden, harmlosen Menschen nicht ihr
Glück, ja, ihre Zukunft scheitern lassen! Er ist nichts anderes wert,
als daß man sich von ihm — trennt! Gottlob, das ist das richtige Wort!
Es ist heraus! Ist doch die Hochzeitsreise das Symbol des künftigen
Ehelebens. »Es giebt nichts Lächerlicheres ...« fort und fort summte
ihr das im Ohr. Wohlan!
»Hast du die Schirme, Fritz?«
»Ja!« Scharf abgehackt.
»Hast du den Bädecker nicht liegen lassen, Anna?«
»Nein!« Ebenso scharf abgehackt.
Es war an diesem Abend kein vernünftiges Wort mit einander zu reden.
So schien es ihm das Beste, daß sie sich in ihrem Hotelzimmer zu
Koblenz tüchtig ausweinte, wenn dieses Mittel nun einmal angezeigt ist.
Er trollte also den Abend über in der Stadt und am Rheinufer umher,
besuchte ein Wein- und zwei Bierhäuser, ganz der alte Junggeselle.
Und eine schier dämonische Sehnsucht nach der früheren Ungebundenheit
reizte ihn. Unter welche unerhörte Lächerlichkeiten muß man sich
ducken! Welchen empörenden Demütigungen durch ein Nichts ist man
ausgesetzt! Natürlich kehren wir nach Hause zurück, meinetwegen — ich
bin zu allem bereit!
Am Morgen, da er in stillschweigendem Groll Anstalten zur Abreise traf,
erklärte sie: »Nach Hause auf keinen Fall! Die Schmach mache ich nicht
mit! Unsere Reise sollte vier Wochen dauern und ... und ...«
Ein neuer Weinkrampf erstickte ihre Stimme. Freilich, in diesem
Zustande verzichtet er ebenso auf die Heimfahrt. Aber was dann? Wohin?
Keinen Schritt mehr auf dieser Hochzeitsreise! Aber was dann?
Wütend, ratlos, mechanisch griff er nach der frischen Zeitung, die der
Kellner beim Servieren des Frühstücks auf den Tisch gelegt. Plötzlich
schnellte er empor, warf die Zeitung hin, nahm sie wieder auf, las
abermals und sprang mit einer gewaltigen, herzbefreienden Lache vom
Stuhl.
»Und deswegen!« rief er, »es ist kaum glaublich!«
»Was ist? Was hast du?« — in gesuchter Gleichgiltigkeit hob sie
langsam den Kopf aus ihrer völlig apathischen Migränestimmung.
»Huhuhuhu — hahahaha!«
Beleidigt durch diese plötzliche Fröhlichkeit, runzelte sie die Stirn.
»Da lies einmal!« Immer noch lachend, schob er ihr das Zeitungsblatt
hin, auf eine Stelle der »Neuesten Nachrichten« deutend.
Sie senkte den Blick trotzig blinzelnd darauf und schob dann das Blatt,
ohne verstanden zu haben, wieder auf den Tisch.
»Nun?« grinste er.
Sie zuckte die Schulter. Unmöglich kann sie die Stelle gelesen haben,
sonst müßte sie doch gleich ihm losplatzen. Und er nahm das Blatt auf
und las laut, in wichtig-komischem Ausruferton:
»Boppard, den 30. Mai. Endlich ist es unserer Polizei gelungen, den
seit Wochen steckbrieflich verfolgten Kassierer M. S. aus Harburg in
Gemeinschaft mit seiner Geliebten, der durchgegangenen Frau eines
Hamburger Friseurs dingfest zu machen. Die beiden raffinierten
Verbrecher bereisten, während der Telegraph sie in New-York suchte,
als Konstantin van Beveren nebst Frau, unter dem nicht übel gewählten
Inkognito eines Hochzeitspärchens, unseren von dieser Gattung
gesegneten Rhein, wo sie bei allen Gelegenheiten den Champagner
springen ließen ...«
»O! —« Frau Wendland schnappte nach Luft. Zuletzt siegte seine
gewaltige Heiterkeit über den Rest ihres Trotzes. Also ein
champagnertrinkendes Verbrecherpaar als Doppelgänger! Unendlich
komisch! Lachend fielen sie sich um den Hals. Was für Narren und
Närrchen sie doch beide gewesen!
Eine halbe Stunde darauf saßen sie auf dem stolzen »Humboldt«, der
majestätisch, von bäumenden Schaumwellen umtost, rheinauf dampfte.
Das System
[Illustration]
Ich schäme mich nicht, es zu gestehen: ich habe mir mein Glück aus der
Spielhölle von Monte Carlo geholt!
Ich hatte selten auf Nummern gewonnen; diesmal war das Goldstück von
dem geringeren Risiko einer einfachen Farbe auf das gefährlichere Feld
der Nummern gerollt und dort liegen geblieben. Meinetwegen mochte auch
das von dem unersättlichen Abgrund verschlungen werden!
Es war die Zweiundzwanzig. Gleich darauf wurde noch ein anderes
Goldstück langsam, mit einer gewissen zaghaften Vorsicht, von einer
kleinen, schwarzpolierten Harke auf dieselbe Nummer geschoben. Und da
ertönte auch schon das heisere: »=Rien ne va plus!=« des Croupiers.
Siehe da, die Zweiundzwanzig schlug ein! Ich wußte, ich hatte das dem
besseren Glücke jenes andern unbekannten Spielers zu verdanken. Zwei
Häuflein blinkender Louis wurden von der Bank aus auf die Glücksnummer
geschoben, und die Hände der beiden Gewinner langten danach. Meine
Hand, die mit sicherem Griff der ausgestreckten Finger das eine
Häuflein faßte, und eine andere Hand — nein, nur die erstaunliche
Winzigkeit eines Händchens, das zierlichste, eleganteste und weißeste,
das man sehen konnte.
Es ist eine Thatsache, daß die Schwüle und leidenschaftliche Atmosphäre
des Spielsaals die Sinne zu solch scharfer und schneller Thätigkeit
reizt. So mochten diese wenigen Sekunden genügen, mir die Form und
Bildung dieses Händchens einzuprägen: die schlank gemodelten Finger
mit den länglichen, gewölbten Rosanägeln, die allerliebsten Grübchen
auf den Knöcheln, das feine blaue Geäder, das durch die alabasterweiße
Haut schimmerte, das zarte Handgelenk, das eine Schlange von englischem
Sterlingsilber umfing.
Das Händchen bebte ein wenig, und beim Hinfassen stieß es ein paar
Goldstücke von dem Häuflein herab. Das eine derselben rollte nach
mir hin. Ich griff es noch im Rollen und schob es wieder vor. Beim
Aufsehen traf mich das kurze, fast unmerkliche Neigen eines dunklen
Mädchenkopfes und der dankbare Blick aus zwei großen, überaus
glänzenden Augen.
Sofort setzte ich noch einmal auf die Zweiundzwanzig, gemäß einer
Tradition, daß der Kobold des Zufalls solche Wiederholungen begünstigt.
Gleichzeitig schob auch das Händchen von drüben zwei Louis auf dieselbe
Nummer vor. Und wieder trafen sich unsere Blicke. War es nicht, als
glitte der Hauch eines eigenartig wehmütigen Lächelns um die vollen,
aber festgeschlossenen Lippen der Spielerin? Gleich darauf senkte
sich das liebliche Köpfchen, auf dessen üppigem Braunhaar ein kleiner
kleidsamer Herrenfilz nicht ohne einen Anflug von Koketterie saß. Die
Dame hatte von einem der Polsterstühle Besitz genommen, und vor ihr
auf dem grünen Tisch war jene Art von Bureau eingerichtet, mit dem die
professionierten Gewohnheitsspieler das Glück zu korrigieren trachten.
Ein Büchelchen lag aufgeschlagen, dessen vorgedruckte Kolumnen mit
blauen und roten Bleistiftzeichen angefüllt waren. Seitwärts befand
sich ein kleiner Stoß von Kärtchen, bei denen die Bleistiftzeichen
durch Stecknadelstiche markiert waren; zwei große Stecknadeln mit
Silberköpfen staken im Buch, lauter »Handwerkszeug«, wie man es in
jedem Zeitungskiosk von Monaco zu kaufen bekommt. Davor schimmerten
mehrere Häuflein von Gold- und Silberstücken, und das Ganze war durch
jene zierliche, schwarz polierte Goldharke gleichsam gegen den übrigen
Tisch abgegrenzt.
Und siehe, abermals schlug die Zweiundzwanzig ein. Ich muß sagen, daß
nach allem, was mir hier in Monaco geschehen, es mir nicht gelang,
den Ausdruck meiner Freude über solchen Glücksfall zu verbergen. Und
auch über ihr Gesichtchen leuchtete es; es war eine naive Freude,
die fast an das Lottospiel der Kinderstube erinnerte und nichts von
jener heißen Geldgier hatte, die man sonst an Spielbanken zu treffen
pflegt. Diese Kindlichkeit stand in seltsamem Widerspruch mit dem
Büchlein und der Harke und den Stecknadeln. Wieder trafen sich unsere
Blicke. Es schien ihr schwer, ein deutlich grüßendes Nicken nach mir
hin zu unterdrücken. Sie lächelte mir zu, wobei die weißesten Zähnchen
zwischen den frischen Lippen sichtbar wurden. Und gleich fuhr eine Röte
über ihr Gesicht — war es die Wirkung des Glücks oder die Folge jenes
Lächelns, mit dem sie einen Wildfremden begünstigt?
Da wurden auch schon die Goldhaufen von der Bank herangeschoben. Unsere
Hände — o, ich greife vor, indem ich dieses »unser« niederschreibe,
und für diese Situation klingt das bedeutungsvoll umfassende Fürwort
fast wie eine Entweihung — wollten eben die Gewinne in Empfang nehmen,
da fuhr von meiner Seite, nicht weit von mir, eine dritte Hand über den
Tisch nach der Zweiundzwanzig hin. Eine sehnige, häßliche Männerhand,
die aus einer großen abgetragenen Manschette hervorragte. Und mit
gieriger Hast bemächtigte sie sich des einen der drei Goldhaufen. Das
Händchen zuckte erschrocken zurück.
»Halt, mein Herr!« sagte ich mit einer wehrenden Geste nach der
Räuberhand hin; »der Gewinn gehört der Dame! Wohl ein Irrtum — Sie
verzeihen!«
Die Karrikatur eines Dandygesichts mit glatt geschniegeltem Haar, spitz
ausgewichstem Schnurrbart und verwitterten Zügen grinste mich mit einem
frechen Lächeln an.
»O mein Herr,« schnarrte er in gebrochenem Französisch, — »Sie werden
doch nicht behaupten wollen, daß ich mir fremde Gewinne aneigne?«
Und die sehnige Hand hatte mit einem sprungartigen Griff, der an ein
Raubtier erinnerte, das Geld erfaßt. Aus den grünlichen Augen traf
mich ein unheimlich stechender Blitz. Kein Zweifel, es war einer jener
professionellen Bankräuber, die aus ihrem Hinterhalt sich auf den
Gewinn eines Neulings stürzen, um ihn mit kecker Unverschämtheit an
sich zu reißen. Die Bank kann sich dieser Hyänen, die den Abfall des
Glückes erschleichen, nur schwer erwehren; bleibt doch bei der großen
Zahl der Einsätze stets ein Irrtum möglich. Bei kleineren Sätzen zahlt
sie, um Skandal zu vermeiden, doppelt aus, dem Räuber wie dem Beraubten.
»Herr Croupier,« wandte ich mich ganz empört an den nächsten Beamten,
»ich habe deutlich gesehn, daß die Dame zwei Louis gesetzt. Ich setzte
den dritten.«
Der Beamte zog phlegmatisch eine große goldene Dose aus der
Seitentasche seines Rockes, und während er die Prise langsam an die
rundliche Nase führte, sagte er im ruhigsten Ton, nach dem Räuber
gewandt:
»Sie haben sich geirrt, mein Herr, der Gewinn gehört nicht Ihnen.«
»Ich irre mich nie!« rief jener und ließ dabei das Geld mit einem
deutlichen Klingeln in die eine Tasche seines Jacketts gleiten. »Nie,
verstehen Sie ... es sind andere, die sich irren!«
Und mit einer höhnischen Herausforderung wechselten seine Blicke
zwischen mir und dem Beamten. Dieser zuckte die breiten Schultern
und steckte seine Dose ein. Ein Kollege neben ihm that noch einige
inquirierende Fragen an mich und den Räuber, doch ohne Resultat. Ich
wollte mich aber nicht beruhigen, mich an eine andere Instanz wenden
und die Herausgabe des Geldes erzwingen — da traf mich von drüben ein
flehender Blick aus den großen dunklen Augen, und eine bittende Geste
der beiden einander zugekehrten Händchen veranlaßte mich, von weiterem
abzustehen. Das Blut war aus den Wangen der Spielerin gewichen, unruhig
und aufgeregt wiegte sie sich auf ihrem Platz.
Jener behielt also einfach seinen Raub, und die ganze Angelegenheit
wurde gleichsam zugedeckt von dem gedämpften Rufen des Croupiers, von
dem feinen Klimpern und Klirren des Geldes, das in der Bank gehäufelt
und sortiert wurde, von jener eigenartig zitternden Stille, die eine
häßliche Parodie andächtiger Kirchenstille ist.
Ganz mechanisch setzte ich noch ein paarmal. Dabei ließen meine Augen
nicht ab von ihr. Aber es war mir nicht möglich, meine bedauernde
Verbeugung anzubringen. Sie sah nicht auf und sie setzte nicht mehr.
Ihr Köpfchen war tief herabgesenkt, und mit erheuchelter Aufmerksamkeit
blätterte und suchte sie, den Bleistift in der Hand, in ihrem
Büchelchen.
Da war plötzlich die schnarrende Stimme des Räubers hinter mir. Sie
stellte mich in einem Idiom, das ich nicht verstand, aber dessen
Betonung nicht viel Höfliches bedeutete, zur Rede. Ich wollte
ausweichen, doch entfuhr mir wider Willen eine wütende Gebärde und ein
schlimmes Wort der Erregung. Es wäre zu einer Scene gekommen, wenn
nicht einer jener gravitätischen Herren in schwarzer Toilette, die
zwischen den Tischen hin und her kreuzen, auf uns zugetreten wäre und
kraft seiner polizeilichen Autorität uns bedeutet hätte, den Streit an
einem andern Orte auszumachen. Ein paar Worte, die er meinem Angreifer
zuraunte, veranlaßten diesen, sich davonzuschleichen.
Auch ich trat nicht mehr in den Kreis der Spieler. Ein Ekel über das
ganze Treiben hatte mich erfaßt, und ich wollte mir draußen in der
freien Natur Erquickung suchen.
Als ich noch auf dem Treppenpodest im Portal des Kasinos stand,
gefesselt von der unvergleichlichen Scenerie des ansteigenden Parkes,
der im Sonnengold eines wolkenreinen Januartages ruhig und schön und
verklärt dalag, trat eine Gestalt von rückwärts zu mir heran.
»Mein Herr, wollen Sie verzeihen —«
Wirklich, ich schrak ein wenig zusammen — mein Blick, der so nahe in
die großen, großen Augen meiner Partnerin tauchte, und der Klang ihrer
melodischen Stimme, der so seltsam süß mein Ohr umschmeichelte!
»Mein Fräulein —«
»Es thut mir herzlich leid, daß Sie meinetwegen solche
Unannehmlichkeiten hatten. Ich danke Ihnen für den Beistand.«
Sie sprach deutlich, mit einem leisen Anflug des hannoverschen Accents.
»O, bitte, bitte, mein Fräulein!« stammelte ich noch ganz überrascht.
»Ich bedaure nur, daß ich die Sache so ungeschickt angefangen. Man
hätte ihm den Raub dennoch wieder abjagen müssen!«
»Sie sind fremd hier, mein Herr,« fiel sie ein, »Sie kennen dergleichen
noch nicht. Es ist nichts gegen sie zu machen, und auch die Bank muß
sie gewähren lassen.«
Aber, mein Gott, war sie denn nicht auch fremd hier? War sie denn so
unheimlich vertraut mit den Fährlichkeiten der »Hölle,« daß sie mit
solcher Sicherheit sich in diesen Dingen äußern konnte? — eine junge
Dame von zwanzig Jahren, dazu eine Deutsche!
»Sie sind schon länger hier, mein Fräulein? Sie haben schon lange —
gespielt?« Es war mein Erstaunen, das mir diese Frage auspreßte.
»Wir sind schon drei Jahre hier,« warf sie zögernd in einem dumpfen
Tone hin, ohne mich anzusehen, das Köpfchen wie in einer plötzlichen
Scham zur Seite gewandt.
Ich hatte gehört, es giebt in Monaco ganze Familien, schiffbrüchige
Existenzen, die in harter, systematischer Tagesarbeit dem grünen Tisch
den Unterhalt ihres erbärmlichen Lebens abringen.
Währenddem waren wir die paar Stufen hinabgeschritten.
»Ach, wie wundervoll!« rief sie aufatmend, indem sie mit dem Fächer,
einer ganz billigen Dutzendware, nach den Bergen hinwies, die in
blendender Farbenpracht zwischen dem üppigen Grün der Parkbäume
herüberleuchteten.
Wir wechselten die üblichen Bewunderungsgeständnisse über die
Herrlichkeit des Ortes, der ein wahrhaftes Paradies sein könnte, wenn
die Hölle nicht so triumphierend ihren Thron hier aufgeschlagen.
»Und zu denken, daß manche, ja sogar viele hieher kommen, die keinen
Blick und keinen Sinn haben für solche Herrlichkeit —« sagte ich, mit
einer geheimen Anklage gegen mich selbst; — hatte ich doch ganze Tage,
von heißem Fieber besessen, in der dumpfigen Schwüle des dämmerigen
Saales am Spieltische verbracht, ohne eine Sehnsucht nach dem Anblick
der unbeschreiblich schönen Gotteswelt zu empfinden; hatten doch der
Wechsel von Glück und Unglück und all die nerventötende Aufregung mich
blind gemacht. Und es war, als würde mir mit ihrem Ausruf und mit
dem Zauberstab ihres Fächers plötzlich die ganze Wunderwelt wie eine
Offenbarung erschlossen.
Wir waren an die Marmorballustrade der Terrasse herangetreten; ihre
zierliche Gestalt stand leicht daran gelehnt, ihre Augen schweiften mit
einem Leuchten der Entzückung über die flimmernde Meereshelle, und ihr
geöffneter Mund sog gierig die würzige Seeluft ein; einmal atmete sie
hoch auf, so daß die in ein knappes Sammetmieder eingezwängte Büste
sich wie in befreiender Erlösung dehnte. Ein paar »Marschall Niel«
staken im Miederschluß, aber sie hingen schlaff herab, als hätte der
heiße Gifthauch der Spielhölle sie getötet. Das Profil ihres Kopfes
zeichnete sich dunkel gegen den Meeresglanz: das fein gebogene Näschen,
das rundliche Kinn, das von auffallender Energie zeugte, die edle
Bildung der Stirn mit den graziösen Bogen der Augenbrauen.
Mit welcher kindlichen Unbefangenheit plauderte sie in Gegenwart des
Fremden!
»Sehen Sie dort oben das Adlernest, das so goldig aus dem dunklen Blau
der Berge leuchtet, das ist Roccabruna, ein köstliches Ding, fast
nur aus Treppen bestehend, aber reizend. Das müssen Sie sich ansehen.
Dort liegt Ventimiglia; dort hinten im Duft, das an der äußersten
Spitze, ist das Palmenland von Bordighera, mein liebes Bordighera!
Wie die Brandung wieder wütet gegen den Fels — Sie sehen deutlich
den schneeweißen Schaum. Wenn Sie etwas Herrliches von einer Brandung
genießen wollen, so müssen Sie dorthin fahren. — Ah, was schwärme
ich Ihnen vor, mein Herr! Sie haben gewiß keine Zeit, Sie müssen —
arbeiten; Sie bleiben nicht lange hier, Ihre Zeit ist kostbar, und Sie
haben sich vorgenommen, die Bank zu sprengen. Ich wünsche Ihnen viel
Glück — nein, ich wünsche Ihnen keines, dies Glück wird Ihnen kein
Glück bringen.«
»Ah, das ist alles so häßlich, das ist entsetzlich!« rief sie
plötzlich, mit heftig abwehrender Geste nach dem palastartigen Bau des
Kasinos hin, der über uns in feenhafter Pracht in das Tiefblau des
Himmels ragte. Es war wie ein Erwachen. Die liebliche Heiterkeit, die
ihr Gesichtchen sonnig verklärt hatte, verschwand hinter einem düstern
Schatten. »Wenn man fort könnte, weit fort, dort hinüber ...« flüsterte
sie dumpf, wie für sich, mit den halb geschlossenen Augen nach der
Meeresweite weisend. Und gleich darauf schien sie ein Zorn über sich
selbst zu erfassen — »nein, nein, es ist unrecht das, was ich sage!«
Ihr Füßchen stampfte leicht auf. Und dann — eine neue Ueberraschung
— fiel sie in ganz geschäftsmäßig ruhigen Ton, den eines erfahrenen
Spielers, der einem andern gute Ratschläge giebt: »Setzen Sie so und
so. Das dürfen Sie nicht thun! Und das müssen Sie vermeiden. Am besten
ist, Sie verlieren einen tüchtigen Haufen Gold, nehmen ein Billet und
reisen vergnügt nach Hause.«
»Wenn man aber nichts zu verlieren hat, mein Fräulein — nichts — gar
nichts mehr!« warf ich tonlos hin.
Sie sah mir mit weit geöffneten Augen prüfend ins Gesicht. Das hatte
wie eine helle Verzweiflung geklungen. Ihre Gestalt zuckte fast
unmerklich zusammen. Was, sie hatte doch nicht etwa einen von den
Unseligen vor sich, die nach dem gleißenden Namen Monaco gegriffen, um
sich vor dem Untersinken zu retten, und die sich statt der erträumten
Goldhaufen mit dem lakonischen Leichenstein eines Selbstmörders
begnügen, den ihnen die Bank in ihrer Großmut an der Mauer des
Kirchhofs von Monaco gewährt?
Ja, ich will es gestehen, ich war nicht viel wert damals! Ich hatte
wenig Respekt vor mir selber damals. Ich hatte nichts mehr zu
verlieren, weder an Gut noch an Lebensmut. Es war mir erbärmlich
schlecht gegangen. Alle meine Spekulationen waren fehlgeschlagen,
alle meine Hoffnungen vernichtet; ich war geflohen vor dem Gespenst
des Bankerotts, das schon seit Monaten in den Sälen meiner Fabrik
umherspukte. Ich hatte in meiner Verzweiflung nach dem gleißenden
Namen Monaco getastet, daß der Zufall von des Teufels Gnaden ein
letztes Erbarmen hätte. Aber seine teuflischen Gnaden hatten kein
Erbarmen. Auch bis hieher, bis an das =Trente-et-Quarante= hatte mich
das Gespenst verfolgt, mit seinem entsetzlichen Grinsen immer wieder
auf die grüne Fläche hinweisend. Und vor ein paar Tagen war es, an
einem Abend, da hatte ich mich so unheimlich angezogen gefühlt von
der im grellen Gaslicht erglänzenden Auslage eines gewissen Nizzaer
Waffenladens. Immer wieder stand ich davor, nicht wissend, wie ich
wiederum dorthin geraten, und die schwarzen Mündungen eines gewissen
Revolvers glotzten mich so verführerisch an. Aber es war gut, daß, wie
zur Abwehr mittelloser Selbstmörder, der Preis an der Waffe haftete
— das =Trente-et-Quarante= hatte mich so völlig ausgeleert, daß ich
ein häßlicheres und billigeres Mittel hätte wählen müssen. Da wandte
ich mich ab, fuhr noch einmal nach Monaco zurück und versuchte es mit
den bescheideneren Chancen des Roulettes. Ich begann wieder aufzuatmen
— auf wie lange? Ich hatte das Gefühl, daß es nur ein Aufschub wäre.
Nein, ich war nicht viel wert, ich war absolut nicht viel wert!
Sonderbar, ich wäre im stande gewesen, ihr in diesem Augenblick dies
Geständnis zu machen, ihr, der Wildfremden — und es wäre mir eine
große Erleichterung gewesen. Vielleicht hätte es meine Rettung bedeutet
— aber ich hatte nicht den Mut. Welch eine Ungehörigkeit, eine junge
Dame, die ich vor einer halben Stunde kennen gelernt, in den Abgrund
meiner Seele blicken zu lassen!
Ich hatte vor der eigenartig strengen Prüfung ihres Blickes das Haupt
gesenkt. Es ward eine kurze Stille. Plötzlich streckte sie mir mit
einer resoluten Bewegung ihr Händchen entgegen, das nur mit rehbraunem
Schwedisch bekleidet war.
»Wollen Sie mir versprechen, nicht mehr zu spielen, mein Herr?« sagte
sie. Ihre Stimme vibrierte. »Nein, das kann ich nicht verlangen, wie
komme ich dazu ... verzeihen Sie mir die Bitte überhaupt; aber wollen
Sie mir wenigstens versprechen, drei Tage lang nicht zu spielen? Nicht
die Spielsäle zu meiden, das wäre das Falsche, nein, Sie sollen dabei
sein, als ein ruhiger Beobachter im Hintergrunde stehen. Vielleicht,
daß es Sie kuriert. Glauben Sie mir, ich bin eine Sachverständige ...«
Das Händchen war noch immer vor meinen Augen ausgestreckt. Ich zögerte,
es zu nehmen. Welch eine Naivität, welch eine Wunderlichkeit, welch
eine Keckheit, mich zu solch einem Versprechen zu zwingen! Wer war sie
denn, daß sie solches wagen durfte? Aber es sprach so viel freundliche
Güte aus dem Ton ihrer Stimme, aber ihre lieben, schönen, offenen
Augen baten mit so zwingender Gewalt — und sie hatte auf dem Grund
meines Gewissens gelesen! Ist es doch eines Menschen Pflicht, einem
versinkenden Mitmenschen die Hand zu reichen.
Da ergriff ich das dargebotene Händchen und drückte es in stummer
Erregung. Es war mir, als hätte ich plötzlich einen guten Kameraden
gefunden.
Eine kurze Strecke schritten wir noch, ohne ein Wort zu sprechen, an
der Ballustrade entlang. Da fuhr ein leerer Fiaker im Schritt vorüber.
Sie winkte ihm, zu halten.
»Ich muß nach Hause, ich werde erwartet!« rief sie. »Ich danke Ihnen,
ich danke Ihnen! Adieu!«
Mit graziöser Leichtigkeit bestieg sie das Gefährt. Noch einmal grüßte
sie mit einem feinen Lächeln, dann jagte der Wagen mit der rasenden
Geschwindigkeit südlicher Fiaker die Fahrrampe nach Condamines hinab.
Ich stand noch eine gute Weile auf derselben Stelle, regungslos und
völlig verblüfft dem Wunder dieses Wagens nachstarrend.
»Ich danke Ihnen!« — es war fast, als gälte dieser Dank weniger meinem
Ritterdienst als dem Versprechen, das ich ihr Hand in Hand geleistet.
Und das Lächeln ihres grüßenden Kopfes — es sah fast aus wie der
Ausdruck eines Triumphes, den sie über mich davongetragen — nein,
wie eine Schelmerei, die sie in kinderhafter Laune mit mir trieb —
ach nein, wie der freundliche Zuspruch eines echten Kameraden, daß ich
tapfer sein möchte — alles, alles! — Immer und immer stand mir dieses
Lächeln vor Augen, immer wieder sah ich ihren großen, streng prüfenden
Blick auf mich gerichtet — und ihre Stimme, die klangvolle Melodie
ihrer Stimme! Wer war sie denn, daß sie mich mit solch zauberartiger
Geschwindigkeit in ihren Bann zwingen konnte?
Ich wollte mich auflehnen — nun, ich hatte ihr aber das Versprechen
gegeben, und ich war in meiner Freiheit gefesselt — ein ernster Mann,
der sich in der kritischsten Lage seines Lebens von einem Kinde fesseln
läßt! Aber die Gedanken an sie, die mich fort und fort wie neckische
Schmetterlinge umgaukelten, wollten kein volles Unbehagen über diese
Fessel in mir aufkommen lassen.
Zuerst mied ich den Spielsaal — gegen das Rezept der
»Sachverständigen«, wie sie sich selber nannte. Ein seltsamer,
fast kindlicher Trotz ließ mich fernab dem Kasino in den Bergen
umherschweifen. Ich kletterte die düsteren, feuchtkühlen Treppen
des Adlernestes von Roccabruna hinauf, strich durch die üppigen
Zitronenhaine, die diesen Ort umkränzen, saß sinnend und träumend
auf einem Felsen am Strande, dem vieltönigen Geräusch der Brandung
lauschend. Aber immer wieder schweiften meine Blicke nach dem Kasino
hinüber, das aus der Ferne, von Sonnenglanz übergossen, wie ein kostbar
geschmiedetes, reich verziertes Schmuckstück herübergrüßte.
Vielleicht sitzt sie jetzt dort am Spieltisch, von dem mich ihre List
hinweggetrieben. Gewiß sitzt sie dort an der »Arbeit« — deutete
denn nicht das Bureau, das sie sich am Tisch eingerichtet, auf eine
regelmäßige Gewohnheit? Und ihr verwünschender Ausruf nach dem Kasino
hin ließ darauf schließen, daß sie wider Willen solch häßliche Arbeit
verrichtete.
Ich meinte, es wäre etwas wie eine Neugier, die mich dennoch am Abend
nach dem Kasino führte — vielleicht war es die Befolgung ihres
Rezeptes, daß ich mich drinnen von dem unseligen Fieber kurieren lassen
sollte — vielleicht war es die wachsende Sehnsucht, sie wiederzusehen,
die mich ein paar Stunden lang das Kasino umkreisen ließ und mich von
Bank zu Bank der umgebenden Anlagen trieb, bis mir schließlich der
Huissier die Thür zu dem von einem magisch gelblichen Dämmerlicht
erfüllten Heiligtum öffnete.
Zuerst saß ich auf einem Diwan, genau nach dem Rezept, um das Treiben
als unbeteiligter Zuschauer zu beobachten. Wie sie hereinhasteten,
die Golddurstigen, um sich auf einen der massigen Menschenknäuel zu
stürzen, aus deren Mitte das feine Klingeln des Goldes herübertönte;
wie sie von einem Haufen zum andern irrten, daß der Zufall ihnen
vielleicht dort günstiger wäre; glühende, entstellte Gesichter mit
fieberisch flackernden Augen; todblasse Gesichter, die stieren Blickes
nach dem Ausgang suchten, daß sie dem entsetzlichen Schauplatz
ihres Ruins entflöhen; Gestalten, die mit dem nackten Ausdruck der
Verzweiflung, nicht zu weit abseits, in allen Taschen nach einem
letzten rettenden Goldstück suchten; Gattinnen, die mit Thränen in
den Augen den Gatten zurückhielten, der sich dennoch losriß, von
unbezwinglicher Gier erfaßt; Dirnen, die mit lüsternen Mienen nach Raub
umherschlichen! feine Damen, die in einem Sessel saßen und mit bebendem
Bleistift rechneten, rechneten ... O, es hätte einen wohl kurieren
können, und sie mochte recht haben, meine Sachverständige.
Zuletzt schlich ich dennoch an die Haufen heran und suchte nach ihr.
Es war nicht leicht, jemand zu finden, so tief versteckt waren die
Sitzenden unter den herübergebeugten Körpern und den hantierenden Armen
der Stehenden. Endlich hatte ich sie entdeckt. Sie stak tief in der
»Arbeit«. Der ganze Apparat war vor ihr ausgebreitet. Das Licht des
tief herabhängenden Schirmes beleuchtete grell ihr Gesichtchen. Das war
gerötet und erregt. Das Händchen war in voller Bewegung. Es notierte
in den Listen, blätterte und suchte in dem Büchelchen, notierte
wieder, regulierte und ordnete die Goldhaufen vor ihr, warf mit einer
erstaunlichen Sicherheit die Einsätze hierhin und dorthin, während die
Augen unruhig hin und her hasteten. Um ihre feinen Nasenflügel zuckte
es, während ihr streifender Blick das Rollen der Kugel im Roulette
beobachtete.
Es that weh, o, es that weh, diese Augen zu beobachten, das Büchlein
mit den Aufzeichnungen, das Gold, die Harke, alles dort vor ihr liegen
zu sehen, — die Seele des jungen Wesens dennoch, so sehr sie sich
dessen bewußt sein mochte, von dem Dämon besessen zu wissen!
Und in welcher Gesellschaft betrieb sie solches widerliche Geschäft!
Man muß das Publikum der Spielbank in zwei Hälften sondern: die einen,
die der Übermut, die Neugierde, die Gelegenheit, eine Anwandlung des
Leichtsinns, ja gar eine höchste Verzweiflung ihr Geld in naivem
Vertrauen auf die Gunst des Zufalls in den Abgrund schleudern heißt,
und die, nachdem jener sein Werk verrichtet, der Spielbank mit leeren
oder vollen Taschen den Rücken kehren, zuweilen um sich in entlegener
Ecke eine Kugel vor den Kopf zu jagen; die anderen aber, fürchterliche
Systematiker, die mit ihren Berechnungen oder durch ihre Ausdauer den
Zufall zu zwingen glauben; gefräßige Parasiten, die ihren Gewinn in
hartnäckiger Arbeit Stunde um Stunde in elender Kleinmünze einheimsen;
und dann die Hochstapler, die Betrüger, das aufgeputzte Laster, der
Abschaum der Gesellschaft ... und sie mitten unter diesen!
Rechts neben ihr saß die verwitterte Ruine einer Dame, deren Züge nur
mit dem Aufwand der energischsten Toilettenkünste zusammenzuhalten
schienen und deren erloschene Augen nur wie im Halbbewußtsein dem Gange
des Spiels folgten. Die spinnenartig dürren Finger wühlten mit nervösem
Beben in einem Häuflein von Gold, aus dem sie ganz mechanisch einzelne
Stücke, wie es schien, aufs Geratewohl nach irgend einer Chance warf.
Auf der andern Seite ein jämmerlicher Invalide der Leidenschaft, das
Gespenst eines blassen, hohläugigen jungen Mannes, dessen Lebensmark
gänzlich von jahrelangem Spielfieber aufgezehrt war, eine Art Automat,
dessen Bewegungen nur noch von den Rufen des Croupiers reguliert wurden.
Zuletzt erfaßte es mich wie ein Zorn, sie dort sitzen zu sehen. Wer
war sie denn, daß sie in das Verhängnis meines Lebens einzugreifen
wagte, sie, die am ehesten eines Helfers und eines Retters bedurfte?
Ich konnte es nicht länger mit ansehen und entfernte mich, um mich
draußen in dem prunkvollen, von Marmorsäulen geschmückten Vestibül
zu ergehen — nun ja, um auf sie zu warten. Ich wollte sie einfach
zur Rede stellen, und heute sollten die Rollen getauscht werden.
Ich würde ihr meine Hand entgegenstrecken und ihr ein ähnliches
Versprechen abzwingen. War sie aber auch in der Freiheit, ein solches
halten zu können? Schien es nicht, als kettete sie ein unheimlich
unseliges Geschick, unter dessen Alp sie sich willenlos beugte, an den
Spieltisch? Nun, ich wollte sie wenigstens um eine Aufklärung ersuchen,
die sie als meine Richterin legitimieren könnte. Ich wartete, wartete,
bis die letzten Gäste das Haus verließen, vergebens — sie mußte für
diesmal, mir unbemerkt, entschlüpft sein.
Am andern Tage, noch am Vormittag, bald nach der Eröffnung der Banken,
traf ich sie wieder dort, wieder in voller Arbeit. Mein Gott, welche
Eile, welche entsetzliche Beharrlichkeit! Ich stellte mich so auf,
daß sie mich sehen mußte. Bald darauf trafen ihre Augen den fragenden
Vorwurf meines Blickes, der starr auf sie gerichtet war. Sie zuckte ein
wenig zusammen, dann fuhr der Sonnenschein jenes schelmischen Lächelns
über ihr Gesicht. Sie nickte mir in einer Art kameradschaftlicher
Vertraulichkeit zu. Es sah fast aus wie eine Belobung, daß ich da
war und mein Versprechen so tapfer innehielt. Aber es war mir nicht
möglich, auch darüber noch in Unmut zu geraten. Ich war entwaffnet und
zwang auch meinen Gruß zu einem freundlichen Lächeln. Eine Zauberin,
eine Hexe, vielleicht eine jener raffinierten Sirenen des grünen
Tisches, von denen ich gelesen und gehört hatte ... nein, nein, nein,
nicht das! Unter dem Pochen meines Herzens, das ihr Blick und die
Hoffnung eines neuen Blickes in mir erregt, verschwand sofort solch
häßlicher Zweifel.
Sie aber blickte nicht wieder nach mir hin. In anscheinender Ruhe
waltete sie ihres Geschäftes. Aber die bebende Röte ihres Gesichtes
schien Zeugnis davon zu geben, wie sehr sie sich dennoch unter meinen
beobachtenden Blicken beengt fühlte. Ich stellte mich in einen
Hinterhalt, um ihr die Unbefangenheit wieder zu schenken.
Mit welcher Aufmerksamkeit sie die Launen der rollenden Kugel
verfolgte, mit welcher Gewissenhaftigkeit sie diese Launen in ihre
Bücher eintrug! Sie betrieb solches nicht seit kurzer Zeit. Die
Croupiers kannten sie; einer derselben, der Typus eines biedern und
pedantischen Beamten, ein Deutscher wie die meisten der dortigen
Croupiers, die aus den aufgelösten Banken der Rheinbäder hierher
verpflanzt wurden, schien sie in eine Art väterlicher Obhut genommen zu
haben. Zuweilen nickte er ihr mit seinem gutmütigen Bullenbeißergesicht
anfeuernd zu, da- und dorthin zu setzen. Und er schien sich wirklich
zu freuen, wenn er ihr einen ansehnlichen Gewinn zuschieben konnte.
Auch tauschte er wohl über Tisch herüber ein paar Worte mit ihr. Es
fiel das Wort »Papa«. Jener hatte sich nach einem solchen erkundigt.
Wo war er? Vergeblich suchte ich im Kreise der Umstehenden nach einem
Antlitz, das mit väterlicher Teilnahme die Spielerin gehütet hätte.
Welch eine Gewissenlosigkeit, sie, das liebe, junge Wesen, schutzlos
den Gefahren der Hölle preiszugeben! Oder »arbeitete« er vielleicht an
einem anderen Tische? Wie es ja gelegentliche Konsortien giebt, die es
auf eine Sprengung der Bank abgesehen haben, so mögen oft die Glieder
einer Familie mit vereinten Kräften auf Beute ausgehen. »Ah, das ist
alles so häßlich; das ist entsetzlich!« Dieser ihr Ausruf klang mir im
Ohr.
Der nächste Tag sollte mir Aufklärung bringen. Ich hatte sie am Morgen
vergeblich gesucht. Am Nachmittag erschien sie in der Eingangsthür,
und nicht allein. An ihrem Arm führte sie einen ältern Herrn. Es war
mehr als ein Führen, ihre straff aufgerichtete Gestalt diente ihm als
Stütze, während er sich auf der andern Seite eines Stockes bediente.
Sehr behutsam bewegte sie sich auf dem glatten Parkett, mit liebevoller
Vorsicht bewachte sie seine Schritte. Seine Gestalt war gebückt, so daß
sie ihn, der selbst nur seine zierliche Mittelfigur war, überragte. Den
Kopf mit den eisgrauen, etwas vernachlässigten Haaren trug er vornüber
gebeugt, doch seine Augen fuhren von unterwärts unruhig im Saal umher.
Jetzt ging das Schlürfen seiner Tritte in ein nervöses Trippeln über.
Er schien es nicht erwarten zu können, bis sein erstes Goldstück auf
der grünen Fläche lag.
Sie führte ihn an einen der Tische und wechselte mit einem der
Croupiers ein paar Worte, worauf dieser einen müßigen Gaffer,
dessen Ellenbogen der Bank nichts einbrachten, von seinem Sitze
herabnötigte. Dann hieß sie den Vater — er mußte es wohl sein —
behutsam niedersitzen. Sie selbst blieb hinter dem Stuhl stehen, jede
seiner Bewegungen beobachtend; es war etwas von der rührend zärtlichen
Sorgfalt, mit der eine Mutter ihr krankes Kind behütet.
Es dauerte eine Weile, bis der erste Einsatz erfolgte. Das
Aktenmaterial, dessen der Ankömmling zu seinem Spiele bedurfte, war
ein erstaunliches. Seine nervösen Hände zogen immer neue Paketchen
aus den Taschen seines Rockes hervor. Er breitete mehrere mit Zahlen
und Zeichen überdeckte Listen aus, legte sich verschiedene Büchelchen
zum Einzeichnen zurecht, stapelte seine Kasse von Gold und Silber vor
sich auf, alles das mit langsam pedantischer Peinlichkeit, bis auf die
Prüfung der Rot- und Blaustifte. Und nun, nachdem das »Bureau« gehörig
in Ordnung lag, saß er mit gefalteten Händen da und lauerte. Lauerte
mit dem eigenartigen, krankhaften Glitzern seiner dunklen Augen, mit
den feinen zuckenden Bewegungen seiner Gesichtsmuskeln. Ja, das ganze
glatt rasierte Gesicht, das beim ersten Anblick den Eindruck der
Hilflosigkeit machte, schien sich aus seiner Schlaffheit aufzuraffen
und sah wie verjüngt aus.
Nach jeder Kugel notierte er hier und dort in den verschiedenen
Listen und Büchern mit der Gewissenhaftigkeit und dem peinlichen Ernst
eines Kassenbeamten. Endlich begann er in Silber und mit den kleinsten
Einsätzen zu spielen. Man sah, es geschah nicht des Gewinnes wegen, nur
um kostbares dokumentarisches Material für seine Bücher zu gewinnen.
Ja, es kam vor, daß er bedauernd die Achseln zuckte, wenn ein Satz
einschlug, der nach seiner Berechnung eigentlich verlieren mußte, oder
daß er einen Verlust als hochwillkommen mit einer kinderhaft listigen
Miene notierte.
Nun war die Arbeit in vollem Gang; Gewinne und Verluste wechselten und
wurden sorgfältig eingetragen. Da schien es die Tochter nach einem
Stündchen der Erlösung zu gelüsten. Nach einer zärtlich betonten Frage,
die der Vater mit einem Nicken in das eine der Bücher hinein bejahte,
empfahl sie sich. Jetzt erst wandte er den Kopf nach ihr zurück, um ihr
eine freundliche Miene zum Abschied zu bieten, aber zu spät, sie war
schon fort.
Ich ihr nach. Ich ereilte sie draußen am Eingang des Parkes.
»Mein Fräulein, ich habe Ihnen abzubitten ...«
Sie schien durchaus nicht überrascht, sie wußte sofort.
»Ah, —« fiel sie lebhaft ein, »ich verstehe: Sie hegen einen Groll
gegen mich, daß ich Ihnen die Hände band. Ich am wenigsten, meinen Sie,
hätte eine Berechtigung, Moral zu predigen. Ich habe wohl Ihr Staunen
bemerkt, mit dem Sie meinem Treiben zusahen.«
»Ich fange an zu begreifen, und ich bin gekommen, Ihnen Abbitte zu
leisten.«
»Um des Himmels willen, ich möchte nicht, daß Sie falsch begriffen. Der
Schein und ein so häßlicher Schein ist wider uns. Sie müssen uns zur
allerschlimmsten Profession zählen!«
»Ich muß gestehen, es thut mir in der Seele weh, Sie dort spielen zu
sehen —«
Ein kurzer, leicht überraschter Blick aus ihren Augen streifte mein
Antlitz. Gleich aber wehrte sie sich selbst gegen die Versuchung, sich
meiner Teilnahme zu freuen:
»O, ich wünschte nicht, daß Sie mir Ihr Mitleid auf Kosten meines
Vaters zuwendeten. Das, was ich thue, thue ich mit Freuden, wenn auch
mit dem Eifer, diese — Sache endlich zu einem Resultat zu führen.
Ich sagte Ihnen schon, das, was wir treiben, treiben wir seit drei
Jahren. Es ist eine gute Sache — und wenn ich auch selbst mich keiner
Illusion hingebe, so ist es doch meine Pflicht, in ihrem Dienste treu
auszuharren. Und Vater glaubt daran — nennen Sie es eine Marotte,
die bedenklich genug wie eine Krankheit aussieht. Genug, es ist mein
Vater, und er hat sich die Durchführung seines Planes zur Lebensaufgabe
gemacht. Ich sehe, ich spreche in Rätseln. Nun gut, sehr einfach,
wir sind einem System auf der Spur, mittels dessen die Macht des
Spielteufels gebrochen werden soll.«
Das letzte kam kleinlaut heraus, und um ihre Mundwinkel bebte etwas wie
ein ironischer Ausdruck. Ah, sie glaubte selbst nicht an dies System
und an die Möglichkeit, mit einem solchen den Zufall zu meistern!
Ich hatte oft genug vor den Zeitungskiosken gehalten und mit lüstern
verwunderten Augen die Auslagen der Broschüren und Bücher gemustert,
die sich auf das Spiel beziehen, hochtönende Anpreisungen, wie man
mit einem Einsatz von tausend Franken oder noch weniger eine Million
gewinnen kann, wie man verfahren muß, um mit Sicherheit zu gewinnen,
allerlei Systeme, das Glück zu korrigieren, von den kleinen niedlichen
Büchelchen, die man im Vorbeigehen wie zum Scherz einsteckt, bis zu den
ansehnlichen Bänden, die hinter dem verklebten Schnitt das Geheimnis
mit einem Aufwand gelehrter Formeln und weit ausholender Kombinationen
analysieren. Es finden sich Gimpel genug, die, mit solcher Anweisung
ausgerüstet, den Kampf mit dem Glück aufnehmen, oder welche gar die
persönliche, teuer bezahlte Hilfe sogenannter Spielprofessoren in
Anspruch nehmen. Am wenigsten glauben diese Professoren oder die
Verfasser solcher Werke an ihre eigene Wissenschaft.
Nein, auch sie glaubte nicht an solches System! Ich konnte mein
Staunen, ja den sichtbaren Ausdruck des Schreckens nicht unterdrücken.
Ihr Vater ein Phantast, schlimmen Falls ein bedenklicher Abenteurer,
und sie, das liebe, liebliche Geschöpf, das seine Jugend im Dienst
eines abscheulichen Hirngespinstes opfert!
»Nicht das, nicht das!« rief sie, sofort meine Miene deutend. »Ich
bitte Sie, meinen Vater nicht mit den andern zu verwechseln. Alles das
ist seltsam und außergewöhnlich, man darf darüber lachen, man darf
darüber die Achseln zucken — wenige werden solches begreifen. Wie
gesagt, wir rangieren in einer Reihe mit dem erbärmlichsten Gelichter,
und man muß die Umstände kennen, die zu solchem Auswuchs geführt —
nein, nicht jeder wird sich die Mühe nehmen, uns zu begreifen. Aber ich
muß ihn verteidigen, wenigstens ihn, den armen Vater. Mag die große
Masse mich selbst verdammen ... es findet sich doch noch jemand, der
all diese Unseligkeit aus dem Herzen entschuldigt — und ich möchte
nicht, daß Sie ...« Sie stockte, dann sah sie mir mit treuherzigen
Augen voll ins Gesicht. »Sie sind gut, mein Herr, man sieht es Ihnen
an. Sie haben ein Unglück gehabt, auch das liest man aus Ihren Mienen,
aus allem. Wir haben uns unter so seltsamen Verhältnissen kennen
gelernt. Wie gesagt, ich möchte nicht, daß gerade Sie von hinnen
schieden oder uns gar den Rücken wendeten ...« Wieder stockte sie
und plötzlich, mit abgekehrtem Gesicht, um das Flammen ihrer Röte zu
verbergen, wies sie nach einer Bank, die unter einer natürlichen Laube
herabhangender Palmfächer stand. »Kommen Sie zu meiner Lieblingsbank!
Man hat von dort aus den herrlichsten Blick über das Meer.«
Es war keine zu große Absonderlichkeit, das, was sie mir von den
Geschicken ihres Hauses erzählte. Für mich nicht, der ich selbst ein
Bankerotteur war und den das Geschick auf ähnliche Weise heimgesucht.
Die Familie hatte im Vollen gelebt. Mehrere Fabriken in der Nähe von
Frankfurt am Main, sowie einige Bergwerke im Taunus befanden sich in
ihrem Besitz. Eines jener köstlichen Weingüter des obern Rheingaues
mit dem Schmuckstück einer Villa diente ihr zum Sommeraufenthalt.
Sie waren glücklich, sie waren geachtet, ich erinnere mich jetzt,
wie vor zehn Jahren die Firma des besten Klanges genoß, bis sie dann
anfing zu bröckeln, um schließlich mit einem Krach, der auch in der
weiteren Geschäftswelt Staub aufwirbeln machte, zusammenzustürzen. Was
war es? Niemand kann besser Auskunft geben als ich selber. Ja, wie
kommt es? Eine kleine Schlappe, die einen ärgert und deren Folgen man
allzu gründlich ausmerzen möchte, eine unselige Folge von Umständen,
Ereignissen, Kombinationen, die an dem Bestand des Hauses rütteln,
Strebertum und die »Sucht nach mehr« und das Schicksal des Fabrikanten,
die entsetzliche Tagesmode, die in plötzlicher Laune die Maschinen
unserer Werkstätten zum Stillstand bringt und die Arbeiter aus den
Sälen treibt, sowie man sich nicht sofort ihrem Gebote fügt. Hier waren
es noch andere Verhängnisse, die das Haus zu Falle brachten, und diese
Verhängnisse hießen: Homburg, Baden-Baden, Wiesbaden. Nicht daß sich
der Besitzer der Firma F. Werler wie ein unverantwortlicher Leichtfuß
dem Spielteufel in die Arme geworfen. Eine ganz dumme Gelegenheit
brachte ein fabelhaftes Glück, und in kritischer Stunde erinnerte
man sich dieses Glückes. Ganz allmählich, ganz unmerklich umstrickte
der Teufel die Firma mit seinen Netzen, verschlang die Fabriken und
Bergwerke und scharrte das Schmuckkästchen von einer Villa über den
grünen Tisch hinüber in den Abgrund hinein. O, man weiß es, wie die
letzte Verzweiflung nach unseligen Mitteln greifen heißt, und mir ziemt
es gewiß nicht, jenen zu verdammen.
»Ich verstehe, mein Fräulein, ich verstehe!« nickte ich.
Ah, mit welch dankbarem Blick sie mir antwortete!
Die Mutter starb aus Gram, den Vater ereilte ein Schlaganfall. Eine
ältere Schwester war verheiratet; aus dem Zusammenbruch war eine kleine
Fabrikanlage gerettet worden, die unter den nicht zu geschickten Händen
eines Bruders kümmerlich vegetierte. Sie selbst, Vater und Tochter,
irrten in der Welt umher, die Stätte ihres frühern Glückes meidend, als
Mitglieder jenes bedauernswerten internationalen Proletariats, das die
Weltorte und großen Modebäder bevölkert.
Wie war es möglich, daß sie dennoch wieder jener entsetzlichen,
alles verzehrenden Flamme zuflattern konnten? Wie kam Herr Werler
zu der Marotte seines Systems? Es hatte lange in ihm gebrütet. Mit
wachsender Besorgnis sah Helene, wie seine Gedanken sich immer mehr
in ein gewisses Hirngespinst vergruben. Und dieses Hirngespinst trat
immer sichtbarer in Tabellen und Berechnungen hervor. Sein System —
Herrgott, was ist’s!? Was will Papa? Papa’s Verstand ist doch nicht ...
nein, nein, nicht solches, nicht das Äußerste!
Wer der Gelehrten vermag die Grenze zu ziehen, wo der Verstand aufhört
und der Wahn beginnt? Das Gefühl der Reue hatte den Keim zu dieser
Marotte großgezogen. Die Arbeit sollte eine Art Sühne bedeuten: es
mußte und mußte sich dennoch eine Formel finden lassen, die dem Dämon
die Macht aus der Hand nahm. Es wäre die Rache für ihn und alle die
anderen Ruinierten. Gegen eine solche Formel würde sich keine Bank
mehr halten können; die Hölle müßte geschlossen werden, es gäbe so
viel Thränen, so viel Verzweiflung, so viel selbstmörderische Schüsse
weniger. Es wäre ein ungeheurer Dienst, den man der Menschheit leisten
würde.
Und er rechnete, rechnete. Das Hirngespinst nahm immer hartnäckiger
Besitz von seinem Thun und Denken. Aber er würde so nicht
weiterkommen, man mußte die Theorie durch die Praxis ergänzen und
erproben, man mußte nach Monaco und in der Hölle selbst die Hölle
bekämpfen.
»Papa, lieber, lieber Papa, thue es nicht!« — Wie sie gefleht haben
mochte, um ihn von dem Gedanken abzubringen! Umsonst! Sie siedelten
nach Monaco über. Und dann begann die fürchterliche, die nerventötende
Arbeit. Sie brauchte mir nicht erst zu sagen, wie viele Stunden sie
am Spieltische verbrachte, während ihr Vater, durch seine Gebrechen
meist an die Stube gefesselt, an seinen Tabellen saß, begierig
auf ihre Rückkehr, die ihm neues Material herbeischaffte. Und so
arbeitete sie Tag um Tag, drei lange Jahre hindurch in rührender
Hingebung. Mehrmals am Tage eilte sie nach Hause — sie wohnten am
äußersten Ende von Condamines, dicht unter dem von dem Gischt der
Brandung umtosten Felsen von Monaco — um sich ihrer Aufzeichnungen zu
entledigen oder neue Instruktionen zu empfangen. O, sie arbeitete mit
äußerster Gewissenhaftigkeit! Zuweilen war es, als müßte sie selbst
an die Vortrefflichkeit des Systems glauben. Dann kam der Kobold des
Zufalls und schüttelte mit frecher Hand all die mühsamen Kombinationen
durcheinander. Immer wieder zeigte das System eine neue Lücke. Und
wenn es wirklich ein paar Tage standhielt, so eröffnete sich plötzlich
eine so unerwartete Serie oder ein so willkürliches Umspringen der
Chancen, daß es allen Berechnungen Hohn sprach. Da gab es Zeiten,
wo der Erfinder selbst verzweifelte und wo er schon im Begriff war,
mit einer Verwünschung all das mit unendlicher Mühe aufgespeicherte
Material, das seinem Schreibtisch den Anschein einer soliden und
fleißigen Geisteswerkstatt gab, in den Kamin zu schleudern. Dann war
sie es sogar, die ihn gegen ihre Ueberzeugung aufrichtete: wie eine
Scheu vor einem gewissen unheimlichen Nichts, das dann an die Stelle
all der Arbeit träte? Oder war es die Ueberzeugung, daß diese Arbeit
seinen grübelnden Geist von Schlimmerem ablenkte?
Und von neuem setzte er sich hin und begann aus den Trümmern der
Akten ein anderes System aufzubauen. Von neuem setzte sie sich an
den Spieltisch, hartnäckiger denn je, mit der letzten Spur einer
Zuversicht, daß die gute Sache dennoch über die schlechte den Sieg
davontrüge. Und wieder die entsetzliche, vielstündige Holzhauerarbeit
— kaum daß sie sich Zeit gönnte, einen hastigen Imbiß zu nehmen
oder auf eine kurze Weile dieser Pestluft zu entfliehen, nur ein
paar Atemzüge der reinen Gottesluft zu schlürfen. Drei Jahre lang,
Tag um Tag, Stunde um Stunde — kein Zucken der Ungeduld, nein, nur
der lächelnde Schein freudiger Pflichterfüllung ihm, dem Kranken,
gegenüber, so muß man ihn nennen.
»Sie sind eine Heldin, Sie sind ein Engel ...« nein, nicht in Worten
brach es heraus, aber das begeisterte Leuchten meiner Augen mußte es
ihr sagen, und die stürmische Bewegung, mit der ich ihre Hand drückte,
redeten deutlicher als Worte.
Sie war allem abhold, was an das Theatralische erinnerte. Eine weitere
Erläuterung schnitt sie kurz ab, indem sie aufstand:
»Jetzt muß ich nach Papa sehen!«
Wir schritten dem Kasino zu. Ich verabschiedete mich am Portal und dann
stand ich lange noch wie gebannt und sah ihr nach, sah, wie sie leicht
schwebenden Schrittes die Treppe hinaufeilte und ihre Lichtgestalt, auf
welcher der Sonnenschein hier draußen so verklärend geruht, von der
unheimlichen Dämmerung der Hölle verschlungen wurde.
* * * * *
Die drei Tage waren längst verstrichen. Ich spielte nicht mehr. Ich
hätte nicht gewagt, ihr wieder unter die Augen zu treten, wenn ich,
trotzdem die Grenze meines Versprechens längst überschritten war,
mich noch einmal von dem Dämon hätte hinreißen lassen. Doch keiner
der wütendsten Spieler hielt beharrlicher das Kasino besetzt. Ich
umkreiste es schlendernd, saß auf allen Bänken und lehnte auf allen
Balustraden, ich durchstöberte die Zeitungen des Leseraumes und naschte
in dem üppigsten Konzertsaal der Welt einige Takte Musik, stets von
der fiebernden Sehnsucht hin und her getrieben, bis ich immer wieder
Ruhe für meine Sinne und Gedanken fand an dem Spieltisch, an dem sie
»arbeitete«.
Ich hielt mich im Hintergrunde, damit sie die Verlorenheit meiner
Blicke nicht gewahrte. Zumeist blieb mir ihr liebes Antlitz von den
Gestalten und den erregten Bewegungen der Spieler versteckt, aber
ich war glücklich, auch nur ein nickendes Federchen ihres Hutes zu
erhaschen. Und nichts Gleichgiltigeres, als das Klingen und Klippern
des Goldes, das die andern so berauschte. Ihr Kommen und Gehen entging
mir nicht. Ich schlich ihr von der Ferne nach wie ein sehnsüchtiger
Gymnasiast, ich kam mir so klein und erbärmlich vor, und ich mußte mir
jedesmal Mut zusprechen, um mich ihr offen zu nähern. Das geschah in
den Pausen, die sie sich während der Arbeit gönnte, oder auch auf ihren
Her- und Heimwegen. Sie nahm meine Begegnungen ohne Überraschung und in
ihrer ruhigen und offenen Heiterkeit hin. Wir plauderten wie zwei gute
Kameraden, aber sie mochte wohl die Heuchelei bemerken, mit der ich
meine Leidenschaft verdeckte.
Ich hatte die Trostlosigkeit meiner Verhältnisse offen vor ihr
entfaltet. Sie wüßte das, sagte sie ohne Verwunderung. Und auf meinen
fragenden Blick fuhr sie fort:
»Nun, ich dächte doch, man lernte es hier, Verzweiflung und Unglück aus
den Gesichtern zu lesen. Aber Sie sind auf dem Wege der Besserung« —
fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. Es klang nicht wie eine Frage,
hell strahlten mich ihre Augen an.
»Wieso?!«
»Nun, weil Sie nicht mehr spielen, nicht mehr Ihr Heil von dem stupiden
Ding einer Roulettekugel erwarten. Weil Sie sich geschworen haben,
überhaupt nie wieder zu spielen. Weil Sie Mut haben wollen und willens
sind, all das Verfahrene aus eigener Kraft und mit ehrlicher Arbeit
wieder einzurenken!«
Ja, ja, ja ... ich gestand es mit stummem Nicken zu wie ein reuiger
Knabe, der sich bessern will. »Mein Fräulein ...«
Nein, dazu hatte ich nicht den Mut — nicht dazu! Es gärte und brütete
in mir, vielleicht würde ich den Mut erringen ... wer war ich denn, daß
ich solches wagen durfte? Ein bankerotter Mann, der nach Monaco gereist
war, um sich dort eine Kugel vor den Kopf zu schießen. Aber ich war
ein anderer geworden, ich war geheilt und sie, die Süße, Einzige, mein
rettender Engel! Ich bin wieder ein Mann geworden, der neugewonnenen
Mutes den Kampf mit dem Leben aufnehmen wird! Ah, wer doch Hand in Hand
mit ihr, dem besten Kameraden, in diesem Kampfe stehen dürfte! Welch
eine Gefährtin für die Irrsale des Lebens!
Sie war mein rettender Engel gewesen — erforderte das nicht den
Gegendienst, daß auch ich ihr eine Rettung anbot? — mein Herz, mein
gutes ehrliches Herz als bergenden Hort, wo sie den bittern Harm ihrer
Vergangenheit vergessen könnte, — meinen starken Arm, der von nun an
all die häßliche Unbill des Lebens von ihr fernhalten würde ...
Es war nach elf Uhr abends. Die Banken waren im Begriff zu schließen,
und die Diener schickten sich an, in übereiliger Hast, gerade wie
in einem Theater, noch ehe das Publikum den Saal geräumt hat, die
kostbaren Möbel der Spieltische mit den grünen Schutztüchern zu
versehen. Drei von den Banken waren bereits geschlossen. An einer
derselben hielt sie noch stand bis zur letzten Kugel. Nun erhob sie
sich, und ich nahte mich ihr mit ein paar begrüßenden Worten, um ihr
meine Begleitung nach Condamines hinab anzubieten. Wir durchschritten
den ersten Saal, wo noch eine Bank im Gange war, dicht umwogt von
aufgeregten Gestalten, die sich einander den Platz streitig machten,
um die letzte Chance des Tages zu benützen. Statt der unheimlichen
Kirchenstille war hier ein lauter Tumult, den die Stimmen der Croupiers
nur mit Mühe übertönten. Da kam jemand aus dem hintern Saal des
=Trente-et-Quarante= dahergerast, wohl ein Wahnsinniger: das wüste
Gewirr seines Schwarzhaares, die hervorquellenden, lodernden Augen, der
stürzende Schritt und die Hände, die verzweifelt in den beiden Taschen
seines Jacketts wühlten — dahergerast, auf den Spieltisch zu.
»=Faut gagner ... savez-vous ... faut gagner! ... gagner!=« schrie er
mit heiser krächzender Stimme. Rücksichtslos brach er durch die Masse,
mit einem Ruck seiner Arme die Spieler zur Seite drängend. Man wich
entsetzt zurück.
Und nun, mit dem Oberkörper auf der Tischplatte liegend, streute er
mit den weit ausgestreckten Armen Geldstücke, Gold und Silber, aufs
Geratewohl aus.
»=Faut gagner ... faut gagner!=« schrie er wie besessen.
»=Rien ne va plus!=« rief der Croupier, und er wiederholte den Ruf
nochmals im gebieterischsten Tone. Da sah man den Rasenden eine Gebärde
machen, als wollte er jemand mit seinen Fäusten erwürgen — etwa den
Croupier dort, der ihm Einhalt gebot und der doch nichts wie seine
Pflicht that?
Erschüttert und empört wandten wir uns von solch widerlichem
Schauspiel ab. Draußen empfing uns die erhabene Weite eines glänzenden
Sternenhimmels, und das Rauschen des Meeres drang wie ein mahnender
Gruß aus einer reineren Welt zu uns herauf. Wir hielten unwillkürlich
inne, es war ein gemeinsames, hörbares Aufatmen, mit dem wir unsere
Brust von dem Alp befreiten.
Dann gingen wir langsam die Rampe nach Condamines hinab. Wir schwiegen,
aber mein Schweigen war ein bebender Zorn. Nein, ich darf es nicht
dulden, daß diese kostbare Blüte in solchem Pesthauch verkümmert!
Nein, ich will und muß sie erretten aus solchen Höllenqualen! Und es
muß uns beiden gelingen, ihn, den kranken Vater, von seinem unseligen
Hirngespinst zu befreien!
»Mein Fräulein« — begann ich zögernd. »Ich will fort! Ich muß diesen
Ort verlassen. Ich kann dies alles nicht länger ertragen. Ich möchte
nicht von hinnen gehen, ohne einen Versuch gemacht zu haben, Sie zu
erlösen ...« Und mit jedem Worte gewann meine Stimme an Festigkeit.
»Sie sind meine Retterin gewesen, ich möchte Ihr Retter sein! Wollen
Sie — mein — Weib werden? ..«
Ich hatte in einem Sturm ihre Hand erfaßt. Sie zuckte in der meinen,
aber sie entzog sie nicht.
»Ich bin nichts« — fuhr ich fort; »vor wenig Tagen war ich ein
Verlorener. Sie haben mich mir selbst zurückgegeben. Ich bin nichts,
aber mit Ihnen vereint, werde ich wieder alles sein. Wir werden mit
vereinten Kräften dieser häßlichen Lage Herr werden. Es wird alles
gut, wollen Sie mein Weib werden?.. wollen Sie ...«
Sie blieb stehn. Ihre Augen weiteten sich, und ihr nach vorwärts ins
Leere gewandter Blick erstarrte. Ihre geöffneten Lippen bewegten sich
— aber kein hörbares Wort kam über dieselben. Nun entwand sie mir
langsam ihre Hand. Nun schlug sie die Hände gegen das Gesicht, suchte
für die Ellenbogen einen Halt auf der steinernen Balustrade, und das
Antlitz fest in die Hände gepreßt, blieb sie regungslos. Nur das
Stürmen ihres Atmens.
»Helene ... Ich liebe Sie, Helene! Ach, wie ich Sie liebe! Sie sollen
glücklich werden, wie Sie es verdienen! Ich schwöre es bei diesen
Sternen, daß ich Sie glücklich machen will ...«
Langsam senkte sie die Hände. Ihr starrender Blick blieb geradeaus
in die Weite gerichtet. Hinter dem Felsen von Monaco war der Mond im
Aufgehen, und trotzig, gewaltig, in schwarzer Silhouette zeichnete
sich dieser Felsen gegen die silbern heraufdämmernde Helle. Ein fahler
Schimmer, der Abglanz des Sternenhimmels, bedeckte die See, doch in
greller Weiße leuchtete der Schaum der Brandung herauf.
Nun löste sich die Starrheit in ein stummes, langsames, verneinendes
Wiegen des Kopfes. Tonlos kamen die Worte über ihre Lippen:
»Sie sind gut. Ich danke Ihnen, o, ich danke Ihnen! Ich weiß, ich wäre
glücklich geworden an Ihrer Seite. Wollen Sie sich an diesem Bekenntnis
genügen lassen? — anderes kann nicht sein — es darf nicht sein!
Kommen Sie!«
Dann nach einigen Schritten fuhr sie in derselben dumpfen und tonlosen
Weise fort, ohne mich anzusehen:
»Ich habe meiner Mama auf ihrem Sterbebette das Versprechen gegeben,
daß ich den Vater nicht verlassen will, daß ich ihm eine Hüterin und
Helferin durch das Leben bleiben will —« Und da ich stutzte: »Daß
Sie ihr, der Verklärten, solches nicht zur Last legen! Ich gab das
Versprechen freiwillig, um ihr über die Qual der letzten Stunde mit
solchem Trosteswort hinwegzuhelfen. Aber wenn ich ihr es auch nicht in
Worten gegeben hätte, hier im Herzen stand das Gelöbnis fest —«
»Sie sollen und dürfen ihn auch nicht verlassen! Wir würden beide
gemeinsam seine Tage behüten.«
Wieder wiegte sie verneinend den Kopf.
»Es war eine unselige Stunde, die mich zu solchem Gelöbnis trieb. Man
muß barmherzig sein. Er befand sich damals vor dem Nichts, und die
höchste Verzweiflung hieß ihn die Pistole von der Wand herablangen ....
Sein Name, sein alter, ehrlicher Name, der zusammenbrach, und Weib und
Kinder, die er in die Tiefen des Ruins mit hinabriß! ...«
Ich zuckte zusammen. Wie ich mich schämte! Wie ich mich jener Stunde
meines Lebens schämte, da auch ich, wenn gleich nur mit den Augen und
den Gedanken, nach einer gewissen Pistole langte. Und ich war doch jung
und wollte mich feige davonschleichen, gerade da das Leben mich zum
Kampfe entbot!
»Man muß barmherzig sein —« wiederholte sie. »Er war krank damals.
Vielleicht ist er es jetzt noch. Man muß Geduld haben. Vielleicht kommt
dennoch ein Tag wo er von diesem unglückseligen System geheilt sein, wo
er der Hölle den Rücken wenden wird. Er mag sehr ferne sein. Noch ist
gar kein Ende abzusehn. Und ich fürchtete fast für dies Ende.«
»Wir werden ihn gemeinsam zu heilen suchen. Friede soll ihm beschieden
sein, auch das schwöre ich Ihnen ...«
»Halten Sie ein ... nicht das! Es müßte ein Wunder geschehn, das ihn so
bald zu heilen vermöchte. Nicht das! Sie gehören dem Leben an, und das
Leben verlangt von Ihnen den ganzen Mann. Alles das würde Ihnen Fesseln
anlegen. Sie müssen fort! Wir werden uns nicht wiedersehen. Es darf
nicht sein! — Leben Sie wohl, lassen Sie mir die Hoffnung zurück, Sie
siegreich aus dem Kampfe hervorgehen zu sehen ....«
Sie blieb stehn, und mir mit der leuchtenden Klarheit ihrer
wundervollen Augen voll ins Gesicht sehend, reichte sie mir die Hand
wieder wie damals, ein Kamerad gegen den andern:
»Versprechen Sie mir, daß Sie tapfer sein wollen ...«
Ich ergriff die Hand mit meinen beiden Händen.
»Tapfer sein und das kostbarste Kleinod zu erringen suchen!« rief ich
flehend. »Helene, Einzige, Geliebte ... Ich will Geduld haben, ich will
mir an Ihrer Engelsgeduld ein Vorbild nehmen! Es muß noch alles gut
werden!«
»Sie werden verkommen, Sie werden verderben unter der Qual dieser
Geduld!« rief sie. »Sie werden es nicht ertragen, für Jahre, auf die
Ungewißheit eines Endes hin, das, was Sie lieben, an den Spieltisch
gebannt zu wissen. Leben Sie wohl! Sie gehören dem Leben an! Darf ich
zum Abschied eine Phrase sagen, die keine Trivialität ist in diesem
Falle: Es hat mich von Herzen gefreut, Sie kennen ge ...«
Sie stockte, ihre Stimme wankte. Sie versuchte zu lächeln, aber zwei
große, schwere Thränen rollten über das zarte Oval ihrer Wangen.
Da entriß sie mir die Hand, und in brüsker Bewegung, wie im Unmut über
den Verrat dieser Thränen, wandte sie sich ab, um zu gehen.
»Helene!« Wie ein Ruf der Verzweiflung klang es.
Ohne sich umzusehen, wehrte sie mir mit der erhobenen Rechten. Zuletzt
glaubte ich ein letztes schwaches Winken zu gewahren.
Wie angefesselt stand ich, mit stieren Augen, starrte noch immer in die
Leere hinein, nachdem längst der Schall ihrer Schritte verhallt und das
Wehen ihres Schleiers in dem nächtlichen Dämmer verschwunden war. Dann
stürmte ich davon.
Ich weiß nicht, wie lange ich, den Kopf in die Hände vergraben, auf
jener Bank in den Anlagen gelegen haben mochte, und wie spät es war,
als ich aus meiner dumpf brütenden Verzweiflung erwachte. Der Mond
stand hoch, das Meer lag in weiter Glanzeshelle gebreitet, der Kies
des Weges glitzerte, und über die großen, taufeuchten Blätter der
Edelpflanzen flutete es in spiegelnden Lichtern. Vor mir lag der
Schatten einer Fächerpalme, unter der ich saß, in scharf gezackter
Zeichnung.
Ich sprang auf. Was war denn? Was sollte werden? »Nichts — nichts —
nichts!« hallte es in mir zur Antwort. Eine ungeheure Öde gähnte vor
mir auf.
Ich wußte, an ihrem Entschluß war nicht zu rütteln. Kein Flehen, kein
Schwur und keine Macht der Überredung hätten das verneinende Wiegen
ihres Kopfes in ein Ja verwandelt. Mein Gehen war ein Muß — oder ...
Nein, hinweg damit! Es war nur eine ganz kurze Versuchung; ich sah
mich wieder vor jenem Nizzaer Waffenladen stehen, ich sah mich in
plötzlichem Entschluß dort eintreten und mit der Pistole in der Tasche
eine einsame, von einer Palme beschattete Bank wie diese da aufsuchen.
Ah, wie widerlich, wie häßlich! Baut sie denn nicht auf mich, daß
ich tapfer sein soll? Bin ich denn nicht ein Mann? Bedarf ich der
Stütze eines Weibes, um mir meinen Weg zu suchen? Habe ich ihr nicht
zu beweisen, daß ich ihrer und ihrer Liebe wert gewesen wäre? Auf und
fort von hier! Das Leben verlangt nach mir! Sie hat recht! Das Nichts,
das ich bin, soll wieder ein Etwas werden. Vielleicht ist dennoch eine
Spur der Hoffnung! Vielleicht, wenn ich später einmal wieder vor sie
hintrete ... Ah, daran wage ich nicht zu denken, jetzt nicht!
Wie ich aus den Büschen trat, sah ich das Kasino vor mir aufragen.
Keine Phantasie eines orientalischen Märchenerzählers hätte
Prächtigeres zu ersinnen vermocht als dies üppig-graziöse Ziergebilde
der Architektur, wie es dort im magischen Schein des Mondlichtes wie
hingezaubert stand. Aber ein ungeheurer Zorn erfaßte mich bei dem
Anblick. Der Teufel war sein Baumeister, Thorheit heißt sein Fundament,
Habgier und Verzweiflung lieferten das Material, und der Kitt bestand
aus Thränen — hei, und wie hat das Laster den Rohbau so wundervoll
übertüncht und verziert! Und ich hob die geballte Faust empor und
schleuderte eine laut gellende Verwünschung gegen das Gebäude.
* * * * *
Ich hatte mich losgerissen, ohne einen Versuch, sie noch einmal zu
sehen. Der Zug, den ich bestiegen, sollte mich über Savona nach Mailand
bringen, von wo ich die Weiterreise nach Deutschland fortzusetzen
gedachte. In Porto Maurizio erwartete uns eine Überraschung. Es hatte
vorwärts dieser Station ein Felssturz stattgefunden, und der Bahndamm
war auf eine Strecke weit von Trümmern überschüttet. Die Aufräumung
würde mindestens einige Tage in Anspruch nehmen. Aber für den, der
weiter wollte und mußte, war mit Aufopferung eines halben Tages
die nächste Station auf dem Landwege zu erreichen, auch sollte von
morgen ab von jenseits der Unglücksstelle ein bereitstehender Zug die
Reisenden weiterführen. Kurz, das materielle Hemmnis zur Weiterreise
war nicht von Belang.
Warum verschmähte ich nun diese Gelegenheiten? Warum nistete ich
mich nun in Porto Maurizio ein? Etwa weil die romantische Lage des
Ortes und seine üppigen Orangenhaine mich fesselten? Jetzt in dieser
Seelenstimmung? War es ein naiver Aberglaube, daß eine höhere Macht
mir durch diesen Sturz Halt gebot? Ja, mich umkehren hieß? War es eine
letzte Anwandlung der Schwäche, die mich plötzlich lähmte und mich
sehnsuchtskranken Herzens hier, nicht allzu weit von dem Ort meines
Verhängnisses, festbannte?
Ich blieb zwei Tage in Porto Maurizio; dann beschloß ich, den Weg
über Marseille zu nehmen. Ich erinnerte mich plötzlich, daß es nicht
ohne Nutzen für meine geschäftliche Rehabilitierung wäre, wenn ich
durch mein persönliches Erscheinen in dieser Handelsstadt gewisse
kaufmännische Beziehungen auffrischte und von neuem stärkte.
Nein ich wollte nicht in Monte Carlo halten! Ich hatte mir ein direktes
Billet nach Marseille genommen. Eine unwiderstehliche Versuchung hieß
mich dennoch aussteigen und noch einmal die Hölle betreten. Ach, mich
dürstete so nach einem letzten Blick aus ihren Augen — ach, nur auf
wenige Minuten die süße Qual ihrer Nähe zu genießen! Dann wollte ich ja
gehen, wohin mich das Geschick entbot.
Ich suchte an allen Tischen. Sie war nicht da. An einem derselben sah
ich ihren Vater sitzen. So mochte sie draußen weilen, obgleich die
Nacht schon heraufgebrochen und die Laternen schon angezündet waren,
als ich das Kasino betrat. Oder ich würde sie im Konzertsaal finden
— nein, ich wollte ihr ja nicht gegenübertreten! Ich mußte ihr und
mir solche Begegnung ersparen! Vielleicht kam sie bald herzu, und ich
durfte sie aus meinem Versteck beobachten. Weiter nichts!
Noch nie war mir die Luft hier so erstickend schwül vorgekommen, noch
nie so unheimlich das fahlgrüne Dämmerlicht. Die Spieler mit ihrem
gierigen Hinundherhasten, und im Gegensatz dazu die Croupiers in
ihrer unbegreiflichen Geschäftsruhe, alles das erschien mir in solch
häßlicher Verzerrung. Ich meinte, unter Gespenstern zu weilen. Der
Anblick Herrn Werlers erfüllte mich mit Jammer. Er arbeitete wie im
Fieber, als gälte es die Rettung seines Systems. Seine kleinen grauen
Augen flackerten, und die mit geschwollenen Adern bedeckten Hände
fuhren in einem nervösen Tasten umher, rückten an den Büchern, schoben
und verschoben die Goldhaufen. Er setzte nicht jedesmal, aber mit einer
angstvollen Spannung beobachteten seine Blicke das Rollen der Kugel.
Jetzt erst bemerkte ich, daß auch bei den anderen Spielern eine
größere Erregung herrschte. Ich hörte, wenn die Kugel einspielte, Rufe
des Staunens, ja der Entrüstung. Von den benachbarten Tischen kamen
Neugierige herbei. Eine Äußerung eines Umstehenden gab mir Aufschluß.
»Das ist ja zum Verzweifeln! Unerhört! Schon zweiundzwanzigmal wechselt
=rouge= und =noir=!«
Es war eine jener tollen Launen des Spiel-Dämons, mit denen er all
den Hoffnungen und Berechnungen ein Schnippchen schlägt. Wenn schon
jene einfarbige Serie, wo eine Farbe bis zu dreißigmal hinter
einander einschlägt, die Spieler ratlos macht, wie viel mehr eine
jener alternierenden Reihen, wo =rouge= und =noir= in staunenswerter
Konsequenz miteinander abwechseln.
Und immer noch =rouge=! Und immer noch =noir= das nächste Mal! Die
Aufregung wuchs, es wurde nur noch vereinzelt auf Farben gesetzt. Herr
Werler wiegte wie verzweifelt den Kopf. Er notierte nicht mehr. Solange
die Kugel rollte, hielt er den Bleistift zum Aufzeichnen bereit. Es
mußte doch anders werden! Und =rouge=! Und wieder =noir=! Jedesmal warf
er in fast wütender Gebärde den Stift wieder auf den Tisch.
Bis zum vierunddreißigstenmal hatte die Scene gedauert. Da schlug
=zéro= ein. Ein Ah! der Erlösung hallte in der Runde, als wäre alles
von einem unheimlichen Alp befreit.
Zwei Louis standen auf =zéro=. Es erfolgte jene Säuberung des ganzen
Tisches von allen Einsätzen, und dann wurden von der Bank zwei Stöße zu
je fünfunddreißig Louis dem Gewinner hingeschoben.
Es mußte nur =ein= Gewinner sein, sonst hätte einer von zweien
wenigstens einen Teil seiner Summe zurückgezogen. Aber es blieb alles
stehen — nun, warum nicht? Ein beherzter Spieler!
Sofort, durch die Zuversicht ermutigt, die der unbekannte Spieler
zeigte, regnete es Gold und Silber auf die =zéro=. Drei Minuten der
Spannung, dann verkündete die dumpfe Stimme des Croupiers abermals —
=zéro=.
Allgemeine Bewegung.
»Welche Chance!« rief man. »Nein, welch ein Glück!«
Zuerst wurden die kleinen Gewinne ausgezahlt. Dann schob die Bank Stöße
auf Stöße voll Goldstücke auf den Haupttreffer. Von beiden Seiten des
Tisches geschah es, und es dauerte eine Weile, bis der Gewinn beisammen
lag. Es war ein großer Goldhaufen.
»Mein Gott, mein Gott!« rief eine naive Zuschauerin, die Hände
zusammenschlagend.
»Es sind zweitausendfünfhundertzwanzig Louis!« hatte einer ausgerechnet.
»Ein Vermögen! Nein, welche Chance! — Wo ist er denn?«
Aber keine Hand rührte sich, den Gewinn einzuheimsen. Unangetastet
blieb der Goldhaufen, lag da auf der leeren Fläche des =zéro= als eine
glänzende, gleißende Masse.
Eine Minute lautloser Stille. Dann erhob sich ein Gemurmel; das
Erstaunen steigerte sich. Man sah sich seine Nachbarn an, man fixierte
die Gesichter der Gegenüberstehenden, wo denn dieser Verwegene sich
befände?
»Unbegreiflich! Wo ist er denn? Heda, wo ist der =zéro=-Mann?«
Und aller Augen waren auf die Goldmasse gerichtet, lüstern,
begehrlich, gierig, voll brennenden Heißhungers. Manchem zuckte es in
den Fingern. Es war, als wollte der Goldhaufen sie alle höhnen mit
seinem Gleißen; — das Gleißen schien an Glut zuzunehmen, als läge
dort ein Haufen glühender Kohlen. Es war der Gottseibeiuns selbst, der
für seine eigene Rechnung gespielt hatte und der sie nun alle mit dem
Anblick des Goldes reizen, versuchen, zum besten halten wollte ....
»Er ist verrückt! Er ist wahnsinnig!« schallte es.
»Es ist zum Verzweifeln! Es ist, um selber wahnsinnig zu werden!«
schrie einer, wie um sich Luft zu machen aus der Qual solchen Anblicks.
Aber niemand, der sich meldete. Schwer und stumm, in brutaler
Aufdringlichkeit breitete sich das Gold auf dem Tisch.
Das Gerücht hatte sich den anderen Tischen mitgeteilt. Zuschauer
stürzten herbei, um das Schauspiel zu genießen.
»Aber, mein Gott, was ist da weiter?« näselte ein Dandy; — »so muß man
es doch machen, um eine Bank zu sprengen!«
»Dumm, sehr dumm!« meinte ein anderer. »Ich würde doch nicht gerade die
=zéro= nehmen!«
»=Faites votre jeu!=« drängten die Croupiers. Der eine derselben war
ganz ungeduldig: lag es doch im Interesse der Bank, daß der rätselhafte
Spieler sich nicht meldete oder nicht fand. Eine dritte =zéro= war wohl
nicht zu erwarten, und so stürzte der ganze Goldhaufen wieder in den
Abgrund zurück.
Wenige Einsätze wurden riskiert. Da, mitten in die Aufregung hinein,
ertönte das ganz monotone, das empörend gleichgiltige:
»=Le jeu est fait! Rien ne va plus!=« Cynisch lächelte der Rufer.
»A—h!« Ein allgemeines Ah! Es war soviel Schadenfreude dabei, das Gold
wieder verschlungen zu sehen.
Die Kugel rollte, rollte und fiel dann mit einem knarrenden Poltern
hinab.
Atembeklemmende Stille ringsum.
»=Zéro!=« flüsterte der Beamte. Man hörte es kaum.
»Was — =zéro=? Abermals =zéro=?«
»=Zéro!=« bestätigte der Beamte lauter, mit einem Achselzucken.
Ein Sturm brach los.
»Die Bank ist gesprengt! Heidi, die Bank!« rief man. Es war ein
allgemeiner Jubel. Mit höhnischen Blicken musterte man die Beamten,
aber keine Miene zuckte in einem dieser verhärteten Gesichter. Einer
warf die trockene Bemerkung hin, die Bank hätte ja die Summe nicht
anzunehmen gebraucht, wenn sie nicht gewollt hätte.
In aller Ruhe wurden die kleinen Gewinne ausbezahlt; da kamen auch
schon zwei Beamte mit einer Kassette heran. Einer trug sie, der andere
diente als Wache.
»Eine Million achtmalhundertvierzehntausendvierhundert Franken!« rief
der Rechner von vorhin.
»Zwei Millionen! Unglaublich! Und das mit dreimal =zéro=! Der Teufel
hat seine Hand darin!«
Die Kassette wurde geöffnet, und die Beamten machten sich daran, die
eine Million achtmalhunderttausend in Banknoten abzuzählen. Es dauerte
eine gute Weile.
»So ein Zeitverlust wegen solch einer Lappalie!« rief ein wütender
Spieler. »=Allons, faites votre jeu!=«
»Stille!« gebot man von der Bank her.
Nun stand einer der Croupiers auf, die Hände voll blauer und grüner
Banknoten. »Pardon, meine Herren!« Dann legte er mit einer seltsam
elegant nachlässigen Geste einen Haufen zusammengefalteter Päckchen
neben dem Golde nieder.
Und nun das Schlußstück dieses wundervollen Schauspiels! Nun wird man
ihn, den Tollkühnen, den Wahnsinnigen, den vom Teufel Besessenen,
endlich hervortreten sehen, um seine Millionen in Empfang zu nehmen!
Irgend ein excentrischer Lebemann, der mit kältester Ruhe der Welt
seinen Arm nach dem Mammon ausstrecken wird, um die Banknoten, als
wären es Zeitungsnummern, einfach in seine Taschen zu stopfen, und mit
dem klingenden Golde — es ist so unbequem zu transportieren — die
Chancen des Tisches zu überschütten. Eine Sehenswürdigkeit! — er wird
fortan in den Annalen des grünen Tisches als Berühmtheit fortleben!
Aber wo ist er denn? Zum Teufel, warum stellt er sich nicht ein? Heran
mit ihm! Heran — damit das lange verhaltene Hallo der Menge endlich
ausbrechen kann!
Fiebernde Spannung ringsum; selbst die Beamten der Bank können ihre
Neugierde nicht verbergen. Aber niemand — niemand! — herrenlos
bleiben die Millionen liegen ....
»Es ist eine Komödie der Bank —« flüstert jemand, — »sie hat selber
gesetzt, um ein Aufsehen zu machen und die Spieler anzureizen.«
Ja, was soll man anderes glauben? Oder hat der Unbekannte seine zwei
Louis gesetzt, um sich in seinem Übermut gar nicht mehr darum zu
kümmern? Das kommt öfter vor. Die Kunde wird ihn aber da draußen, wo er
jedenfalls sitzt und seinen Kaffee schlürft, bald genug erreichen ...
Ich hatte während dieser ganzen Aktion Herrn Werler nicht aus den Augen
verloren. Seit dem dritten =zéro= saß er wie vernichtet. Seine starren
Augen irrten in der Runde wie in einer Leere umher! ratlos trommelte
die eine Hand auf der Tischplatte. Hatte denn diese dreifache =zéro=
sein System — zum wievieltenmal? — zu Falle gebracht? Nun und die
Absonderlichkeit der voraufgegangenen Serie und das sensationelle
Ereignis der herrenlosen Millionen! — im Fluge fiel mich der Gedanke
an: sollte er dennoch von einem schlimmeren Wahne befallen sein, als
seine Tochter es ahnte? Sollte er die beiden Louis gesetzt haben und
zögerte nun, in dem Wahnsinn seines Trotzes, das Gold von des Teufels
Gnaden anzunehmen? Ah, ein Unsinn! Eine Idee, wie sie nur diese
aufgeregte Stunde in mir erzeugen konnte!
Immer noch niemand! — Schon forderte die Bank zum neuen Spiel auf.
Da erhob sich der Obercroupier, ein überfeiner, geschniegelter Herr,
der bisher in allem Sturm mit der Unbeweglichkeit einer Wachsfigur
dagesessen hatte. Das Lorgnon in der halb erhobenen Rechten, fragte er
mit seiner hohen Stimme: »=A qui la masse?=«
Schweigen, Achselzucken ringsum.
Und nochmals lauter: »=A qui la masse?= — Die Summe bleibt natürlich
aus dem Spiel. Sie steht noch eine Viertelstunde dem Gewinner
zur Verfügung und wird, falls er sich nicht meldet, von der Bank
zurückgezogen.«
Noch ehe er geendet, entstand an dem Ende des Tisches, dicht vor den
angehäuften Millionen, eine Erregung. War jemand in Ohnmacht gefallen?
Es war der winzige, fast zur Unscheinbarkeit zusammengesunkene Körper
einer alten Dame, der eine seltsam gleitende Bewegung gemacht hatte,
als wollte er gänzlich unter den Tisch rutschen.
»He, Madame?! Madame!«
Umsonst alle Fragen und alles Rütteln. Der Kopf, den eine Art Haube mit
zerknitterten und verschossenen Bändern bedeckte, war ganz vornüber
genickt. Man wollte ihn aufheben, da fuhr eine der Damen, die sich um
die Kranke bemühten, mit einem Schrei empor. Ein Paar so unheimlich
glasige Augen hatten sie aus den Falten eines wachsfarbenen, verzerrten
Antlitzes angestarrt ....
»Ein Arzt! Ist vielleicht ein Arzt da?«
»=Faites votre jeu, messieurs!=«
Eine Ohnmächtige! — die Luft ist so schlecht hier im Saal, und die
ungeheure Aufregung — dergleichen kommt wohl vor. Es hat nichts zu
bedeuten. Man muß sie nur fortschaffen. Der Anblick stört das Geschäft!
Jetzt ist ein zufällig anwesender Arzt damit beschäftigt, den
Zustand der Ohnmächtigen zu untersuchen. Steif und schwer sinkt das
ausgestreckte Ärmchen, dessen Hand noch so eigenartig gekrallt ist, als
wäre sie eben im Begriff gewesen, aus einem Goldhaufen zu schöpfen, auf
den Tisch nieder. Der Arzt zieht langsam Schultern und Brauen empor,
und mit einem seltsam verlegenen Lächeln flüstert er ein Wort.
»=Rien ne va plus!=« schallt es von der Bank her.
Und das Wort des Arztes wird von diesem Ruf übertönt. Aber dennoch hat
man es verstanden. Etwas Fürchterliches, Unheimliches! Von Mund zu Mund
fliegt es sofort, und die aufgeschreckten Augen bestätigen es.
Tot!
Der Tod an dem Roulette! Das Schicksal, das einen Menschen vom grünen
Tisch jäh hinwegzerrt, da er eben seine gierig zitternde Hand nach
ein paar elenden Goldstücken ausstrecken wollte! — Doch nicht etwa
nach jenen Millionen? Nun, man ist nicht sicher; aber später, als die
Aufregung sich gelegt, als die Millionen längst wieder von der Bank
zurückgezogen waren, wollten benachbarte Spieler sich erinnern, daß
jene beiden Louis von einer gewissen winzigen Hand auf die =zéro=
vorgeschoben worden waren. Die Hand gehörte einer Marquise M., einer
der eifrigsten Habitués des grünen Tisches. Welch eine grauenerregende
Tragikomödie des Schicksals!
Tot! — Zuerst lähmendes Entsetzen, das aller Mienen und Gebärden
gefangen hält. Und nur das laut knarrende Rollen der Kugel in dem
Roulette.
»Es ist nichts, eine Ohnmacht!« will einer der Beamten beschwichtigen.
Eine ganze Schar von Dienern und Beamten ist schon damit beschäftigt,
in widerlicher Eile den Körper der Toten wegzuschaffen. Vorsichtig,
damit die an den anderen Tischen nichts merken, damit das Geschäft
keine Unterbrechung erleidet. Was ist weiter? Es fallen so viele Opfer
in Monaco — laßt einmal eines auf der Wahlstatt selbst erlegen sein!
Das Entsetzen wächst. Alles hat sich erhoben; aber viele Spieler
wollen dennoch ihren Gewinn nicht im Stich lassen: »Es ist nur eine
Ohnmacht ...« Mit einem verlegenen Lächeln der Scham streichen sie ihre
Goldstücke ein, welche die Bank hastig auszahlt, und machen sich davon.
Aber die Bank wagt es doch nicht, ein neues Spiel zu eröffnen.
Ratlos, flüsternd, achselzuckend stehen die Beamten am Tische,
der von den Spiellustigen gemieden wird. Das Ereignis hat an den
anderen Tischen keine Störung hervorgerufen, doch die scheuen Blicke
fliegen nach der Stätte des Unglücks hinüber, wo auf der ungeheuren
Leere der grünen Fläche immer noch die Millionen harren, grell von
dem orangegelben Licht der großen Lampe beleuchtet. Dort sieht man
auch die geschniegelte Wachsfigur des Obercroupiers stehen, der mit
scharfen Polizeiaugen den Mammon hütet; von Zeit zu Zeit nimmt er
seinen Remontoir aus der Tasche; bald wird die angesagte Viertelstunde
verstrichen sein, dann werden die Beamten die Millionen weggeräumt
haben, die letzte Erinnerung an diese »Störung des Geschäftsbetriebs«
— und dann wird der Teufel wieder sein »=Faites votre jeu!=« ausrufen,
als wäre nichts geschehen!
Solches also mußte sich ereignen, damit das System Herrn Werlers zum
Auffliegen gebracht wurde!
Der alte Herr hatte sich mit den anderen erhoben. Totenblässe bedeckte
sein verstörtes Antlitz, und seine Augen drückten äußerstes Entsetzen
aus. In mechanischer Bewegung hatte er einen Teil seiner Bücher und
Listen zusammengerafft, den an seinen Stuhl lehnenden Krückstock
ergriffen und schickte sich an, mit dessen Hilfe den Saal zu verlassen.
Das war nicht so leicht auf der tückischen Glätte des Parketts. Zehn
Schritte mühte er sich vorwärts, dann blieb er stehen, sich mit
hilflosen Blicken nach seiner Tochter umsehend. Seine gebückte Gestalt
schien zu wanken — ich war herzugesprungen.
»Herr Werler, darf ich Ihnen helfen?« Und ich bot ihm meinen Arm.
Er sah mich mit ängstlichem Erstaunen an. Da bemerkte ich, daß er
einiges von seinen Aufzeichnungen hatte fallen lassen. Ich bückte mich,
um ihm das zuzustellen.
Mit einer heftig abwehrenden Gebärde, die fast wie ein Abscheu aussah,
wies er die Heftchen von sich. Etwas wie ein »Nimmermehr!« entfuhr ihm.
»Sie dürfen ruhig meinen Arm annehmen —« beruhigte ich ihn. »Ich
habe die Ehre, Ihr Fräulein Tochter zu kennen. Sie muß Ihnen von mir
erzählt haben,« wie sie sagte — »Thomas Born,« stellte ich mich vor.
»Wir werden die Dame sicherlich draußen treffen.«
Er ließ es ruhig geschehen, daß ich, seinen Arm kräftig unterstützend,
ihn hinaus begleitete.
Die Kunde des Unfalls mochte schon bis in den Musiksaal gedrungen sein.
Wir sahen Helene plötzlich in angstvoller Hast aus der Thür dieses
Saales stürzen. »Es ist einer an dem Roulette vom Schlag getroffen
worden!« Dies herumfliegende Gerücht hatte sie, von plötzlichem Schreck
erfaßt, aufspringen heißen. Es konnte — konnte der Vater sein ...
Gottlob, da war er ja! Und von der Freude, ihn wiederzusehen, ward
fast das Staunen verdeckt, mich als seine Stütze zu erblicken. Nur ein
kurzes, schnelles »Herr Born!«, dann sofort die gewohnte Beherrschung.
»Ah, wie danke ich Ihnen, mein Herr!«
Aber die Röte, die verräterische Glühröte ihres lieben, lieben
Gesichtes ...
Sie hatte statt meiner die Führung übernommen.
»Was ist Dir, Vater? Ist Dir nicht wohl?«
»O doch ... wohl, sehr wohl!« Es klang wie eine Erlösung. »Komm, wir
wollen gehen.« Und nach ein paar Schritten: »Wir wollen fort ... es ist
genug ... Wir wollen reisen, hörst Du?«
Wer beschreibt den fragenden Blick des Staunens, des Zweifels, der
verhaltenen Freude, den wir beide über den Kopf des Vaters hinweg uns
zuwarfen?
* * * * *
Jahre sind seitdem vergangen. Die Erinnerung an all die häßliche
Widerwärtigkeit jener Tage ist längst verblaßt unter dem Sonnenschein
unseres Glückes. Aus dem »Nichts« ist ein Mann erstanden, der
mit Ernst und Thatkraft die Geschicke der Seinen meistert. Aber
das Selbstbewußtsein, das er aus dem wachsenden Gedeihen seiner
Unternehmungen schöpft, will sich gerne dem Bekenntnis unterordnen, daß
nur die Kameradschaft des tapfersten und prächtigsten Weibes ihn so
freudigen Mutes im Kampfe des Lebens streiten heißt.
Herr Werler ist von seinem Hirngespinst geheilt, von allen
Hirngespinsten, mit denen wir armen Erdenwürmer uns selbst die Ruhe
unserer Seelen vergiften. Er ist in einen besseren Frieden eingegangen,
als der war, den ihm unsere Pflege und Aufopferung bieten konnte. Er
hielt sich in der Stille mit seinen Gedanken, aber das freundliche
Nicken seines Kopfes und der Sonnenschein, der zuweilen seine
verhärmten Züge verklärte, sagte uns deutlich: »Ihr seid im richtigen
System! Haltet fest daran! — mit der Liebe und Treue als Einsatz
werdet ihr stets Gewinner bleiben!«
Er trinkt!
[Illustration]
Er gedieh nicht; ein Jammer anzusehen, wie das arme Kerlchen von Tag
zu Tag immer mehr dahinsiechte. All den Ratschlägen der Tanten und
Gevatterinnen, all der Ratlosigkeit des Arztes und meinem verzweifelten
Zureden und den bitteren Thränen seiner armen kleinen Mama zum Trotz.
Es schmeckte ihm nichts, nichts. Er wollte weder von den erstaunlichen
Pausbacken wissen, die ihm die verschiedenen künstlichen Nahrungen
garantierten, noch von der versiegelten und täglich gleichsam immer
neuvereideten Reinheit der Kuhmilch aus dem Musterstall. Wir hatten es
mit einer Amme versucht; die war gleich am dritten Tag mit der Köchin
in handgreiflichen Streit geraten, und der Arzt verbot die Nahrung von
solch einer cholerischen Person.
Dabei so artig, fast ohne einen Laut in sein Schicksal ergeben, nur daß
er das Mündchen in den Ecken wie zum Weinen herabzog und mit dieser
Miene stumm dalag, uns allen ein Vorwurf. Und das Flehen seiner großen
runden, braunen Augen! Ja, es war ein Jammer, anzusehen, wie meine
arme Frau zugleich mit ihm verkümmerte!
Eines Tages klingelt es mörderlich. Die Res’! Sie will ’mal
nachschauen, wie es geht, na und der Bub’ — »wo is er, der Bub’?«
Kaum, daß sie sich Zeit nimmt, uns guten Tag zu sagen, da will sie auch
schon den Bub’ sehn. Und nun tapste sie mit ihren dicken Bauernschuhen
über das Parkett, nach der Kinderstube hin.
Welch ein prächtiges Weib! Eine hohe, üppige Gestalt, nicht hübsch von
Gesicht, aber voll fröhlichen Lebens, mit lachenden Blauaugen; ein
Hauch von Gesundheit wehte jedesmal mit ihr herein, wenn sie kam.
Die Dankbarkeit lag ihr so im Blut. Ihren Eltern war von meinen
Schwiegereltern gutes geschehn; ich glaube, ihr Vater war auf Abwege
geraten und hatte gesessen. Als er herauskam, da brachte es der
Schwiegerpapa, der Arzt an dem kleinen Orte war, fertig, ihn langsam,
aber mit Hartnäckigkeit wieder in die Achtung der Leute einzusetzen;
so machte er einen brauchbaren Menschen aus ihm. Auch sonst schlug der
Makel in einen Segen um; die drei Töchter waren gut verheiratet, die
Res’ an einen Schmied in einem rheingauer Dorf.
Gut also, der Bub’! Sie gratuliert auch noch, sie hat ihn noch
nicht einmal gesehn, extra des Bub’ wegen ist sie gekommen. Wie die
Spitzenhülle von dem Bettchen aufgehoben wird und sie das kleine
jämmerliche Gesichtchen gewahrt, das fast in dem verschobenen Häubchen
verschwindet, da stutzt sie. Gleich aber faßt sie sich: — ein
Stadtkind! Die sind alle blaß und gebrechlich, das ist vornehm! — sie
darf dabei doch auch nicht an einen gewissen feisten, robusten Burschen
daheim denken, den sie mit seinen acht Monaten im Bettchen festbinden
müssen, damit er nicht ausbricht, und der neulich fast eine Katze mit
seinen Fäustchen erdrückt hätte.
»Ein sauberer Bub’ —« sagt sie zögernd, mit einer gewissen
Verlegenheit — »ein prächtiger Bub’« wäre eine Lüge gewesen — aber
»sauber«, dagegen ist nichts zu sagen und — »ein hübscher Bub’!« Sie
meint gewiß die Augen, ganz die Augen meines Weibes.
»Gelle!« macht sie, mit dem breiten Zeigefinger das blasse Bäckchen des
Kindes betupfend, »gelle — gelle!« Aber nichts erfolgte zur Antwort
als ein Herabziehen der Mundwinkel, dazu die vorwurfsvolle Duldermiene.
Meine kleine Frau brach in Thränen aus; bald wußte die Res’ den ganzen
Jammer. »Naa — naa — naa« — es geht ihr selbst zu Herzen, und sie
schüttelt immer wieder den Kopf, daß die grellbunten Zeugblumen auf
ihrem runden Strohhut zittern.
Später, nachdem sie sich zu dem Frühstück hatte nötigen lassen, fuhr
sie plötzlich, gleich nach den ersten Bissen, die ihr nicht recht zu
munden schienen, heraus: »Wenn ich euch helfe’ dhät’?« sagt sie, mit
einem verschmitzten Zwinkern der Augen. »Wenn ich euch helf’ — wart’,
ich helf’ euch!«
Sie legte das Messer klirrend auf den Teller, und ihre Augen strahlten
uns an vor Freude. Ja vor Freude über das Rettungsmittel, das sie für
den Kleinen gefunden, fiel sie nun mit einem wahren Arbeiterappetit
über das Frühstück her.
Wir begriffen nicht, was sie meinte, nicht das Allereinfachste,
Natürlichste; statt aller Antwort zwinkerte sie nur wieder mit den
Augen, dann stand sie bald auf und empfahl sich — die Idee läßt ihr
keine Ruhe.
Zwei Tage nichts. Am dritten Tage war sie wieder da, diesmal mit
einem vorsichtigen Klingeln, wegen des Bub’. »Da bin ich!« rief sie
hochatmend, sie war so geeilt — als wenn die Idee solche Eile machte!
Sie stupfte ein Bündel in die Flurecke, der Mann brächte das andere.
Na, ob wir denn nicht begriffen? Sie war ganz verwundert, wie verdutzt
wir dastanden. — »Wollt ihr mich denn nit habbe’?« fragte sie, die
Arme mit den Handrücken in die Seiten gestemmt. »Ich bleib’!«
Damit, schon ganz bei uns zu Hause, legte sie schnell ab und eilte, das
Tapsen der Bauernschuhe dämpfend, nach der Kinderstube hin.
Sie blieb in der Thüre stehen: »Ach du mein!« Da saß die Kindermagd,
den Kleinen auf dem Schoß, und versuchte ihm mit einem Löffelchen
den Brei beizubringen, er aber sträubte und wand sich mit einer Art
Entsetzen. Gleich darauf hatte die Res’ mit einer fast entrüsteten
Gebärde den Brei zur Seite geschoben, dann nahm sie der erschrockenen
Magd den Kleinen vom Schoß: »Komm, Bubbche’! Gelle, mir zwei beid’, mir
schaffe’s!«
Sie flüchtete mit ihm in die Nebenstube. Wir waren immer noch stumm vor
Verwunderung. Anfangs schien er sich da drinnen auch zu widersetzen,
er weinte, sie beruhigte ihn. Plötzlich war es ganz still. Eine
so seltsame, feierliche Stille. Dann hörten wir das Schmecken und
Schlecken seiner kleinen Lippen, immer lauter, immer gieriger. Zuweilen
hielt er mit einem Aufatmen der Befriedigung inne, gleich aber, mit
einem feinen Gröhlen der Ungeduld über die Versäumnis, schnabulierte er
weiter.
Er trinkt! der Junge trinkt! — Als wenn ein hochwichtiges Ereignis das
ganze Haus in bebender Spannung hielte. Gott gelobt, es schmeckt ihm
wieder! Mein Frauchen sank mir mit Thränen der Rührung und Freude an
die Brust.
Es dauerte eine gute Weile, bis die Res’ wieder erschien. Sie war
selbst rot vor Glückseligkeit über den gelungenen Streich. Sie stand
in der Thür, und mit erhobenen Armen, wie triumphierend, hielt sie uns
das Knäblein hin; freudig lächelnd nickte sie uns zu »Gelle ...«
Das Gesichtchen des Kleinen blühte in einem zarten Rosa, fast schien
es, als hätten seine Bäckchen schon zugenommen. Jetzt reckte und dehnte
er sich, bald darauf neigte sich sein Köpfchen zum Schlaf.
Wie kräftig er schlief nach solcher Mahlzeit! Wie wohlig er atmete! Wie
wir Großen den Atem anhielten, daß er nicht aufwachte! Flüsternd ward
die Unterhaltung geführt. »Ich bleib’!« sagte die Res’, und sie war
erstaunt, daß wir das nicht ganz natürlich fanden.
»Aber Res’, liebe gute Res’, dein Junge! du kannst doch nicht
abkommen?« wehrte meine Frau.
»Nix da! ich bleib’! Ob ihr mich habbe’ wollt oder nit! Der Bub’
soll mich schon habbe’ wolle’. Mei’ Jung — ach der Kujon der! der
Spitzbub’! Der hat genug kriegt. Bub’, jetzt kommt ’e Anneres ’ran,
bis’ still, sagt’ ich, weil er flennen wollt. Jetzt kriegste Fleisch
un’ Wei’, gelle! sagt’ ich. Kiedricher Ausles’!« Und sie lachte. »Jetzt
kann er sich mit dem Spitzbub’ plag’n (sie meinte ihren Mann), ich
bleib’! hier gehör’ ich hin, nit anners!«
Zuletzt wollte sie ärgerlich werden, daß wir so viel Wesen machten. Es
war so selbstverständlich: — sie bleibt und damit fertig!
Und sie blieb. Der Bub’ hätte gewiß nicht anders entschieden, wenn er
befragt worden wäre. Er regalierte sich so. Sichtlich lebte er auf. Die
Bäckchen begannen sich zu runden, und die gelbliche Blässe verschwand;
seine Augen strahlten fröhlich — o er spielte den Großmütigen, nun, da
er im Vollen saß, und er trug uns nichts nach, uns anderen!
»Er«, der Mann, erschien nicht, wie sie verkündet, um ihre Sachen zu
bringen. Er hätte zu viel »ze schaffe«, ließ er sagen. Statt dessen
erschien der Lehrjunge, ein langes Geschöpf mit losen und schlenkernden
Gliedmaßen, mit einem merkwürdig kleinen Kopf und ungeheuren
schwärzlichen Händen, die mit Narben und Rissen bedeckt waren.
Was denn der Kujon machte, fragte Frau Res’, »is er staats brav?«
»Er trinkt Wei’!« sagte der Lehrjunge, von einem Ohr zum andern
grinsend.
»Kiedricher Ausles’!« lachte sie schelmisch, und wir lachten mit.
Ob er sich denn nach seiner Mutter sehnt?
»Na ... a ... a« grinste jener.
Da stach sie wahrhaftig eine kleine Eifersucht; sie hatte uns erzählt,
wie lieb der junge Mann gegen ihren Bub’ sei und wie zuthunlich der
gegen solchen Ersatz eines Kindermädchens. In der Schmiede nicht zu
brauchen, aber als Kindermädchen ausgezeichnet! Er hätte wohl »ja«
sagen können statt seines etwas unverschämten »Na«.
»Du langer Lala!« fuhr sie heraus. »Labbes! Was, er hat kei’ Heimweh?
Sofort machste, daß de ’naus kömmst.«
Gleich lenkte sie ein: »Kömmste her, stoß mit dem gnädigen Herrn und
der gnädigen Frau an!«
Und wir vier tranken auf das Wohl unserer Knaben, »der beide Spitzbub’«.
Nachher ließ ihr die Muttersorge doch keine Ruhe, und sie hatte im Flur
noch eine Konferenz mit dem »langen Lala,« den Kujon betreffend.
Von da ab bekam sie nur spärliche Nachricht von Haus; sie wußte, ihr
Liebling war gut aufgehoben. Zuweilen sandte »er« ein Schreiben;
das Couvert linkisch schön vom Lehrjungen geschrieben (auch darin
ist er geschickt, nur nicht in der Schmiede!) Aber das Schriftstück
selbst, das »er« angefertigt! — sie schämte sich, es uns sehen zu
lassen, allein schon wegen der schwarzen Fingerspuren, die es wie ein
Blumenmuster bedeckten. Welche Mühe mußte seinen ungelenken Händen das
Strecken und Schmieden und Aushämmern dieser widerspenstigen Zeilen
gemacht haben!
Das Schreiben enthielt nicht viel, ein paar Mitteilungen über die
laufende Arbeit. Zum Schluß, daß es dem Bub’ staats geht und er fleißig
Wein trinkt. Dennoch studierte sie oft und lange an diesen Berichten.
Meine Frau hatte sie einmal spät am Abend überrascht, wie sie, im Bette
liegend, beim müden Dämmerschein der Nachtlampe eins der Papiere in den
Händen hielt und darin aufmerksam las. Das brave, prächtige Weib! Sie
wollte uns nicht merken lassen, welches Opfer sie uns brächte, und wie
sehnsüchtig ihre Gedanken nach der Heimat flogen.
Plötzlich stellte »er« sich selber ein, nachdem vierzehn Tage jedes
Schreiben ausgeblieben war. Ein mächtiger, massiver Mann, selber wie
aus Eisen getrieben, sogar das Gesicht: schwarze Haare, schwarze
Gestrüppe von Brauen, ein schwarzer Kranzbart unter dem Kinn, das
übrige bis in die Augen hinein schwärzlich glänzend rasiert — nur die
Augen und die Lippen, wenn er sie öffnete, sahen wie aus weicherem
Stoff gefertigt aus.
Die Begrüßung mit seinem Weib war die denkbar einfachste. Ein kurzes
Auffahren der Überraschung von ihrer Seite, dann schritt sie auf ihn
zu und reichte ihm die Hand, ohne daß sich in dem Eisenwerk seines
Antlitzes etwas regte. Er war kein Freund vom Reden. Wie es ginge? was
der Bub’ machte? — Doch nur ein bejahendes Nicken zur Antwort.
Einen Augenblick war es, als käme ihr die Nuance dieses Nickens nicht
ganz geheuer vor: — warum war er doch gekommen? »Geschäfte,« meinte
er mit einem Achselzucken, und er wandte sich ab. Dann schien es, als
wollte er sie beiseite haben, um ihr etwas zu sagen. Da meldete sich
gerade unser Junge. »Komm, du mußt den Bub’ begucke!« rief sie und zog
ihn in die Kinderstube.
Alle waren wir begierig, sein Urteil einzuholen. Er stand vor dem
Bettchen, den Kranzbart mit der schwieligen Hand nach vorwärts
streichelnd, und betrachtete den Kleinen mit einer Wichtigkeit, als
wäre es irgend ein schwieriges Stück Schmiedearbeit, über dessen
Ausführung er sich noch den Kopf zerbräche.
»Gelle,« sagte sie, »was mer’n rausgefuttert! Noch eine sechs
Wöchelche’, dann kenne’ mer ihm Wei’ gebe’. Ißt er denn gut?« (Das galt
wohl wieder ihrem zu Haus?)
Der Mann nickte. Auch das kam etwas matt heraus. Was ist ihm nur? »Ich
wär’ längst komme’,« fuhr sie fort, »um zu gucke’, aber es dhät mer ze
leid, nochmals fort ze mache’. Noch eine sechs Wöchelche ...«
Es war gut, daß der Kleine gerade das Fäustchen aus dem Munde zog und
eine Probe seiner erstarkten Lunge zum besten gab, mit den nackten
Armen und Beinen dazu den Takt schlagend — es war gut, daß sie, wie
sie sich sofort daran machte, ihn zu beruhigen, den seltsam schweren
Seufzer nicht vernahm, mit dem ihr Mann sich abwandte.
Ich nahm ihn in einer Ecke vor: ob denn zu Haus irgend etwas nicht in
Ordnung wäre?
Da ward das Eisen ordentlich lebendig. — »Naa—naa—naa!« wehrte er.
»Staats, alles staats!« Aber das Lächeln dazu war so eigenartig zäh,
und es erkaltete sofort zu der üblichen Starrheit.
Mein Verdacht war dennoch nicht unbegründet gewesen. Eine Weile darauf
kam die Res’ von einem Ausgang heim, aufgeregt, mit stürzenden Thränen.
Ihr Bub’ — ihr armer kleiner Schelm! — Was denn? — Nun, sie hatte
den Lehrjungen auf der Straße getroffen; es war ihm vom Manne verboten
worden, zu ihr zu gehen, damit er nicht plauderte. Also der Bub’ war
so krank gewesen. Sie hatten den Doktor, und sie meinten, sie meinten
— dabei wären dem Jungen die hellen Thränen über die Wangen gelaufen:
er hat den Bub’ so arg gern! — Der Meister wär’ doch in der Stadt
gewesen, um sie zu holen und .... und ....
Ich vollendete für sie: und als er unseren Kleinen sah, wie sehr der
gedieh, aber wie viel ihm doch noch mangelte, und daß er die Res’ nicht
entbehren könnte, die ersten sechs Wöchelchen ganz sicher nicht, da hat
er nichts gesagt und ist unverrichteter Dinge nach Haus zurückgekehrt.
Der liebe Gott wird nicht so grausam sein!
»Sofort, Res’, werden Sie sich aufmachen und nach Haus fahren!«
»Naa — o naa!« — sie erschrak so. »Und der Bub’ da! Des wär’ mer ei’
schöne Geschicht’! Meiner is ja widder besser. Ich will hin mache’ und
gucke’, abends bin ich wieder hinne.« —
Gut also, wir setzten sie auf die Bahn, und sie fuhr nach Haus. Am
Abend war sie wieder zurück: — Gottlob, ihr Bub’ erholte sich wieder!
Aber »er« hat den Lehrjungen fast kaput gehauen.
»Warum denn?«
»Weil er gebabbelt. Ich sollt’ nix wisse’. Weil ich doch nit fort
könnt’, und die Angst, die ich mir mache’ dhät, könnt unserm Bub’ hier
schade’.«
Zum Teufel die Pessimisten! Was giebt es doch für brave, für tapfere,
herrliche Menschen!
Wir verlangten, daß sie wenigstens ihren Kleinen sofort herholte, damit
wir ihn gemeinsam mit dem unsern in Pflege nähmen.
»O — naa! — des darf ich »ihm« net andhue’! Aber .... aber wenn ich
mit dem da hinmache’ dhät’?«
Sie stutzte, als wenn sie sich doch zu viel des Wunsches herausgenommen
und ihr Herz gar zu sehr bloßgelegt hätte.
»Gewiß, gewiß!« Sofort fielen wir freudig ein. »Topp! Gleich morgen
soll diese ausgezeichnete Idee ausgeführt werden!«
»Die Luft da auße’ — die schöne Luft!«
Es war, als wollte sie uns mit dem Leckerbissen dieser Luft, den sie
uns nun vorhielt, den Abschied versüßen.
Am andern Tage hielt unser Kleiner seinen Einzug in Frau Rese’s Heim.
Wir selber waren nicht zugegen, wir sollten später kommen und uns
die Bäckelchen ansehen, die ihm die Luft da draußen anmalen würde.
Insgeheim fürchtete sie wohl, daß ihre Häuslichkeit während ihrer
Abwesenheit nicht gerade an Blankheit zugenommen. —
An einem wunderschönen Sommertag also fuhren wir hin. Stromauf,
stromab glänzte und gleißte der Rheinspiegel im Sonnenschein, das
weite Thal mit gewaltiger Helle erfüllend. Von den jungen Blättern der
Rebengelände ging ein fröhliches Glitzern aus, und so geheimnisvoll
summte und surrte es zwischen den parademäßig zu Kolonnen gereihten
Weinstöcken, als spürte man die brütende Arbeit der Sonne. Fern in
einer Mulde, am Fuße des bläulich-grün dämmernden Taunus, lag das Dorf.
Und von dort gellte das helle »Ping! Ping!« eines Schmiedehammers
herüber. Das war »er« — nachher würde er uns kein so wortreiches
Willkomm zu bieten haben, da ließ er vorerst seinen Hammer reden und
schickte uns das fröhliche Ping-ping seines Grußes weithin über Felder
und Weinberge entgegen.
Bald hielten wir vor dem Häuschen, das so schmuck und niedlich gegen
das rußige, wütend fauchende Ungeheuer der Schmiede daneben abstach.
Die Thür beschattete ein Rebendach, und wer saß unter demselben, in
dem von huschenden Sonnenflecken besprenkelten Schatten? — der »lange
Lala« in seinem Amt als Kindermädchen! Saß da auf der Stufe, mit den
aufgestemmten Beinen zwei Bänke bildend, auf denen unsere beiden saßen.
Unter den ungeheuren schwarzen Tatzen seiner Hände verschwanden fast
die beiden Kleinigkeiten; zwischen ihren Köpfchen hindurch bot er uns
das breiteste Grinsen seines Mundes zum Willkomm. Da erschien auch die
Res’ in der Thür, die rotbraunen Arme noch an der Schürze abtrocknend,
üppiger und prächtiger denn je. »Ei du mein!« rief sie uns entgegen.
Gleich aber erhielt der Lala einen Klaps: »Hättst dir a de Händ butz’n
kenne’!«
»Schad’t nichts! Schad’t nichts!« riefen wir aussteigend. Das
Wiedersehen, oh das Wiedersehen! — Triumphierend stand die Res’ und
weidete sich an unseren staunenden Mienen, wie wir die Bäckelchen, um
derentwillen wir doch gekommen, inspizierten. »Gelle? gelle, die Luft!«
Da erschien auch »er«, und das schwärzliche Eisen seines Antlitzes
bequemte sich wahrhaftig zu einer Art freundlichen Lächelns. Beim Imbiß
darauf sollten wir auch die berühmte »Kiedricher Auslese« kennen
lernen. Mein Frauchen hatte Mühe, sich nichts merken zu lassen, wie
herb ihr der Wein mundete. Aber ein wahres Entsetzen erfaßte sie, als
Frau Res’ sich nun daran machte den beiden »Spitzbuben« das Glas an die
Lippen zu setzen — »Um Gottes willen!«
Aber unser Bub’ hielt den Rand des Glases mit den patscheligen Händen
hartnäckig fest, als wenn er es nicht mehr lassen wollte. Und wie er an
dem Wein sog! mit welchem Behagen seine frischroten Lippen schmeckten
und schleckten.
»Rheingauer Medizin!« warf »er« nickend hin.
»Gelle, was er staats trinke’ kann!« lachte Frau Res’, »mei’ Kujon
kommt fast net mit! G’sundheit!«
Und mit Augen, strahlend vor Freude trank sie den beiden winzigen
Zechern zu. Mein Frauchen aber befiel ein wilder Mut: »Ja wenn er
trinkt, da muß ich auch ....« sagte sie lachend, setzte das Glas an den
Mund und schlürfte den goldgelben Inhalt hinab.
Versunken
[Illustration]
Ein Uhr! Pünktlich zur Stelle! — Wer aber nicht da ist, sind Sie,
mein werter Professor! — zwar noch ohne Bestallung, aber der Titel
spukt überall umher hier im Atelier, selbst die Kohlköpfe da draußen
im Garten scheinen davon zu wissen: wenn er vorüberkommt, grinsen sie
ihn so respektlich an mit ihren runzlichen Altweibergesichtern — ich
glaub’ gar, sie sind imstande, ihn zu lieben, heimlich, und ein wenig
unglücklich wie ich, Rosa Hille, sein Leibmodell ...
Ach nur sein Leibmodell, wie er mich scherzhaft nennt, denn von meinem
Gesicht kann er nichts brauchen, nicht die Nasenspitze, nicht ein
Ohrläppchen; desto begeisterter thut er über meinen »klassischen« Arm,
über Nacken, Halsansatz u. s. w., was nicht die Herren Bildhauer an
meiner Gestalt für Kostbarkeiten zu schätzen wissen — mein Gesicht
aber läßt ihn gleichgiltig wie ein Kohlkopf ... »Ach was, Hille, du
bist ein dummer Kerl!« wie er zu sagen pflegt, wenn ich’s mit der
Sentimentalität kriege. »Hille« schlechtweg — er kennt wohl nicht mal
meinen Vornamen, ich bin ihm nichts als die »Besitzerin des schönsten
Armes von Berlin,« das Weib steht garnicht in Frage, ih, und wie käme
ich dazu, ein Herz zu haben wie andere Mädchen ...
Das sind solche Sonntagsnachmittagsgedanken, wenn man einsam in einem
Atelier sitzt und vergeblich auf einen Professor wartet! Er hat wohl
wieder einmal vergessen, daß er mich bestellt, und es geschah doch so
dringend: er müsse den Feiertag zu Hülfe nehmen, um mit seiner Figur
fertig zu werden. Wieder sein Raptus? Wieder der Sport? Wieder auf dem
Wasser? Wenn ein Segelwind weht, da packt es ihn, und er muß hinaus
mit seiner Nußschale! Na nur Geduld Hille — machen wir es uns bequem
inzwischen! — wo hat er doch nur seine Cigaretten?
Was Hille bequem machen nannte, hätte für andere Damen mit wirklich
benutztem weiblichen Vornamen ein ziemlich tiefes Negligee bedeutet.
Das Kattunleibchen schnell abgestreift — eine Schnürbrust legte sie
nie an, nachdem Begas, der Entdecker ihres klassischen Armes sie
beschworen, ihre herrliche Venusbüste nicht durch einen Panzer zu
verderben — nun umrahmte der kokette Spitzenrand ihres schneeigen
Hemdes, von einem dunkelroten Bändchen durchzogen, in weiter Rundung
Arm und Nacken, die berühmten Arme in ihrer ganzen Glorie freilassend.
Etwas kühl, aber das ist sie gewohnt! Ihr Teint zeigte durchaus keinen
blendenden Glanz, es war jene feine kaffeeartige, nur von Koloristen
geschätzte Nuance, ei was schert auch einen Bildhauer der Teint!
Freilich der Kopf und das Gesicht auch wieder mehr für einen Maler
tauglich — offen heraus: ein ziemlich häßlicher Charakterkopf mit
scharfen Linien, großem Mund, einem unverhältnismäßig vollen Kinn und
zu hoher Stirn, die von etwas wüstem, kastanienfarbenem Haar beschattet
wird; doch ein paar überaus treu- und warmblickende goldbraune Augen,
die das ganze Gesicht mit einem mildschönen Lichte erleuchten.
Und so, bloßarmig in Hemd und Rock, begann sie sich hier zu Hause zu
fühlen; es gab bei ihrem Kommen immer etwas zu schaffen für ihren
Ordnungssinn, denn das alte halbtaube Weiblein, das dem Künstler als
»Kalefaktor« diente, schien einen besonderen Sinn für ein beharrliches
malerisches Kunterbunt zu besitzen; an den Staub gar nicht zu rühren,
den ja auch sie auf den Büsten und Statuen ringsum respektierte, wegen
der herrlichen Schattierung, die er den Gipsflächen verleiht: so lehrt
der Professor, und was der sagt, ist richtig, selbst wenn es den Staub
betrifft.
Auf dem Bauerntisch, neben dem mit einem silbrig verblaßten und an
verschiedenen Stellen zerrissenen Perserteppich bedeckten Divan,
standen die Reste eines eilig eingenommenen Frühstücks, etwas Käse und
Schinken, sowie eine noch uneröffnete neben einer geleerten Flasche
Tivoli. Sie räumte ab, ließ nur ein Brödchen und die volle Flasche
auf dem Tisch, ihr eigenes Vesper, oder meinetwegen zum Zeitvertreib,
denn wer weiß, ob er so bald heimkommt. Der Segelwind muß günstig sein
draußen — hu, wie die dürren gelben Herbstblätter bei den Windstößen
von den Bäumen rascheln! Wenn ihm nur nichts geschieht! — er ist
waghalsig, sagen sie, und Wasser hat keine Balken ...
Ach wo! Was soll ihm geschehen? Er ist zu hohem ausersehen, er will
und muß und wird berühmt werden, weltberühmt, und bald! — Wartet nur,
wenn all die Pläne, die unter seiner gewölbten, von feinen Sorgen- und
Gedankenfältchen bedeckten Stirn gären, erst zur That geworden ... Ihm,
dem Herrlichen, geschieht nichts so Triviales wie ein Wasserunglück,
das ist für alltägliche, unreife Burschen, die des Sonntags am Sport
naschen; verliebte und verzweifelte Mädchen zieht es ins Wasser, und
wenn sie, die Hille, den nassen Sprung riskierte, so würde die Welt
nicht mit den Wimpern zucken — auch der Professor nicht? Ach es
giebt noch andere klassische Arme genug für ihn ... nur schad’ um die
unfertige Figur ... »Hille, du bist ein dummer Kerl!« Du hast ja gar
nicht im Sinn, ins Wasser zu gehen, na und basta, er ist doch gefeit
vor so gemeinem Unglück — ihn schützt sein Genie. Lassen wir den
Herbstwind blasen!
Also die Figur wird auf jeden Fall fertig. Sie wird und muß Aufsehen
machen! — Hat er sie auch gehörig angefeuchtet beim Fortgehen?
Sie that einen tiefen Zug aus der angezündeten Cigarette, ließ den
blauen Rauch nach Kennerart langsam aus den gerundet offenen Lippen
verwehen und legte sie auf den Rand des Tisches. Dann entledigte sie,
von dem kleinen Trittbrett aus, die auf dem Drehstuhl ragende Figur
ihrer feuchten, grauleinenen Schutzbehänge.
»So!« rief sie, »’tag auch!« und sie nickte der Gestalt zu wie einer
lieben alten Bekannten. Es war ein blühend schönes Weib, dem rittlings
über der Schulter ein Knäblein saß, das haschte mit begehrlichen
Händchen nach dem schönen, blendend hellen Ball, (für elektrische
Beleuchtung gedacht) den die Mutter, neckisch lachend, hoch empor mit
der Rechten aus der Reichweite seiner rundlichen Ärmchen hielt.
Das Gesicht des Weibes war einstweilen nur skizzenhaft modelliert.
»Eine andere wird ihm die Züge leihen — eine schönere — mein Gesicht
ist aber auch wirklich nicht brauchbar ...« Zwischen Hille’s starken,
etwas düsteren Augenbrauen wetterten drei Fältchen, und ihr Brustkasten
hob sich schwellend: ein Seufzer, wahrhaftig ein Schmerzensseufzer, der
in der sonntäglichen Stille doppelt verräterisch erklang.
Aber Hals, Nacken und Brust der Figur, die sind von ihr — und die
Arme! Der emporgestreckte da mit der Glaskugel ist ihm wie lebend
geraten! (»Wenn ich ein Mann wäre, ich thät’ mich d’rein verlieben!«)
Dies Handgelenk, dieser Schulteransatz, diese ganze Linie, und das
famose Grübchen am Ellbogen ...
Hille nahm die Cigarette auf, paffte eine starkwallende Wolke hervor
und betrachtete mit zwinkernden Augen durch den Qualm das Kunstwerk
ihres porträtierten Armes. Sie begeisterte sich förmlich daran, und
ihre Augen blitzten. Plötzlich hob sie die eigene nackte Rechte empor
gegen das fahlhelle Licht, das durch das breite Oberfenster vom milchig
bedeckten Himmel hereinbrach: »Na nun such’ mir einer einen solchen
Arm in ganz Berlin!« Und sie ließ die Muskeln spielen und weidete sich
an dem feinen Wechsel des Schattenhauches, der beim langsamen Hin- und
Herdrehen seine harmonischen Flächen und Linien belebte.
Und wie brav und tüchtig er ist, dieser Arm! Respekt vor ihm, er
ernährt eine ganze Familie! Mehr, viel mehr, als vier schwielige
Arbeiterfäuste zu leisten vermögen. Was wäre aus ihrem armen, kranken,
von Not und Sorge verhärmten Mütterlein geworden ohne den Arm? Wer
fütterte die vier kleinen Geschwister? Wer ließe den Bruder was
Tüchtiges lernen?
Sie schlug mit der flachen Linken auf das Fleisch des Armes, daß es
einen klatschenden Schall gab, es klang wie ein Bravo! — weil er seine
Sache so gut macht.
Schließlich ist’s ein Besitz, dem die Zeit so bald nichts anhaben wird.
Wie lange blüht so ein Frätzchen? Denn Männer sind brutal, Künstler
erst recht, über ein paar Falten stolpert ihre Liebe. Ach, sie meint ja
gar nicht mal die Liebe, die dumme, verrückte Liebe, mit der will sie
ja garnichts zu schaffen haben ...
Aber er kann definitiv langweilig werden, dieser angebrochene
Sonntagnachmittag! Müßig hier zu hocken und zu harren! Unsereins will
auch einen Happen vom Sonntag genießen, man ist sich’s schuldig, will
sagen: seinem Körper, damit der jung und frisch bleibt — ich selbst,
ich verlange nichts auf der Welt für mich ...
Hätte mich wohl mitnehmen können nach Wannsee! Hat mir es immer schon
versprochen! Aber kann keinen Staat mit mir machen, das ist’s, er
schämt sich meiner — ich weiß nicht, ob ein schönes Frätzchen nicht
doch was Begehrenswertes? ... ich möcht’ wohl schön sein für den
Sonntagnachmittag, zum Ausgehen und Ausfahren mit ihm! — Ach mit ihm
Wasser zu gondeln! Jung und schön, und nur einen einzigen vollen Becher
vom schäumenden Leben genießen! Werktags will ich gern zufrieden sein,
so wie es ist ...
Ja, es wurde immer stiller, immer »trister« hier im Atelier, je
weiter der Nachmittag vorrückte. Jetzt wimmelt der Tiergarten bunt von
fröhlichen Menschen, und den armen Schwestern wäre wohl ein Gang ins
Grüne zu gönnen gewesen. — Wie spät mag es sein? Man sitzt wie in
einem Gefängnis, weißgraue Wände, feuchter Gips- und Lehmgeruch, und
wie gelangweilt einen die Figuren anstarren! — kein Ton von außen, nur
von Zeit zu Zeit die heftigen Windstöße, die das Laub herabjagen, nur
hie und da ein fernes dumpfes Rollen, es ist die Stadtbahn — nicht mal
das trauliche Getick einer Uhr, das einem Gesellschaft leistet.
Dumme Gedanken! — ich bin nicht gerne allein, da kriegt man solche!
— Ob ich durchbrenne? Wenn er aber doch noch käme? — ach was, ich
leg’ mich schlafen, es giebt nichts Gescheiteres als schlafen. Wenn man
Glück hat, fällt einem im Traum was Süßes vom Himmel — ich bin auch
schon mit geträumten Süßigkeiten zufrieden ...
Sie hatte ihren Oberkörper in einen bunten römischen Seidenshawl
gehüllt und sich auf dem Divan ausgestreckt, nachdem sie ein Glas
schäumenden Tivoli’s gierig durstend herabgeschlürft. Die Hände unter
dem Kopf gefaltet, dessen dicke Haarknoten sie, des bequemeren Liegens
wegen, gelöst, lag sie nun mit wachträumenden Augen.
Schaut mich nicht so an, ihr Gipsköpfe ringsum! Zu verspotten giebt’s
nichts! Unerlaubtes ist es nicht, woran ich denke — ich träume von
ihm, eurem Schöpfer und Meister ...
Ach von ihm! — wie mit Klammern haften oft die Gedanken an ihm und
können nicht wieder los! Ich quäl’ mich selbst damit, aber ich kann
nicht anders! Ich mal’ mir aus, wie es ist, wenn er endlich berühmt
geworden, von aller Welt gefeiert, mit Glücksgütern überhäuft, und von
allen Ehren umgeben. Das wird und muß eintreffen, alle seine Freunde
schwören darauf, und ich weiß es so sicher wie das Vaterunser: bald,
gar bald werden sie ihn mit dem Lorbeer krönen, große, weitglänzende
Denkmale werden die Glorie seines Namens in aller Welt verbreiten, der
Kaiser selbst wird ihn mit seiner besonderen Huld beglücken — und die
Weiber, schöne, begehrenswerte, werden ihn anbeten ...
Puh, der Wind meint es gut! Die Baumäste knarren und ächzen, rings ist
ein gewaltiges Rauschen von dürren Blättern. Und er draußen auf dem
Wasser mit seiner Nußschale! ... Der Tod ist demokratisch gesinnt, der
verschont keinen Rang und Namen — wenn er seine Laune hat, so übt er
sich im Knicken von Hoffnungsblüten und läßt die alten, welken Halme
stehn ...
Ueber der schwarzgrauen, unheimlich weiten Wasserfläche wütet der
Sturm, tückische, weißbekämmte Wogengipfel aufwühlend; einzelne
Schifflein sind noch draußen, von dem Unwetter verschlagen,
verzweifelt arbeiten sie sich landwärts, ihre Segel sehen aus, als
flatterten große weißgefiederte Vögel ängstlich in der Irre. Holla,
sein Boot, seine Nußschale! — die Freunde nennen es scherzend einen
»Seelenverkäufer,« wie es im grausigen Uebermut lustig auf und nieder
tanzt! — wie die kleine Flagge am Top nach rechts und links den
Wogenschaum begrüßt! Ihm ist wohl da draußen unter den ängstlich
flatternden ... Wo ist es doch jetzt? Dort hinten ... nein es hat ja
gelbliches Segelwerk — und die Flagge nicht mehr sichtbar! — Himmel,
das Segel liegt platt und schwer auf dem Wasser — — jetzt ist es
verschwunden — etwas dunkles, langes, schwarzes wogt, unheimlich wie
ein Sarg, über der vom fahlen Abendschein beleuchteten Fläche — unweit
von dem Sarg ein — zwei — drei kleine schwarze Punkte — die bewegen
sich — es ist wie ein Krabbeln — Menschen in Not! — — Hilfe! Hilfe,
rettet ihn! O er kann ja schwimmen! ... jetzt recken sich von dem einen
der schwarzen Punkte zwei Arme himmelwärts — plötzlich ist der Punkt
mit den Armen verschwunden — hinab in die Tiefe ...
Die Hille schreckte jäh empor, und ihre Rechte tastete über die Stirn,
die perlte voll kalter Schweißtropfen. Dann schlug sie eine laute
nervöse Lache an: wie kann man nur so Tolles träumen! Fort mit den
Fledermäusen! Unsinn — an ihn wagt das Schicksal nicht jäh zu rühren!
Er ist eine Ausnahme! — schon ein Verbrechen, nur solches zu träumen!
Ihre krampfhaft wachen Augen irrten in dem Raume umher. Es herrschte
ein unheimlich fahles Dämmerlicht, die gipsenen Gesichter und Masken
hatten einen so gespenstischen verzerrten Ausdruck; das schöne blühende
Weib mit dem Knaben reckte sich stumpf und leblos wie eine plumpe,
schwere Masse empor; ein scharfer, modriger Erdgeruch hauchte von dem
feuchten Ton aus.
Hille schloß die Augen, ihr Herz pochte hörbar in der Stille. Jetzt
zwang sie ihre Lippen zu einem Lächeln, und gewaltsam zerrte sie sich
heitere Bilder herbei.
Sie sah den dürftig engen Atelierraum zu einer hohen Halle geweitet,
in der gewaltige Denkmäler und kühne Gruppen der Vollendung harren.
Hier gebietet er, der Meister in elegantem samtenen Atelierkostüm, über
eine Schar eifriger und talentvoller Schüler und Genossen. Nebenan,
in einem besondern Raum, wird nach einem lebenden Pferd modelliert,
das zwei Stallknechte in glänzender Livree halten; es ist des Kaisers
Leibroß, ein prachtvoller Trakehner, dessen temperamentvolles Gescharr
und Gestampf sich mit dem harten Klang des Meißels mischt, denn im
benachbarten Schuppen ist ein ganzer Stamm italienischer Marmorarbeiter
mit dem Ausführen der fertigen Modelle beschäftigt. Auch ist ein
Allerheiligstes da, ein kokett und luxuriös ausgestatteter Raum, in
dem das »Leibmodell« seinen Thron hat, denn mit dem Künstler wächst
auch die Kostbarkeit seines Modells. Hat das ihn nicht berühmt machen
helfen? Hille’s Arm, der wird unberechenbar an Wert steigen ...
Draußen aber, mit der Sicht auf das Schattendunkel des Tiergartens,
prangt des Meisters Villa, von einem ersten Architektenpaar erbaut, ein
Schmuckkasten, fürstlich ausgestattet, voll entzückend stimmungsvoller
Gelasse und Winkel. Hier hallt beim Klang der Gläser, an den Abenden,
nach der Tagesarbeit, fröhliches Lachen und Geplauder, denn der Meister
hatte immer schon einen Hang zu gemütvoller Gastlichkeit. Dazu liebt
er Musik, erste Künstler sind seine Freunde, so gilt die Villa als das
Stelldichein edler, harmonischer Gesellschaft.
Spät in der Nacht aber, nachdem die Gäste verflogen, sehen die
Nixen und Elfen des Waldparks die Gestalt des Meisters auf den von
Blumen üppig umrankten Balkon heraustreten, dicht an seine Seite
geschmiegt ein schönes, liebliches Weib. Er hat seinen Arm mit inniger
Zärtlichkeit um ihren Leib geschlungen, und ihr Kopf lehnt, des Glückes
schwer, auf seiner Schulter. So halten sie dort, von dem Blumengerank
umrahmt, vom matten Dämmerschein des goldenen Halbmondes umflimmert.
Hille, Hille, du bist wahrhaftig ein guter Kerl, daß du solche Träume
uneigennützig zu hätscheln wagst! Nur ein kurzes Aufatmen, das dein
armes Herz von solch fremdem Glückesalp befreien will .....
Noch ist der Traum nicht zu Ende. Weiter erlauschen die Nixen
und Elfen, wie das holde Paar nun in das noch erleuchtete
Innere zurücktritt, wie es langsam, langsam den prunkenden Saal
durchschreitet, und hinter diesem, in einem rosa erleuchteten
Kabinett vor einem spitzenumhauchten Etwas stehen bleibt, das einem
Kinderbettchen ähnlich sieht. Wie nun ihre beiden Köpfe sich gemeinsam
herabbeugen, sehr behutsam, und wie dann eins nach dem andern, einen
leisen Kuß haucht auf die zarte Stirn eines kleinen, von schwarzem
Flaum bedeckten Köpfchens ...
Genug, genug! Hille schrak von einem prallenden Schlag empor, der gegen
das Fenster geschah: wohl ein Zweig, den der Wind dagegen geschleudert.
Schlaftrunken öffnete sie die Augen — wo ist sie doch? Ist es die
Morgendämmerung? Ach so, sein Atelier! — es ist Abend, sie muß sehr
lange geschlafen haben.
Fröstelnd und gähnend richtete sie sich empor. Dann zog sie sich eilig
an. Eine seltsame Unruhe schien sie zu zerren. Es war unheimlich hier
in der Stille. Wie bleiche Gespenster schimmerten die Gipsgestalten
in dem grauen Halbdunkel — Arme schienen sich zu bewegen, Gesichter
grinsten — schwer wie ein Pfühl lastete die feuchte Luft auf ihrem
Atem. Und was war das für ein Spuk, daß sie das schaurige Traumbild
nicht loswerden konnte aus den Augen: immer und immer sah sie auf der
fahlbeschienenen Wasserweite den großen schwarzen Sarg daherwogen, und
die drei hilflos krabbelnden Punkte ...
Schnell verrichtete sie noch das Nötige, stellte die Ordnung wieder
her, bespritzte die Thonfigur mit Wasser und umhüllte sie sorgfältig
mit den Tüchern. Dann fort — die seltsame Unruhe zog sie hinweg wie
mit unsichtbaren Armen. Sie schloß die Atelierthür ab und versteckte
den Schlüssel an dem bestimmten Platz unter einem losen Ziegel
seitwärts der Thürzarge. Dann eilte sie durch den verwahrlosten Garten,
in dem das Atelier, ein ehemaliger Pavillon, stand. Das Laub raschelte
unter ihren hastigen Tritten, in der Luft ging ein rätselhaftes feines
Gewinsel, anschwellend zu einem deutlichen Gestöhn, und dann wieder
fast unhörbar verhauchend. Sie horchte wie gebannt — ach es ist ja nur
der Wind! ... wenn sie nur wüßte, ob er an Land ist und in Sicherheit
... gewiß sitzt er längst warm und behaglich, unter fröhlichem
Geplauder in einem Gasthaus!
Immer wieder der schwarze Sarg! — der schwimmt jetzt allein — die
Punkte sind fort! — horch, rief da nicht jemand um Hülfe?
Da braust unweit ein Stadtbahnzug daher, sie war froh, daß das rollende
Getös endlich die gespenstischen Töne verschlang. Und da draußen auf
der Chaussee, die von heimkehrenden Menschen und Wagen wimmelte,
verschwand auch endlich das Sarggesicht.
Sie fügte sich in den Menschenstrom ein, aber das schlenderte so
langsam, in müder Behaglichkeit — ja hat sie denn solche Eile?
Allerlei Rufe und Bemerkungen drangen an ihr Ohr, einige mit dem
Lallen angehender Trunkenheit, wie man sich da und dort amüsierte, wie
man die häßlichen Alltagssorgen da draußen in der freien Gottesnatur
habe verwehen lassen, wie Bier und Kaffee geschmeckt und wie wohl das
Schlendern durch den Wald gethan.
»Die auf dem Wasser draußen hatten ihre Not« — sagte einer. »Der Wind
meinte es gut. Wer versäuft, hat selber schuld, warum gondelt er hinaus
bei dem Wind —«
»Versäuft ... Ist denn einer ertrunken?«
Sie hatte sich erschrocken herumgewandt und richtete die Frage an den
Sprecher. Der grinste sie lustig an: »Wohl Ihrer, Fräuleinken? Na keene
Bange nich, ertrinken dhut heute mancher — ins Bier, Fräuleinken, der
Wind macht höllisch durstig!«
An der Straßenecke erwartete sie einen Pferdebahnwagen, der, schwer
mit Menschen überladen, heranrasselte. Sie erkämpfte sich unter
den Herzudrängenden einen Platz auf dem Hinterperron und stand dort
eingekeilt.
Zwei Herren links und rechts von ihr unterhielten sich an ihrem Gesicht
vorbei.
»Am Kälberwerder — freilich eine verdammte Stelle bei dem Wind. Wann
passierte es denn?«
»Um fünf! Ich habe jemand gesprochen, der es mit angesehn. Drei
sprangen ins Wasser, einer hielt sich und ist gerettet, die andern sind
weg!«
»Scheußlich!« fuhr eine dritte Stimme dazwischen.
Die Hille durchschauerte es eiskalt. Eine Frage erstarrte auf ihren
Lippen, bebend blieben diese geöffnet, und so, regungslos eingekeilt,
mußte sie weiter das Entsetzliche anhören.
»Es solle eine alte Zille gewesen sein, ein Verbrechen, damit hinaus zu
machen bei solchem Wind!«
»Weiß man, wer es war?«
»Drei junge Leute aus Potsdam.«
»I wo, drei Berliner Künstler« — ließ sich eine fette
Allesbesserwissen-Stimme zwischen der Wagenthür vernehmen. »Ein
Bildhauer und ein Maler sind ertrunken —«
»Fräulein, was ist Ihnen? Ist Ihnen nicht wohl?«
An den Arm des einen Herrn faßte, wie Halt suchend, die mit einem
Baumwollhandschuh bekleidete Hand des Mädchens. Und ihr Antlitz bog
hintüber wie gebrochen, totenblaß. Gleich richtete es sich wieder
empor, krampfhaft, und die Augen weiteten sich stier.
»Ein Bildhauer — sagen Sie« — stammelte es tonlos über die blutleeren
Lippen.
Aus dem Hintergrunde des Wagens tönte ein Name. Durch das rasselnde
Getös schlug er deutlich an ihr Ohr — Sein Name ...
»Scheußlich! Entsetzlich!« stieß jemand aus.
»Eine Gemeinheit des Schicksals!«
»Heda, Schaffner, einen Platz für die Dame! Sie wird ohnmächtig!
Vielleicht ist einer der Herren da drinnen so freundlich aufzustehen!«
Aber die Hille reckte sich noch einmal empor. »Ich danke!« sagte sie,
und durch ihren Körper ging es wie ein energisches Zusammenraffen. Kein
Schauspiel für diese da! Was geht die der Dolchstich an, den der Name
soeben mitten in ihr Herz versetzt ...
Heiliger Gott im Himmel! Es ist wohl nicht glaublich! Es ist undenkbar!
Er sollte ertrunken sein ..
Es ist gut, so eingekeilt zu sein, da merkt niemand ihr Wanken und
Schwanken — so muß es sein, wenn man in die nasse Tiefe sinkt: die
Augen noch einmal stierweit aufgerissen, und ein letzter großer,
vorwurfsvoller Sehnsuchtsblick rundum auf die herrliche Welt, die so
voll goldschimmernder Schmetterlingshoffnungen wimmelt ...
Faschingszauber
[Illustration]
Ich höre scharfklippernden Peitschenschlag; ich höre das feine
nervöse Geklingel von Schellenkappen; juchzenden Geigenstrich und
übermütig schnarrende Guitarrentöne, weinheisere Singstimmen, das
Gellen anstoßender Gläser, Zurufe und Witze, die ganze Luft gleichsam
vibrierend von der alles ansteckenden, alles umhüllenden, alles
durchdringenden Karnevalslaune.
Ich höre Lachen im Chor, schallend, homerisch erschütternd; ich höre
aufwirbelndes Sololachen von Frauenstimmen, hell wie der Glöckleinklang
eines eleganten Frauenklosters; Lachen, das sich ausschütten möchte
über einen Extra-Spaß, und anderes, das lacht, weil es in der Luft
liegt, weil die Kölner Faschingsparole es gebietet, über eine Dummheit,
eine Grimasse, ein Nichts. Und, jetzt aus all dem vieltönigen,
ein wenig mißtönigen Frohgelärm klingt das Lachen einer gewissen
Mädchenstimme, ein paar perlartig hüpfende Noten nur, luccahaft süß,
von jenem eigenartigen Zauber, der sofort ins Herz dringt, ohne den
vorschriftsmäßigen Umweg durch das Ohr und das übrige Telegraphennetz
der Nerven ...
Freilich, die Lippen, denen es entfährt, blühend frisch,
siebzehnjährig jung, von einem herzigen Lächeln, einem Grübchenlächeln
gleichsam aufplatzend wie eine köstliche Frucht, dazwischen das
feine, irisierende Blinken von kleinen, etwas spitzigen weißen
Raubtierzähnchen. Wißt Ihr, es war nicht leicht, sitzen zu bleiben
und dies Lächeln einfach anzustarren wie ein Wunder! Wißt Ihr, ich
weiß selbst nicht, wie es geschah, ich war meiner nicht mehr Herr, war
aufgestanden, an den Nachbartisch herangetreten, hatte mit einem kühnen
Griff das Köpfchen gefaßt, und einen Kuß auf die halboffenen Lippen
gepreßt ...
Hier in unserm verstandessichern, polizeimäßig nüchternen Berlin, das
sich zwar seines Witzes rühmt, eines meist forcierten Witzes, aber
von Humor keine Ahnung hat, gäbe es Mord und Totschlag ob solchen
Unfugs, Kartenwechsel oder Faustschläge, je nachdem, mit gerichtlichem
Nachspiel. Der Kölner Humor mit seiner Devise »Leben und leben lassen!«
gestattet jedoch die kühne Freiheit solchen Stegreifkusses — zwischen
Schönen, Hübschen, Jungen natürlich. Se. Närrische Hoheit der Prinz
Karneval, stets einer der schönsten und elegantesten jungen Herren
der Stadt, hat sogar das altherkömmliche Recht, am Rosenmontag die
Lokale zu durchwandern und sich von den verlockendsten Mädchenlippen
nach Wahl die tributpflichtigen Küsse zu pflücken — ohne Wehr und
Zimperlichkeit, es ist sogar köstliche Ehre dabei. Na und die Getreuen
Sr. Närr. Hoheit naschen so gelegentlich vom gleichen Recht.
Ich sollte ja die kleine karnevalistische Episode regelrecht berichten.
D. h. Ihr dürft nichts erwarten als nur die Schilderung einer süßen
Mädchengestalt, die alljährlich zum Fasching vor meine Erinnerung
tritt, lächelnd mit ihren blüten-frischen Lippen, für mich auf allzeit
die wundervolle poetische Verkörperung der im Namen aller Frohgeister
benedeiten Kölner Karnevalstollität.
Und so grüß’ ich Dich: »Alaaf Köln!« Du Stadt mit den hundert
Kirchtürmen und den tausend schönen Mädchen! Dich aus den Tausend grüß’
ich, Du liebliche rheinische Maid: — »N’tag Drückchen!« Und nick’
Dir freundlich zu, und über meine Seele breitet sich warmlachender
Sonnenschein im Gedanken an Dich. Sei gegrüßt und gedankt für diesen
Sonnenschein!
Also am »Fastelabend«; es ist der Vorabend vor dem offiziellen
Fastnachtsanfang, die Generalprobe der Tollität, alle Humore frisch
aufgezogen, alle Launen im ersten Übermut entfesselt. Die Wirtshäuser
voll froher und lärmender Gäste, besonders die Weinstuben; die meisten
haben ihre kleine Hauskapelle installiert, die mit ihren nicht
immer ganz harmonischen Tönen die Stimmung anreizen soll. In einem
bekannten Restaurant der Herzoggasse hockt auch schon der »Puckel«
hoch droben auf dem Tisch mit seiner Geige, unter dem surrenden Licht
der Gaskrone. Er ist der traditionelle Kobold des Kölner Faschings;
alljährlich am Fastelabend taucht er auf. — Gott weiß, wo er sich
sonst umtreiben mag — und wird mit Halloh begrüßt: »Der Puckel ist
da, nun kann’s losgehn!« — ein seltsamer Kauz, mit einem prächtigen
Harlekinshöcker belastet, das ältliche Gesicht stets in sehr ernsten
Falten, aber desto lustiger klingt der Strich seiner Geige. Er hat
nur ein kleines Repertoir, und das Gewimmel zu seinen Füßen wird auch
nicht müde, seinen »kleinen Postillon« mitzujohlen — keine echte
Karnevalsstimmung, über die der Gassenhauer dieses Kobolds nicht
hinweggestrichen.
Wir saßen bei einem guten Tropfen an einem überfüllten Tisch. Nur
vereinzelte Masken zeigten sich, ich selbst trug mit manchen anderen
die bunte Narrenkappe (offizielles Modell, alljährlich vom »großen Rat«
festgesetzt und unter seiner Regie vertrieben). Heute galt es noch
solide zu sein, denn drei schwere Tage mit drei tollen Nächten standen
uns bevor. Aber der Übermut prickelte uns bereits wie Champagnerschaum.
Uns gegenüber, in einem Gewühl von Narrenköpfen, leuchtete etwas
gewaltig Hübsches — »alle Wetter!« stieß einer von uns vor
Verwunderung hervor. »Ein süßer Käfer!« meinte ein anderer, und er hob
den Römer voll dunkelgoldigen Rheinweins und versuchte dem reizenden
Mädchenkopf ein galantes Prosit! zu bringen — derlei ist wohl üblich.
Aber das Mädel »reagiert« nicht. Ein feines rundliches brünettes
Gesichtchen, schelmdunkle Augen, seidiges, üppiges, großwelliges
Braunhaar, das unter der leicht schiefsitzenden Narrenkappe vorquillt,
und die Lippen lächelnd geöffnet, der ganze Ausdruck ein naives
Kinderbegehren: ich will mich amüsieren! auf jeden Fall!
Also wie gesagt, ich weiß nicht, wie es geschah. Wollt’ ich mich
forscher vor den andern hervorthun? wollt’ ich ihnen zeigen, wie man
den Geboten der ersten Schutzheiligen des Karnevals, der Gelegenheit,
ohne Besinnen folgen müsse? War also aufgestanden, hatte mich von
ungefähr an das liebe Kind herangeschlichen, meinen Römer in der Hand.
Und artig, mit galanter Verbeugung gegen die Damen gewandt (denn es
waren ihrer zwei, eine ältere Duenna saß neben der Erkorenen): »Ist es
erlaubt, anzustoßen?« Das Herz pochte mir doch, als ich so dicht in
ihre Augensterne sah.
Eine kleine Überraschung ihrerseits, ein fragendes Auflächeln, dann
ergriff sie zögernd ihr Glas und hielt es gegen das meine.
»Die Schönheit!« sagte ich, fast rufend, und ich fühlte das begeisterte
Strahlen meiner Augen: »Du bist wundervoll — Du bist — Du bist —«
Die Worte versagten mir, und unsere Gläser gellten zusammen, Aug’ in
Auge, beide von so seltsamer Verwirrung ergriffen.
»Das sagen viele« — erwiderte sie lachend, »ich werd’ es wohl noch oft
zu hören bekommen.«
»So, Du glaubst mir nicht? Na wart’« — —
Der Übermut packte mich, schnell setzte ich mein Glas auf den Tisch,
nahm mit sanft zufassender Überrumpelung das Köpfchen zwischen die
Hände und preßte meine heißbebenden Lippen auf die ihren, den kleinen
wehrenden Schrei kräftig unterdrückend.
Eine ganz kurze Entrüstung; und ein flüchtiger Purpur flog über ihr
ovales Wangenrund: — »Aber mein Herr, das ist —«
»Unverschämt? Mit nichten!« fiel ich ein. »Es ist Karnevalsrecht!«
»Oho« — lachte sie. »Da könnt’ jeder kommen! Wer sind Sie? Ich kenn’
Sie nit, mein Herr! Und ich verbitt’ mir das!«
»Oho!« lachte ich dagegen. »Übrigens Du und Du! Wir tragen beide
Narrenmützen — da giebt’s kein Sie!«
Nach einem kurzen prüfenden Mustern meiner Erscheinung fuhr sie heraus:
»Sie sind ein Lieutenant!«
Es klang nicht wie eine Frage. »Zu Befehl!« antwortete ich, wichtig
aufreckend. »Woher weißt Du das?«
Sie stieß ihre Begleiterin an, beide kicherten: unendlich komisch, daß
ich glaubte, mein Zivil versteckte mich! »Das weiß man doch gleich! Ihr
seid kühner als die andern. Ihr habt was, das die andern nicht haben —«
»Das gefällt Euch eben. Auch nimmt man es uns nicht so übel, wie?«
»Ei gewiß!«
»Also keine Feindschaft?« bat ich, alle Innigkeit im Ton, den Blick
voll Begeisterung. »Darf ich Dich wiedersehn?«
Sie stutzte. »Warum nit?« meinte sie dann. »Ich versteck’ mich nit —
ich mach’ tüchtig mit.«
»Morgen abend auf dem Gürzenichball?« drängte ich, fast flehend.
»Ich mach’ alles mit, was mitzumachen ist! Ich will mich einmal tüchtig
amüsieren!« rief sie; dabei wetterte etwas wie ganz feine trotzende
Fältchen zwischen ihren dunklen stark gezeichneten Brauen. Als wenn
ihr Leben, ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft, nicht ganz auf diese
lustige Fahne gerichtet sei.
»Also morgen — mein Fräulein?« Das »Du« kam mir nun schon trivial
vor, auch fiel es mir wie eine Furcht aufs Herz, sie etwa wieder durch
meinen burschikosen Ton zu verlieren.
»Dritter Pfeiler links um die Ecke, Herr Lieutenant!« scherzte sie
schelmisch.
»Sind Sie mir bös?«
»O durchaus nit! Aber nit wieder, gelt?« Sie hob drohend den Finger,
und vor ihrem treuherzigen Kinderausdruck verschwor ich mich zu einer
feierlich-komischen Entsagung in betreff des Lippenrechtes.
Ich hob abermals das Glas und hielt es gegen das ihre. »Also morgen
auf dem Gürzenich!« Und der Übermut trieb mich von neuem: »Du bist das
Süßeste — Lieblichste ... Du bist einfach famos!«
»Du bis’ geck!« rief sie, die Zähnchen im vollen Blinken.
»Geck laß Geck elans!« die uralte Kölner Karnevalsdevise. »Das
heißt, nicht elans« — verbesserte ich mich. »Wir wollen uns nicht
vorbeischlüpfen, sondern tüchtig amüsieren.«
»Du bis’ einer!«
»Also doch — Du?«
Wieder flog das Purpur über ihre Wangen. »Ich mein’ Deine Kapp’. Aber
nun adjes!«
»Mein Fräulein! Ah so, adjes! — und Du, nicht?«
Sie nickte, und ich nickte wieder, als wären wir zwei alte Bekannte. —
Nichts leichter, als sich auf einem Kölner Karnevalsball zu verfehlen,
zumal in der weiten von Säulen getragenen Halle des altehrwürdigen
gothischen Kaufhauses, Gürzenich genannt. »Dritter Pfeiler links um
die Ecke —« hatte die Schelmin befohlen. Und Ihr hättet von der
achten bis fast in die elfte Stunde hinein an einem Pfeiler auf der
linken Saalseite eine gewisse Bauernmaske (das traditionelle Kostüm
der Kölner Garnisonherren) halten sehen können, die mit Gamaschen
bekleideten Beine übereinandergeschlagen, ein Bild des immer mehr
enttäuschten Unmuts, die Miene immer weniger passend zu dem lustig
gekräuselten Puderhaar, von dem die bäuerliche Trikotmütze tief
herabhing auf den blauen Kittel, und zu dem keck und eroberungslustig
gestreiften Schnurrbärtchen. Eine Verabredung wie eine andere! — ein
Karnevalswort bindet nicht! Doch was soll ich mich hänseln lassen
von vorbeistreifenden Masken? Was soll ich hier noch weiter Posten
stehen, während rings um mich her der Ball in ausgelassenen Wirbeln
tollt, Tanz und Lachen und ferner Gläserklang und der ganze prächtige
reich dekorierte Saal, dessen gothische Schnitzbögen mit närrischen
Emblemen behangen sind, vibrierend wie in einem Schauer unbändiger
Lebensfreude? Was soll ich mich auch nach dieser zweiten Nacht von
der Erinnerungsvision süßmagischer Augen verhexen lassen, nachdem ich
schon die vorige schlaflos in Erwartung kommender Abenteuer verwacht?
Ah bah — und ich wollte mich aufs Ungewisse in den hohen Wellenschlag
hineinstürzen.
Da tippte es mit leichtem Fächerschlag von hinterrücks auf meine
Schulter. Ein blauseidener weiblicher Domino, die Larve mit
crêmefarbener Blonde besetzt; aus den länglichen Augenschlitzen
sprühten mich dunkle Blicke an. Bekanntlich sind unter der Maske auch
die vertrautesten Augen nicht mit Sicherheit zu rekognoszieren; und
ich prüfte diese durch das Lorgnon der Leidenschaft; — sie waren es!
Hurrah! und ich hätte beinahe hell aufgejubelt.
»Du hast aber brav Schildwach’ gestanden, Herr Lieutenant —« kicherte
es unter der Blonde im verstellten Maskenfalsett.
»Gut, daß Du da bist! ich wollt’ eben meinen Posten quittieren.« Und
ich affektierte den Ärgerlichen.
»Thätst Du doch nicht — i, thätst Du nicht —« spottete das Falsett.
»Du bist wohl eben erst gekommen?« fragte ich.
»Jömich, ich tanz’ schon zwei Stunden lang. Ich hab’ Verehrer satt! (=
genug) ich hab’ Dich wohl da luxen gesehn.«
Sie wollte mich zur Eifersucht reizen; fast brachte sie es fertig. Aber
nun will ich sie fesseln und halten! Nichts fesselt in Köln ein Mädel
so sehr als ein flotter Tänzer. Und ich umfaßte sie und wirbelte mit
ihr durch das Gewühl, toll und leidenschaftlich, im Übermaß endlicher
Erfüllungsfreude.
Dann promenierten wir Arm in Arm. Sie war keck und teilte
Fächerschläge und neckische Anreden nach allen Seiten aus, zerstreut
gegen das fiebernde Gedräng meiner Leidenschaft.
»Ich hab’ den ganzen Tag an Dich gedacht —«
»Gefällig?« kam es unter der Maske zurück. Ein ironischer Sington, und
die Augen funkelten mich koboldartig an.
Und später: »Du scheinst mir ein süßes Teufelchen zu sein, wie?«
»Gefällig?«
Nicht viel Weiteres als dieser Sington. Solch maskierte Unterhaltungen
können langweilig werden; ich bat also, sie sollte sich demaskieren:
»Ich möcht’ so gern Dein liebes schönes Gesicht sehen!«
Mit hellem Spott lachte sie diesmal: »Mein liebes schönes Gesicht —
was willst Du daran sehen? Du kennst es ja. Weißt Du was — ich bin
durstig!«
Ein wenig ärgerlich führte ich sie in einen der anstoßenden Weinsäle,
wo wir uns an einem von Flaschen und Gläsern überbürdeten Tisch mitten
unter der ausgelassenen Mummerei ein enges Plätzchen eroberten.
Wir stießen mit unsern Römern an, und sie hob die Larvenblonde, um den
Glasrand an ihre Lippen zu führen, vorsichtig, fast zimperlich, damit
ich nicht eine Spur von ihrem Gesichtchen gewahrte.
»Du bist närrisch! was demaskierst Du Dich nicht! Du darfst Dich doch
sehen lassen!« polterte ich.
»Ei, so ein Ekel! Wenn ich Dir so nicht gefalle, so such’ Dir — so
such’ Dir ... Ihr Lieutenants glaubt, Ihr braucht nur zu schütteln,
damit die schönsten Äppelchens herabfallen. Prost!«
Ein Zweifel stieg in mir auf: ob sie es denn wirklich war; aber
sie hatte sich so sicher mit Andeutungen über den vorigen Abend
legitimiert. Eben stachelte mich ein Gelüst, ihr mit zugreifender
Überraschung die Maske vom Gesicht zu ziehen, da klang eine Stimme
hinter uns:
»Ei, Ihr amüsiert Euch aber famos!«
Ich wandte mich um und fuhr freudigen Stutzens zurück — sie! Ihr
liebes, schönes Gesicht, ohne Maske, schelmisch lächelnd, blinkende
Zähnchen und strahlende Augen. Es flog wie ein blanker Sonnenschein
über mich her.
Aber ich kam mir lächerlich genug vor: so war ich also zum besten
gehalten worden! Sie lachte mich aus, weil ich ihre Cousine von gestern
abend für sie selbst genommen: »Ihr Lieutenants seid doch noch nit die
Schlausten!«
»Aber Du giebst mir Revanche!« rief ich. Eben intonierte aus dem
Festsaal ein graziöser Straußwalzer.
»Anavang!« (=en avant=) rief sie übermütig. Da soeben ein Grenadier in
der Uniform der karnevalistischen Leibgarde, »Funken« genannt, meine
Pseudo-Schöne aufforderte, so konnt’ ich doppelt befreit aufschnellen.
»Anavang!« rief ich neubegeistert, und sie in meinen Arm schmiegend,
schwebte ich mit ihr, von den Strauß’schen Rythmen gewiegt, durch den
Saal.
»Ach wie süß — ach wie schön — das ist Wonne — das ist Le—ben,«
trällerte sie während des Tanzens den bekannten Walzertext.
Dann hielten wir hochatmend. Aber ich mußte ihr meine unbändige Freude
ausdrücken:
»Ich hab’ den ganzen Tag an Dich gedacht!«
»Das haben Sie der andern schon gesagt —« lachte sie.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß alles. Das heißt, ich kann mir’s denken. Ihr Leutnants sagt
so ziemlich all’ dasselbe.«
»Muß ich mir doch sehr ausbitten! Übrigens duld’ ich jetzt kein ›Sie‹
mehr!«
»Sie fingen ja selber an, Herr Leutnant.«
»Nun laß’ Dich ich nicht mehr! Heut’ nicht und morgen ...«
»Oho, nimm gleich ein Abonnement! Morgen ist ja gleich. Es ist zwölf
Uhr.«
»Dem Glücklichen schlägt ...«
»Keine Stunde — du bist geistreich. Was weißt du, ob ich glücklich
bin?«
»Du gefällst mir, und ich — und ich —«
»Dir!? — oho!«
»Sonst hättest du mir doch nicht das =tête-à-tête= vorhin gestört.«
»Ich will mich amüsieren, weiter nichts! Ich hab mich ferm dazu
engagiert. Ich hab’ es versprochen. Ich will, ich muß! Drei Tage heidi
— heida! Ich will, ich muß! Dann meinetwegen kann kommen, was will —«
Zwischen ihren Brauen war wieder das Gewetter feinzuckender Fältchen.
»Ich will! ich muß!« Und ihr Füßchen, bis zum Knöchel nur von dem
buntbesetzten Phantasieröckchen bekleidet, stapfte trotzig auf.
»So, also nur aus Prinzip?«
»Frag’ mich nit! Laß uns lustig sein! Und weil du mir gefällst, —
=bon=, so wollen wir uns zusammen amüsieren!«
»Ich lieb’ Dich! Du bist das Süßeste, Herrlichste ...«
»Bis’ still! bis’ still! Sei nit närrisch! Sie kennen mich ja nit —«
kicherte sie. »Ich bin schlimm. Und für den Moment bin ich durstig!«
An der hinteren Schmalseite des Saales, auf der Stufenestrade unter der
großen Konzertorgel standen kleine runde Tischchen =à deux=, und wir
gewannen ein solches im Wettkampf mit anderen isolierlustigen Paaren.
Ein köstlicher Sitz. Unter uns, vor uns das hüpfende, stampfende,
wimmelnde Gewühl des tanzenden Saales. Buntes und Flimmerndes
durcheinander huschend, Farben und Lichter in einem bläulichen
Staubdunst verhauchend. Wir sind glücklich gerettet aus der närrischen
Brandung, die dort unten wogt, so kommt es uns vor, und, so sitzend
und plaudernd, Aug in Auge, und mit tüchtigen, balldurstigen Schlucken
den prächtigen Wein schlürfend, fühlen wir uns so wunderschön geborgen
hier oben; selbst die Musik will uns nicht zu oft hinablocken. Nicht
als ob wir uns so Wichtiges mitzuteilen hätten. Wir hatten Wohlgefallen
aneinander — wir gehörten zu einander, für diesen Karneval wenigstens,
und dies Gefühl hielt uns zu einander gefesselt wie eine stumme
Absprache. Ein Gelüst wollte mir vorgaukeln: auf viel länger vielleicht
... Ach, du fröhliche, ach du selige Jugendzeit! Ach du wundervolles
Schmetterlingsrecht, das zwei junge Menschenkinder, die sich auf einem
schimmernden Blumenkelch zufällig getroffen, auf ein Eintags-Mein-Dein
zusammenschwören heißt — gegen das blöddumme Vorurteil, das überall
Verderbnis wittert!
Sie sah reizend aus. Ein mit Gold und Flitter besetztes altdeutsches
Häubchen, das ihr dunkles Wellenhaar nur schwer bändigte, kleidete sie
entzückend. Es war keine ausgesprochene Charaktertracht, gleichsam
aus dem Stegreif zusammengesetzt, wie es im ersten Hinhalten vor
dem Spiegel kleidete. Der Hals, weiß und marmorn fest, bis zu den
halben Schultern entblößt. Wie das Köpfchen sich auf diese elastische
Halsrundung setzte! und ihre Taille, welch eine reizvolle Verbindung
üppiger Jugendblüte mit zarter schlanker Grazie! Das Leutenantsblut
ließ mir keine Ruhe, und ich fiel von Zeit zu Zeit immer wieder in die
Banalität von Begeisterungsrufen.
Zuletzt wehrte sie mir mit einer Miene, über die ein Schatten fast
dunkelkühl daherstrich. Traurig, nicht ernstlich, wie ein Bitten, das
aus ihrem Herzen kam:
»Sag’, willst du mir versprechen, keine Komplimente zu machen?«
»Es sind keine! Mir ist so, ich kann nicht anders! Du hast mich
verhext!«
»Nicht! Nicht! Nicht! Erst recht nichts davon!« rief sie. Aber der
Glanz ihrer Augen war verräterisch süßer als alle Erwiderung.
Dann die Arme aufstemmend und die Hände zusammengefaltet über dem
Römer, sagte sie tonlos traurig: »Du sollst nit denken — — na du
sollst mich nit falsch vertaxieren. Weil ich so fix ja! sagt’ und nun
nit die Courag’ hab’ nein! zu sagen und adjes!«
»Wie ich schon müßt’ —« fügte sie mit einem Seufzer hinzu.
»Du darfst nicht, ich laß Dich nicht!«
»O, nit so! — Soll ich dir beichten? Dann kannst du mich taxieren!«
Was war zu taxieren? Ein Kölner Mädchen, das, wie viele, zum Karneval,
die unwiderstehliche Lust ergreift, auszufliegen, über den Einspruch
der Fraubasen und die im ganzen übrigen deutschen Reich herkömmliche
Spießbürger-Moral hinweg. Beileibe kein voreilig Urteil! An ihrem
Halse hing als Zeichen gut bürgerlicher Solidität eine altertümliche
Korallenkette von schweren Perlen, und an einem Finger ihrer übrigens
weißen wohlgeformten, obgleich nicht zu kleinen Hände blitzte sogar ein
nicht ganz wertloser Saphir.
»Laß hören!«
»Zuvor machen wir einen Kontrakt. Du darfst mir nit bös sein! Ich red’
frei heraus. Ich thät’ auch gegen niemand sonst so reden.«
»Ich dank’ Dir — ich bin stolz und glücklich!«
»Laß das Geschreppels — und die Händ’ weg!« Mit einem Schlag fuhr sie
mir über die Hand, die stürmisch nach den ihren gegriffen.
»Also machst Du morgen mit? Ich geh’ zum Ball auf den Geistensterz.«
(Ein bekannter Konzertsaal.)
»Natürlich mach’ ich mit. Überall hin!«
»Nit so stracks! Ich halt’ Dich beim Wort. Übermorgen — wart, ah so
übermorgen: Theaterball und — und — sei mir nit bös, ich möcht’
nachdem auch noch den Kehraus hier im Gürzenich mitmachen —«
»Herrlich!«
»Auch möcht’ ich — — wenn du wüßtest, du thät’st mir’s nit übel
nehmen. Es is wahrhaftig nit wegen der paar Austern, die ich nit mal
mag und dem Sekt (sie sprach kölnisch »Zeck«). Zeck giebt’s auch bei
uns daheim. Aber ich möcht’ gern einmal beim Bettger in der Budengasse
soupieren — mit Dir!«
»Gern, gern — famos!« rief ich überglücklich.
Für meine karge Lieutenantskasse ein etwas starkes Programm, aber
sie war noch lange nicht zu Ende. Die Naivität amüsierte mich
köstlich. Jetzt erst schien sie Mut zu bekommen; wie ein Kind in der
Weihnachtslaune, das immer kühner zugreift nach allen glitzernden
Dingen, brachte sie immer noch Wünsche vor. Sie hatte so viel schon von
den Faschingsdiners im Viktoriahotel gehört, wo man bei Musik und unter
lauter Narrensleuten so »deliziös schnabuliert.«
»Morgen nach dem großen Karnevalszug dinieren wir also in Viktoria —«
stimmte ich freudig ein.
»Den Zug sehen wir zusammen —«
»Selbstverständlich!«
Dann gelüstete es sie, eine von den berühmten »Kaffeevisiten« bei
Mosler, Obenmarspforten, kennen zu lernen, wo die eleganteste Kölner
Welt unter solcher Spießbürgerdevise den Sekt schäumen läßt.
Auch das! Ich würde bei denen aus der Gesellschaft mit meinem
Faschingsbräutchen nur Staat machen, meinte ich für mich.
Natürlich würden wir uns am Faschingsdienstag früh zu einer
Spezialrevue (Spezial = ein Kölner Weinmaß) in einem der ersten
Restaurants einstellen. U. s. w. u. s. w. Ich mußte zuletzt hellauf
lachen. »Schad’ —« rief ich, »daß es nicht ein paar Wochen so weiter
geht! Du bist famos!«
Sie stutzte ein wenig, gleich aber steifte sie sich auf ihren Kontrakt.
Sie hätte einen ähnlichen daheim abgeschlossen. »Ich bin frei — frei
— frei!« Ein Jubel, der in diesem Augenblick etwas gezwungen herauskam.
»Hoffentlich fährt mir der Dienst nicht störend dazwischen —«
antwortete ich.
»Du mußt! Sonst such’ ich mir — —«
Doch nicht einen andern? Es fiel mir heiß aufs Herz: die Eifersucht!
Nein, das darf nicht sein! Sie ist mein — und kein anderer soll es
wagen ... Zugleich aber eine geheime Frage: was ist sie doch für eine
süße kleine Teufelin?
Sie fühlte die Notwendigkeit, mich ein wenig aufzuklären. Und wieder
die Hände über dem Glase gefaltet, mit dem treuherzigen Ausdruck ihrer
braunen Kinderaugen beichtete sie.
»Du sollst nit schlecht denken von mir. Hat alles seine Richtigkeit.
Ich bin nit desertiert von uns aus. Urlaub, Urlaub freiweg von Anfang
des Fastelabends bis zum End’. Es ist meinen Leut’, meinem Vatter und
meiner Mutter, gewiß nit recht — was wollen sie aber machen, sie
müssen! Muß ich nit auch, wie sie wollen? — ich hab’ mich lang’ genug
gewehrt. Wenn du wüßtest! Aber du sollst nit! Ich will uns die Laun’
nit verderben, heut’ nit und morgen nit. Übermorgen, am Aschermittwoch
ist alles aus!«
»Mit uns?«
Ich muß erblaßt sein vor Überraschung. »Sag’ das nicht — ich laß nicht
von dir ....« stammelte ich, die Augen lodernd vor Leidenschaft.
»Aus — Alles aus!« hauchte sie hin.
Sie entfaltete die Hände und führte sie gegen das Antlitz. Ein Seufzer
hob ihre junge Brust. Dann die Hände wieder senkend: »Ach, laß uns die
Freud’ nit verderben!« rief sie aus, innig lächelnd. »Siehst du, damit
wir klar sind, so ist es: gut, hab’ ich meinen Leut’ gesagt, ich will
euch euren Willen thun! Ich will artig sein und ich will ...«
Sie stutzte, kämpfte noch mit sich. Dann aufschnellend und das Köpfchen
resolut schüttelnd: »Ach was, nix davon! Allo (= allons), denk’, mein
Vatter und meine Mutter hätten recht, ich aber auch, compris? Laß dir
genug sein; ich hab’ also meinen Kontrakt mit unsern Leut’ gemacht:
laßt mich laufen, laßt mich fliegen, wohin ich fliegen will, diesen
Karneval noch, dann will ich ... was wollen sie machen? — und da
bin ich! Die Cousine die sollt’ Schildwacht stehn. Wir schaffen die
Schildwacht aber ab, gelt? Ich will ganz frei sein! Ich will mich
amüsieren — ich muß — muß — muß! Und nun komm, sitz nit da wie ein
steinerner Mann. Komm, laß uns tanzen!«
Gleich darauf flog und wirbelte und raste ich mit ihr durch den Saal,
ein Geheiß, mich das eben gehörte Geständnis vergessen zu machen
im süßen klammernden Besitz des Augenblicks. Was für ein Rätsel?
Anderwärts wird man es nicht leicht verstehen: ihre Eltern wollen sie
überreden, sie zwingen zu einer Unseligkeit, gut, so stellt sie ihnen
die Bedingung dieser absoluten Karnevalsfreiheit! Und nachdem: — aus,
alles aus ...
Nein, nicht aus! Ich will sie halten! Ich werde sie nicht lassen! Als
wäre es meine eigene kostbare Jugend, die mir jemand rauben will ...
Der Morgen nebelte grau in den feucht überdunsteten Gassen, als wir den
Heimweg antraten. Sie duldete nur eine Begleitung bis an die Grenze
ihres Stadtreviers; am Rheinhafen, nicht weit von der kleinen, in
dichten Häusermassen versteckten Kirche »Sankt Maria im Elend,« ihrer
Pfarrkirche, bog sie in eine der breiteren Gassen ein. »Bleib, das sag
ich Dir! Sonst komm’ ich nit wieder! Adjes!«
»Schlaf wohl, Du Einzige!«
»Psch!« — den Finger auf den Lippen, nickte sie mir noch einmal
zu, und ich stand und sah ihre liebliche Gestalt im Nebelgrau der
Morgendämmerung verschwinden. Ich hörte den in Köln noch vielfach
gebräuchlichen Thürklopfer hallen. Dann trat auch ich meinen Weg nach
Hause an. Es war hohe Zeit; als ich in Deutz ankam, regte es sich
schon in der Kaserne zum Dienst. Und schnell den Puder aus den Haaren
gebürstet, und eilig in die Uniform geschlüpft, da rief auch schon das
Signal zum »Eins-zwei! Eins-zwei!« des Rekrutendrills. —
Wir hielten Kontrakt und Programm inne mit echt kölnisch
karnevalistischer Zähigkeit: Rosenmontagszug und Viktoria-Diner und
Geistensterz-Ball und Bettger, Gürzenich, Moser, alles, keine Nummer
ausgelassen, keine Müdigkeit, kein Überdruß! Ah, es galt die Zeit
mit klammernden Armen festzubannen, die Zeit, und das Glück und die
Hoffnung — ja auch die! Im Rausch der frohlaunigen Stunden flog mich
zuweilen der Gedanke an die Schmetterlingsflüchtigkeit unserer Liebe
an. Sie aber bannte den Schatten jedesmal durch ihr Lächeln, durch den
glanzvollen Zauber ihres Blickes: — »Es ist ja noch lange hin! Geh,
wir haben keine Zeit, Raupen zu fangen! Anavang!«
Gewiß hatten wir keine Zeit zu Grillen: der Kölner Karneval fordert
seine Getreuen mit allen Kräften zur Sache. Auf jene rätselhafte dunkle
Wolke, die über unserm Glücke schwebte, wurde nur von fern hingedeutet:
sie wollte sich keine drei Minuten der kostbaren Gegenwart dadurch
verderben lassen. Aber auch nicht an unsere Liebe gerührt: Und sie war
so ängstlich: als könnte ein unbedachtes oder zu kühnes Wort den zarten
Zauber verwehen.
»Drückchen — ach Drückchen —«
»Was ist? Was hast Du? Komm, laß uns tanzen!« Oder sie hielt mir das
Glas hin, um mit mir anzustoßen, und ihre Zähne lachten schelmisch über
den Rand der Gläser. —
Doch das Programm wurde immer kleiner — wie ein neidischer Wirbelwind,
der daherfuhr und die flüchtigen Stunden hinwegfegte. Jetzt das
letzte Rendez-vous; jetzt der letzte Gläserklang; jetzt der letzte
Galopp, dahinrasend wie in der Verzweiflung des Abschiedswehes durch
die bereits gelichtete Bahn des großen Gürzenichsaales; jetzt häng’
ich ihr das Mäntelchen um in der Garderobe — noch einmal wendet sie
ihr Köpfchen nach dem vom bläulichen Staubdunst erfüllten Festraum,
den die Gasflammen mit übermüdet gelbem Licht nur noch melancholisch
erhellen. »Adjes ...« haucht es tonlos von ihren Lippen, während sie
nach dem Tummelplatz ihres kurzen Glückes hinüberwinkt. Ich meinte ein
flimmerndes Zittern in ihren Augen zu spüren. Und langsam, Arm in Arm,
stiegen wir die breiten Steinstufen hinab, ohne ein Wort, das Herz von
Weh geschwellt.
Der Morgen wehte kühl; während wir die Gassen dahinschritten, strichen
uns scharfe Schneekrystalle schräg ins Gesicht. Noch war der Karneval
wach; aus erleuchteten Lokalen drang weinheiserer Lärm, fern und nah;
die Gassen und Plätze von dem letzten übermütigen Gejohl des Kehraus
erfüllt; vermummte Masken zogen daher, noch gab es scherzhafte Anreden,
noch klingelten Schellenkappen, noch sahen wir Gäste einkehren zum
allerletzten Trunk, nach dem letzten. Aber über der ausklingenden
Faschingslust summte und dröhnte schon mahnender Glockenklang: die
Kirche rief zur Buße nach der heidnischen Tollheit, und zwischen den
Masken huschten Kirchgänger daher, die es danach verlangte, sich
vor dem Altar das graue Bußkreuz des Aschermittwochs auf die Stirne
zeichnen zu lassen.
Unsere Schritte wurden immer zögernder, je näher wir dem Hafen kamen,
wo, wie üblich, die Trennung stattfand. Wie ich so im Dahinschreiten
die Wärme ihres innig angeschmiegten jungen Körpers an dem meinen
fühlte, wie unsere Augen im stummen leidenschaftlichen Geständnis in
einander tauchten, stachelte mich ein Trotz: Liebe ist souverän! Sie
hat zu gebieten! Was schert uns eine Elternmarotte ....
»Weißt du was« — sagte ich, und meine Stimme bebte vor Erregung. »Am
Freitag wollen wir uns wiedersehn! Oder am Sonntag, wenn Du willst.
Morgen wird ausgeschlafen — aber am Freitag ... Ich laß’ dich nicht,
Drückchen!«
Sie wiegte langsam das Köpfchen und schaute mit flehendem Ausdruck zu
mir empor.
»Was sind das denn für Dummheiten?!« — In meinem Zorn fuhr es mir
heraus.
»Ich will Dir alles sagen, g’rad heraus —« flüsterte sie, »nur jetzt
noch nit — da draußen!«
Sie wies auf die Hafenmauer, wo durch das geöffnete Thor die Rheinweite
durch den streichenden Schnee herüberdämmerte.
»Es ist so, wie ich Dir sagte —« sie zwang sich absichtlich zu einem
reineren Hochdeutsch — »ich weiß, was ich thue, und ich habe nicht nur
kokettiert mit meinem Schicksal, jammern thu’ ich auch nicht. Kontrakt
ist Kontrakt. Heute früh geh’ ich nach Maria im Elend und laß mir ein
Kreuz hier auf die Stirn malen. Ich habe zwar kein Verbrechen begangen.
Ich kann alles beichten. Ich bin ein Kölner Mädchen, und ich hätte
können mein Leben lassen für diesen einen Karneval. Jetzt erst recht,
da ich Dich getroffen —«
»Du Liebe, Liebe, Einzige ...«
»Psch! —« wehmüthig lächelte sie. Und wir schritten über die
Hafenbrücke nach dem Thore zu.
Es war eine rauhe winterliche Scenerie. Der Rhein ging mit Eis, auf
der graugrün flutenden Wasserweite schoben die Eisschollen, mit
schmutziggrauem Schnee bedeckt, stromab, hie und da wie drängend im
wilden Ingrimm, und dann wurde das eintönige Geräusch des Wassers
überschallt von dem metallischen Aufeinanderprallen der Schollen
und dem splitternden Geknirsch. Drüben am andern Ufer, undeutlich
schwankend in dem schrägen Schneetreiben, dämmerte die flache
Silhouette von Deutz, die Bäume und Häuser von der Überflutung
gleichsam halb versenkt unter den Horizont.
Nach ein paar Schritten hielt sie plötzlich. »Du, nun will ich Dir’s
sagen. Ich heirat’ — ich muß!«
Ich prallte zurück aus ihrem Arm, obgleich ich doch dergleichen ahnen
mußte.
»Ich hab’ mich lang genug gewehrt dagegen. Aber es ist das beste schon
— eine gute Partie. Seine Eltern und meine wünschen es. Ich hab’ mich
lang gewehrt. Er ist ein braver Mann, ich werde es gut haben. Aber ...«
Hier stockte ihre Stimme. »Ich muß weg von Köln« — fuhr sie dann
fort — »weißt Du, was das bedeutet für ein Kölner Mädchen? Ich komme
nach C. (ein kleines Landstädtchen an der westfälischen Grenze). Ich
werd’ es gut kriegen — ein schönes Geschäft, und meine Eltern sind
glücklich. Aber ...«
Wieder eine kurze Stockung. Leiser fuhr sie fort:
»Es war gut, daß ich Dich nicht kannte, als ich endlich »ja« sagte und
den Kontrakt wegen des Karnevals mit meinen Leuten abschloß. Sonst
hätt’ ich nein! gesagt. Ich hab’ niemand lieb gehabt vor Dir. Auch
geschieht — ihm schon kein Unrecht. Ich werd’ ihm treu sein, er hat
nichts zu fürchten. Ich bin ein Kölner Mädchen, was kann ich dafür? —
Und nun sag’ ich Dir Dank für den schönen Karneval! Leb’ wohl und denk
auch ein wenig an mich. Besonders am nächsten Karneval ...«
Wie von verhaltenen Thränen vibrierten ihre Worte.
»Du liebes, liebes herziges Lieb!« Stürmisch umfing ich sie. Und sie
wehrte nicht.
Lächelnd, während zwei Thränen über ihre Wangen glitten, sagte sie!
»Ich bin Dir schuldig. Den Kuß vom Fastelabend — Da!«
Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und küßte mich mit inniger
Heftigkeit.
Dann: »Jetzt is Zeit! Vergiß mich. Leb’ wohl!«
»Nie vergeß’ ich Dich, Drückchen, — nie!« rief ich.
»Du bist ein Leutnant — ich nehm’ Dir’s nit übel. Aber ich — ich
denk’ an Dich! Adjes!«
Sie reichte mir die Hand. »Nun gehst Du hier außen, ich gehe innen an
der Mauer. Ich bitt’ Dich, laß es uns nit zu schwer machen, laß die
Mauer zwischen uns sein.... Und nun Anavang!«
»Drückchen, liebes Drückchen!«
Aber nichts als das streifende Schneewehen und die melancholische Weite
der von Schollen bedeckten Rheinflut. Sie war verschwunden. —
Auf einem Umwege über die feste Rheinbrücke, denn die Schiffbrücke war
des Eisgangs wegen ausgefahren, gewann ich Deutz. Hier bliesen schon
die Signale zum Dienst, und schnell den Puder aus den Haaren gebürstet,
und schnell in die Uniform geschlüpft — »Eins-zwei! Eins-zwei! ...«
Ich habe mein herziges Faschingslieb nicht wieder gesehn, so viel ich
in meiner thörichten Sehnsuchtshoffnung nach ihr spähte. Viele Sonntage
lang fand ich mich in Sankt Maria im Elend zur Messe ein — vergeblich!
Aus — alles aus! Wie sie gelobt.
Und das brutale »Eins-zwei! Eins-zwei!« des Lebens fuhr auslöschend
auch über diesen Liebestraum.
Der Tellsschuss
[Illustration]
Ein Beben der Spannung rieselte über den dichtgefüllten Saal, als die
Geschworenen nun endlich nach langem Harren hereintraten, um ihr Votum
abzugeben.
Der Angeklagte erhob sich in seinem Verschlag, aber jedermann wußte,
daß dies nicht aus Erregung geschah — Erregung bei einem Miska
O’Brell, dem berühmtesten Kunstschützen diesseits und jenseits des
Meeres, der euch mit seiner Pistole das As in der Karte auf 30 Schritte
herausschoß! Hoch aufgerichtet stand er da, eine Statue der Kraft und
der Energie, das wie in Bronze getriebene Gesicht etwas seitwärts
gewandt, an der Loge der Geschworenen vorbei, als hielte er es nicht
für gut, daß die braven, behäbigen Biedermänner dort seinem direkten
Blicke ausgesetzt würden.
»Er hat ein paar Augen, man meint, sie müßten jeden Augenblick mit
einem Knall losschießen —« hieß es im Publikum.
»Ein so schöner Mann —« kam es beklommen von Damenlippen.
»Aber seine Frau, die er getötet, war nicht minder schön —«
»Getötet — wie das klingt! Es war doch nur ein unglücklicher
Fehlschuß!«
»Er wär’ es aber wohl im stande gewesen!«
»Geht das Gericht doch nichts an! — na, wir werden ja sehn!«
»Psch!«
Die sonore Stimme des Gerichtspräsidenten hallte durch die auch nicht
von dem leisesten Knistern belebte Stille; in der Hand des Obmanns der
Geschworenen sah man den Zettel, auf dem das Resultat der Beratung
stand, deutlich zittern.
Viele, die jetzt als Zuschauer der Scene beiwohnten, waren vor
Monaten auch Zeugen der erschütternden That gewesen, und jetzt in der
atembeklemmenden Stille stand das Ereignis wieder vor ihnen.
Kapitän Miska O’Brell war seit Wochen die glänzendste Spezialität
des »Eldorado« gewesen; seine Leistungen wirkten verblüffend auf den
Laien wie auf den Kenner; um so eifriger drängte man sich zu der
Produktion, als sein Weib dabei eine gefahrvolle Rolle zu spielen
hatte — und dies Weib war schön und liebreizend. Noch haften auf
einzelnen Anschlagsäulen die bunten Reklamezettel, die ihr Porträt
neben dem ihres Gatten zeigen: ein süßes, fast kinderartiges Gesicht,
von blonden Locken umrahmt, naiv lächelnd, als wollte es die Zuschauer
beruhigen: »O, auf meinen Miska ist vollkommen Verlaß, er wird mich
nicht treffen!«
Dasselbe naive Lächeln verließ ihr Antlitz nicht während der ganzen
Vorstellung wenn sie ihm die Büchsen und Pistolen laden half, ihm die
Glasbälle im Bogen hinwarf oder den Stab mit den aufgesteckten Karten
als Scheibe emporhielt, auch zuletzt nicht, da sie ihren eignen Kopf
minutenlang zu dem berühmten Tellsschuß darbieten mußte.
Ein grelles elektrisches Licht traf die Bühne, und auf der
ausgespannten, von den Schüssen durchlöcherten Leinwand, die als
Kugelfang diente, hoben sich um so schärfer die beiden prächtigen
Gestalten ab, glitzernd in ihren goldgestickten und mit Flittern
besetzten spanischen Anzügen.
Knall auf Knall und Bravo! auf Bravo! Jetzt ein As, jetzt die Sterne
einer Coeur-Fünf, sogar die liniendünne Schnittfläche einer Karte,
gleich spielend leicht und maschinenmäßig sicher mit der Büchse wie mit
der Pistole; jetzt, unter dem rauschenden Applaus des Hauses richtet er
aus gewöhnlichen Taschenrevolvern ein Schnellfeuer auf umherwirbelnde
Glaskugeln. Und das scharfe Geknatter reizt noch die Begeisterung;
jetzt schleudert er sich selbst die Kugeln, um sie auch dann noch und
sogar mit der Büchse zu zerschmettern. Ein Teufelskerl! Und welche
Freude sie selbst an seinen Wunderstückchen empfindet! — kaum vermag
sie die kleinen rundlichen Hände, die von Brillantringen funkeln,
an sich zu halten, damit sie nicht in den Beifall des Publikums mit
einstimmt. Gewiß ist ihr Miska ein Prachtkerl! Aber ihr sollt gleich
die Capitainin sehen, daß ich ihm an Kaltblütigkeit nicht nachstehe!
Holla, ich bin seiner würdig ....
Von einem Diener wird ein Pfahl hereingebracht und in die Mitte vor die
Leinwand gestellt. Der Pfahl endigt in einer mit grünem Tuche bezogenen
Scheibe zum Anlehnen des Kopfes. Jetzt, nach einem Mittelding von
Verbeugung und backfischartigem Knix gegen das Publikum hin, sieht man
Madame O’Brell auf den Pfahl hineilen und sich daran zurechtstellen.
Der Kapitän schreitet ebenfalls darauf los und entnimmt einer Schachtel
kleine, goldig schimmernde Sterne, die er einzeln an der grünen Scheibe
befestigt, kaum daß ein schmaler. Streif zwischen dem Sternenkranz
und dem seidigen Gelock ihres Haares verbleibt. Es gleicht einem
Glorienschein, und der Reflex der Sterne schillert goldig über ihr
Antlitz — ein köstlicher Effekt. Sie sieht bezaubernd aus mit diesem
seltsamen Schmuck, und sie weiß es! Ihr blühendes Gesichtchen lächelt
lieblich, und als Dank für das Gemurmel der Bewunderung, das sich
über die Menge verbreitet, hebt sie langsam die Hand gegen die Lippen
und sendet einen jener artistenmäßigen Handküsse hinab — den Kopf
selbst darf sie ja nicht regen, denn schon steht ihr Miska in Positur,
die Pistole in der Hand, ein Tischchen neben sich, auf dem noch mehr
solcher Pistolen ruhen.
Was? Er wird doch nicht ...
Gewiß das! — seine Bravourleistung: er wird Stück für Stück und der
Reihe nach von links nach rechts die Sterne rings um das Haupt seines
Weibes herabschießen!
Unmöglich! Das ist ja — das ist ja verbrecherisch! Ein leises Zucken
der Hand, welche die Pistole hält — und statt einer Kugel ist der
lächelnde Kopf getroffen! Da sollte doch die Polizei sich ins Mittel
legen!
Sie hatte diesen Teil der Produktion ja auch beanstanden wollen,
aber Madame hatte die Hochlöbliche selber ausgelacht; eher fällt der
Mond vom Himmel, als daß ihr Miska mit seinen Geschossen um eine
Haaresbreite vom Ziele abweicht!
Atembeklemmende Spannung vom Parterre bis in die höchsten Ränge hinauf;
jede Regung scheint zu stocken in dem weiten Raum, und die Blicke der
mehreren Tausend sind wie hingebannt nach dem lächelnden Kopf mit
seiner Gloriole. Einzelne Frauen halten sich die Augen, sie wollen und
können das Grausige nicht mit ansehen: was für ein Ungeheuer ist er
denn ...
Der erste Schuß knallt, und um den Lockenkopf stieben die Stücke des
getroffenen Sternes — das Lächeln aber bleibt unverändert, auch wurde
durch die Gläser festgestellt, daß kein Wimperchen in dem Antlitz sich
geregt. Welch ein Weib!
Und ein ungeheures Hallo löst die angstvolle Spannung. Von dem
brausenden und donnernden Applaus begleitet, giebt jetzt der Kapitän
Schuß um Schuß, wie berauscht von dem Beifall — um seines Weibes Kopf
wirbeln die Sternfetzen, blitzend in dem elektrischen Licht wie ein
Sprühfeuer.
Schneller und schneller, mit einer unheimlichen, fieberhaften Hast
folgen die Schüsse — der Saal ist außer sich vor Erregung — es fehlen
nur noch drei, vier Sterne, dann ist das lächelnde Opfer erlöst aus
seiner grausig gefahrvollen Stellung!
Plötzlich gellt ein heller, scharfer Schrei durch das Haus — das ist
keiner der Angstschreie, wie sie vorhin aus der Mitte des Publikums von
Weiberlippen kamen ...
Durch den wallenden Pulverdampf sieht man auf der Bühne etwas zu Boden
schlagen und sich zuckend darauf winden — — der Pfahl ist leer! — es
ist die Frau, — Miska O’Brells Frau!
Wenige Sekunden der allseitigen Lähmung — den Tausenden im Saale
stockt das Herz vor Entsetzen — dann folgen auf den Todesschrei
dort auf der Bühne andere Schreie hier im Hause — Frauen sinken in
Ohnmacht — Rufe, Flüche — alles fährt auf, ein ungeheurer Tumult. —
Mitten in diesem Aufruhr hält der Kunstschütze regungslos, die Pistole
in der gesenkten Rechten, die Augen starr auf den zuckenden und
winselnden Körper seines Weibes gerichtet. »Wie war das möglich?«
fragen seine stieren Blicke.
Später wurde erzählt, man habe, ehe der Kapitän auf das Opfer seiner
unseligen Kunst hinstürzte, eine kurze Bewegung an ihm bemerkt, ein
schnelles, kurzes Heben der Pistole, als wollte er die gegen die eigne
Stirn setzen ....
Vier Tage darauf ward die »Künstlerin« unter einem Andrang, wie er
nur berühmten Persönlichkeiten zu teil wird, zu Grabe getragen. Es
war keine Rettung möglich, das Geschoß hatte sie mitten in die Stirn
getroffen. Der Gatte fehlte als Leidtragender; das Gesetz mußte, wenn
auch mit Achselzucken, seine Schuldigkeit thun und die Haft über ihn
verhängen.
Es war ein Sensationsfall, der so bald nicht von dem Tagesklatsch
abgesetzt wurde. Selbstverständlich trägt die Schuld an dem furchtbaren
Unglück die Polizei! — sie durfte solches nicht gestatten! eine
Versuchung Gottes! Aber das Bedauern, das man dem Schützen zuwandte,
war nur ein halbes: was ist er denn für ein Unmensch, der um des
häßlichen Mammons willen das Haupt seines Weibes Abend für Abend
solcher Gefahr aussetzt!
Die Ahndung, mit der das Gesetz den Unseligen treffen würde, konnte
nur ein geringes Strafmaß sein. Es konnte nur fahrlässige Tötung
in Betracht kommen — vielleicht würde auf völlige Freisprechung
erkannt werden, denn da die Öffentlichkeit das Spielen mit solcher
handgreiflichen Gefahr zuließ, so durfte ihn keine Schuld treffen, wenn
der Lauf der Pistole in seiner Hand eine Haarbreite aus der Richtung
glitt.
Das Publikum selbst, das sensationsgierige Ungeheuer, ist schuld an
dieser Unseligkeit!
Und in solchem Sinne hatte der Verteidiger, ein junger talentvoller
Streber, eine leichte und dankbare Aufgabe, die ihm billige Gelegenheit
zu einem rhetorischen Effektstück gab.
Selbstverständlich wurde die Frage, ob Miska O’Brell schuldig befunden
werde, seine Frau Rosita O’Brell vorsätzlich getötet zu haben, nur der
Form wegen mit einem »Nein« des Obmanns beantwortet. Welch ein Unding,
solches anzunehmen!
Aber auch die Fahrlässigkeit wurde verneint. Die Geschworenen mußten
dieselbe Folgerung gezogen haben wie die Masse des Publikums; Gründe
hatten sie ja nicht anzugeben.
So erfolgte also vom Richtertische aus das Urteil der Freisprechung;
fast hätten die Zuschauer applaudiert, aber man war doch in betreff
des Schaustückes, das man hier erwartet hatte, etwas enttäuscht. Miska
O’Brell machte nicht die geringste Scene, sein bronzenes Gesicht
empfing das Urteil mit der metallischsten Ruhe, und kein Glied regte
sich an der mächtigen Gestalt.
Er ist dennoch ein fühlloser Mensch .... Artistenpack!
Nur einige Gläser wollten bemerkt haben, wie jetzt, als er festen
Schrittes durch die geöffnete Schranke trat, eine tiefe wulstige Falte
mitten auf seiner Stirn erzitterte. Und so, den halbverhüllten Blick
seiner dunklen Augen wie verachtend über die Köpfe der aufgeregten
Zuschauermasse gerichtet, schritt er hinaus in die Freiheit. —
Miska O’Brell pflegte an den Orten, wo er längere Zeit auftrat,
seine Einnahmen dadurch zu vermehren, daß er an sportlustige Herren
Unterweisung im Kunstschießen erteilte und dabei die Benutzung seiner
vorzüglichen Schießwaffen gestattete. Ich durfte mich vierzehn Tage
ebenfalls zu seinen Schülern rechnen, wobei ich gestehen will, daß
mich nicht am wenigsten die Unterhaltung mit dem vielgereisten Manne
fesselte, der durch alle Arten Abenteuer gestreift war. Zuweilen wurde
er durch seine Frau sekundiert, wenn der Gehilfe nicht ausreichte.
Doch schien der Kapitän scharf darüber zu wachen, daß der Verkehr
Rositas mit einigen leicht in Flammen zu setzenden oder sich für
unwiderstehlich haltenden Dandies unsers Kreises nicht zu lebhaft
wurde. Daß ihn der Eifersuchtsteufel plagte, darüber waren wir
einig, auch mochte er alle Ursache dazu haben, denn die reizende
Blondine, deren Lächeln auch außerhalb der Bühne nichts von seinem
Zauber einbüßte, war nicht ganz frei von gewissen versteckten
Kokettierungslisten. Ihre wunderbaren Augen hatten es uns allen mehr
oder weniger angethan. Freilich ward unsere Bewunderung fort und fort
in ihre Schranken zurückgedrängt durch seine überwachenden Blicke,
und daß er schärfer als andere sah, das bezeugte seine unübertroffene
Meisterschaft als Schütze. Daß er aber auch sehr wohl im stande wäre,
eine der Waffen vom Tisch zu nehmen und sie auf einen von uns zu
richten, wenn seine Eifersucht zu stark gereizt würde, darüber waren
wir einig.
Die O’Brells waren Deutsche trotz des internationalen Mischmasches
ihrer Namen, die wohl des besseren Effekts wegen angenommen waren. Er
machte in seinen Erzählungen, die über alle Meere hinübersprangen, kein
Hehl daraus, daß er früher Offizier gewesen und in der bayrischen Armee
gedient hatte, dann infolge eines gewaltsamen Ereignisses, das er im
Dunkeln ließ, nach Amerika geflüchtet war. Jedenfalls trug er den Titel
Kapitän mit Recht, denn er hatte im amerikanischen Sezessionskriege
mitgefochten und sich seinem Naturell nach wohl durch Tapferkeit
hervorgethan. Ebensowenig machte seine Frau ein Hehl daraus, daß
sie aus sogenannt »besserer Familie« stammte und ihre Verbindung mit
O’Brell durch ein romantisches Abenteuer erzwungen worden war.
Die beiden Künstler — denn auch sie leistete außerordentliches im
Präzisionsschießen — hatten sehr bedeutende Einnahmen, das Honorar,
das ihnen für den Abend vom »Eldorado« bezahlt wurde, blieb hinter der
Gage eines übermütigen Gesangssternes nicht zurück. So mochten sie
auf ihrer Tournee durch alle civilisierten Länder der Welt Reichtümer
angesammelt haben; auch sprachen sie davon, sich in nicht zu ferner
Zeit an irgend einem schönen Luxusorte eine Villa zu kaufen und Gewehr
und Pistole an den Nagel zu hängen. —
Der Mann deuchte mich wohl eines teilnehmenden Wortes wert, und
ich wollte es mir nicht versagen, ihm durch einen Besuch solches
auszusprechen und ihn zu dem Urteil zu beglückwünschen. Da er
vermutlich dem Orte des Verhängnisses schleunigst den Rücken kehren
würde, denn sentimentale Anwandlungen, die ihn längere Zeit an das Grab
seiner Gattin fesseln würden, lagen ihm wohl fern, so beeilte ich mich,
ihn aufzusuchen.
Aus der mir vom Portier bezeichneten Zimmerthür trat gerade ein
beamtenmäßiges Wesen, es mochte der Kassierer des »Eldorado« sein, der
mit dem Kapitän abgerechnet hatte, denn nach meinem Eintreten bemerkte
ich auf dem Tisch ein wirr hingeworfenes Päckchen Banknoten, von einem
Haufen blinkender Kronen beschwert.
Ich fand den Unglücklichen mitten in der Stube stehend, und nur sein
bräunlicher Bronzekopf wandte sich nach mir herum; die Frisur seines
glänzendschwarzen Haares war weniger geschniegelt als sonst, und der
dunkle Hauch des unrasierten Bartes gab ihm ein etwas verwildertes
Aussehen.
Er wußte, weshalb ich gekommen, trotzdem nickte er nur kurz, fast
geschäftsmäßig, wie er uns sonst auf dem Schießstande zu begrüßen
pflegte. Ich reichte ihm die Hand hin, die er nach englischer Art
kräftig und kurz schüttelte. Meine bedauernden Worte unterbrach er mit
seiner vollen und sicheren Stimme, die durchaus nicht darauf schließen
ließ, daß irgend etwas in seinem Innern zerbrochen wäre.
»Gut, daß Sie kommen! — ich hatte sogar nach einem von den Herren
schicken wollen —«
»Es war der Zweck meines Besuches,« erwiderte ich, »Ihnen, wenn solches
nötig, meinen Beistand anzubieten —«
»Für mich nicht —« wehrte er ab, und ein feiner, ironisch bitterer
Zug flog um seine Mundwinkel. Dann, den mächtigen Oberkörper mit einem
langsam anschwellenden Atemzuge hebend, sagte er mit halber Stimme und
mit einem seltsam scheuen Blick nach seitwärts: »Es handelt sich um
~ihr~ Grabmal, wissen Sie —«
Seltsam — als wenn er das wider Willen herauspreßte; und der scheue,
bei ihm ungewohnte Blick, schien fast zu bedeuten, er möchte nicht, daß
~sie~ etwas davon erführe.
»Sie können beruhigt sein, Herr Kapitän, man hat von allen Seiten
gewetteifert, ihr Grab auszuschmücken. Jetzt immer noch gleicht es
einem Blumenbeet.«
Er drückte die Augenlider zu und verharrte so ein kurzes Schweigen
lang; ein leichtes Winken seiner Hand sagte: »Ich danke Ihnen!«
Hierauf, den geschäftlich kühlen Ton erzwingend: »Also um ihr
definitives Grabmal handelt es sich. Ich werde Europa verlassen und
nicht mehr hierher zurückkehren. Es soll ihr ein Denkstein errichtet
werden, etwas in Marmor, es kann so kostbar ausfallen, als man beliebt
— an Geld soll nicht gespart werden. Hier —«
Und er wies nach dem Geldhaufen auf dem Tisch mit einer gewissen
verächtlichen Gebärde, die auszudrücken schien: »Was ist mir Mammon
fortan?«
Ich versicherte ihn, daß sein Auftrag auf das sorgfältigste ausgeführt
werden sollte, und bat ihn, mir die Summe anzugeben, die er für den
Zweck aussetzen würde.
»Hier, das ist meine ganze Einnahme vom Eldorado! Ich wünsche sie für
das betreffende zu verwenden. Wieviel war es doch noch? Die Summe
ist mir entfallen, ich habe aufs Geratewohl quittiert. Es ist auch
einerlei! Würden Sie die Güte haben und selber nachzählen!«
Ich machte mich also daran, die Scheine auf dem Tische zu sortieren
und das Gold zählbar aufzureihen. Währenddem durchmaß er dröhnenden
Schrittes die Stube, ohne sich um meine Verrichtung zu kümmern. Endlich
nannte ich die Summe.
»Gut!« rief er. Es klang scharf und abschneidend, als wünschte er diese
Angelegenheit hiermit erledigt.
Noch ein paar seiner wuchtigen Schritte, dann blieb er plötzlich vor
mir stehen — fast konnte ich ein Zusammenzucken meinerseits nicht
verbergen, ein so unheimlich düsteres Feuer loderte unter seinen
halbgesenkten Lidern.
»Noch eins —« begann er dumpf, mit heiser entstellter Stimme. »Es wäre
mir lieb, wenn es jemand erführe. Bitte Sie aber, mit der Verbreitung
zu warten, bis das Denkmal errichtet ist. Nicht, als wenn ich mich vor
einer neuen Untersuchung fürchtete — ich fürchte mich vor nichts und
vor niemand! Auch ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens, soviel ich
weiß, unstatthaft.«
Seine bräunliche Gesichtsfarbe spielte ins Aschfahle, sein Blick wirkte
wie durchbohrend, es war ihm schwer standzuhalten.
»Also ich habe sie mit Absicht getötet —«
»O!« — und ich prallte entsetzt zurück. Hatte die Haft und der
fortwährende Gedanke an das Fürchterliche seinen Verstand aus den Fugen
gerückt?
Er mochte solchen Verdacht aus meiner Miene lesen — wieder zuckte das
ironisch bittere Lächeln um seine Mundwinkel.
»Es ist kein Märchen, das ich Ihnen da aufbinde, verehrter Herr! Ich
liebe dergleichen nicht! Es ist so, ich habe sie mit Absicht getötet
— — seit zwei Jahren ging ich mit dem Gedanken um — endlich war die
Zeit da —«
Es war eine grauenhafte Ruhe, mit der er das vorbrachte. Stumm stierte
ich ihn an, es war, als starrte mir das Blut zu Eis.
»Ich möchte nicht, daß Sie mich für eine Bestie hielten! Auch sollen
Sie nicht denken, daß ich mich wie ein sentimentaler Schwächling habe
hinreißen lassen. Getötet ist auch der falsche Ausdruck — ich habe sie
gerichtet! Sie hätte vor zwei Jahren bereits exekutiert werden sollen,
ich habe die Vollstreckung nur hinausgeschoben —«
»Sie ist Ihnen untreu gewesen —« entfuhr es mir wider Willen.
Natürlich, so wie wir alle den Kapitän vom Scheibenstande kannten, war
das Motiv der unseligen That Eifersucht gewesen.
Er nickte. »Untreue ist ein weiter Begriff. Die Untreue, die sie ihrem
ersten Gatten leistete — meinetwegen, wäre vielleicht in den Augen
der Welt eher eine Schuld gewesen als diese da. Bei uns Künstlern
drücken die Ehegatten wohl ein Auge zu. — Kokettieren und süße Augen
machen gehört zum Geschäft. Lächeln und lächeln — besonders zu unserm
Tellsschuß gehört ein solches Engelsfrätzchen, sonst macht die Pièce
keinen Effekt! Da kann man sich denn freilich der Blumenspenden und
anonymen Billets und selbst kostbarerer Dinge nicht erwehren. Ein Weib
ist ein Weib! Sie aber kannte die Gefahr, ich hatte ihr vordem schon
öfter gedroht, sie zu erschießen, wenn sie sich auch nur das Gelüst zu
einer Untreue zu Schulden kommen ließe.«
»Zu Pest geschah es also, es war ein bekannter magyarischer Don Juan,
der ihr wahrhaftig den Kopf verrückt haben mochte. Hol’ der Teufel die
Weiber! Es giebt keine Treue schlechtweg — die mangelnde Gelegenheit,
das ist die Treue!«
»Ich forderte den Kerl. Er schlüge sich nicht mit einem Artisten, hieß
es. Und sich vor die Pistole eines Kapitän O’Brell stellen, wäre eine
Borniertheit! Da könnte er sich lieber gleich selbst eine Kugel durch
den Kopf jagen — und dazu hätte er keine Lust.«
»Gut, ich wollte ihm das besorgen und ihn wie einen Hund über den
Haufen schießen — ~sie~ aber flehte mich auf den Knieen, davon
abzustehen. Also liebte sie ihn?! Ich hätte sie damals schon töten
sollen, und ich wollte es auch — — aber mein Gott, mein Gott ...«
Er schlug die eine Hand gegen die Augen und hielt sie so eine kleine
Weile. Bedeutete dies »Mein Gott!« nicht: »Aber ich liebte sie selbst
so leidenschaftlich!«
»So schob ich es auf —« fuhr er dumpf fort, »obgleich mir nachdem
deutliche und schriftliche Beweise zur Hand kamen, daß eine Untreue
vorlag. Ich schob es auf — das heißt, ich hatte ihr verziehen und
wollte vergessen! Ein anderes Mal aber — das schwor ich mir, würde
ich nicht so weich sein! Uns band ja außerdem der Beruf aneinander,
ich will es gestehen. Damals hatten wir gerade mit unserm famosen
Tellsschuß debütiert, wir machten kolossale Furore, und der Pièce
verdanken wir unser Vermögen. Niemand macht ihr solches nach! Sie
hatte, weiß Gott, Courage!«
»Ja, sie bewies diese Courage schon, daß sie überhaupt bei mir blieb.
Denn sie wußte, daß ich ihr nur äußerlich verziehen. Der geheime Groll
fraß weiter in mir, und sie sah das deutlich. Den ganzen Tag lang
gab ich mir Mühe, nicht daran zu denken. Am Abend aber während der
Vorstellung, wenn die Schüsse knallten, war alles wieder wach. Der
Geruch des Pulvers machte mich toll. Jedesmal, wenn ich ihr die Sterne
vom Kopfe wegfegte, rief eine Stimme in mir: Jetzt! — Thu’ es! — Töte
sie! Es war wie ein Wahnsinn, der mich packte — eine ungeheure Qual!
Vielleicht erinnerte mich ihr Lächeln daran, das doch zu der Pièce
gehörte. Genug, eine Manie, eine Krankheit, gegen die ich nicht mehr
ankam ....«
»Ich wollte mich davor retten und den Tellsschuß aufgeben — aber alle
Welt verlangte danach — das Publikum schien ihr Blut haben zu wollen!
Ich wollte überhaupt das Schießzeug an den Nagel hängen — ich klagte
meiner Frau, daß meine Hand unsicher würde und daß ich zuweilen ein
Flimmern vor den Augen verspürte. Sie lachte mich aus. ›Noch eine
Tournee!‹ schlug sie vor — und dann noch eine und abermals! — Das
infame Geld reizte sie, sie hatte einen Heißhunger auf Brillanten, auch
wollte sie den Applaus nicht entbehren — Weiber sind Weiber!«
»So trieb ich’s also zwei Jahre lang — Abend für Abend die
entsetzliche Versuchung! — Immer wieder, wenn ich die Pistole nach
ihrem Haupte richtete, war die Stimme da, die mir zuraunte: Thu’ es!
Töte sie! Es braucht ja nur der Finger auf dem Stecher ein wenig zu
früh zu zucken — niemand kommt auf den Gedanken, daß ein Mord vorläge!
Sehen Sie, so feige bin ich gewesen!«
»Und so tapfer war sie! Sie mußte jedesmal in meinem Gesichte lesen,
daß etwas mit mir vorging. Die eigenartige Erregung, die mich nach
der Vorstellung ergriff, mußte sie warnen. Wohl zwanzigmal habe ich
sie gebeten, daß wir diesmal den Tellsschuß auslassen wollten. ›Das
dürfen wir nicht! Das Renommee verlangt es!‹ sagte sie. ›Du und daneben
schießen, Miska! Eher fällt der Mond vom Himmel! Schieß nur zu, ich
halte still‹ —. Sie stellt sich also hin an den Pfahl, lächelt und
lächelt ... Teufel, dies Lächeln, das gerade war’s!«
Wieder maß er das Zimmer mit dem Gedröhn seiner Schritte; ein hörbarer
Seufzer schwellte seinen breiten Brustkasten.
»Warum es gerade heute geschah? Mir ist alles nur wirr in der
Erinnerung.« Er strich sich dabei mit der Hand über das Gesicht. »Das
Lächeln war daran schuld,« — murmelte er wie für sich — »ein Lächeln,
wie sie dazumal in Pest lächelte. Und seitwärts hinter mir die Loge!
Dieselbe Loge wie in Pest — jemand saß darin im Dunkel ... Er! — so
meint’ ich, so sah ich, ehe ich an den Tisch mit den Pistolen trat.
Derselbe, der sich nicht mit mir schießen wollte und dem ich das Leben
geschenkt, weil sie mich auf den Knieen darum gefleht! — Möglich, daß
er’s nicht war — ich weiß nicht — die Tollheit packte mich — die
ganze Bühne schwamm in einem roten Nebel — ich schoß und schoß und
schoß — das Knallen, der Geruch des Pulvers — ihr Lächeln, o ihr
Lächeln! — Diesmal hörte ich deutlich die Stimme — sie kommandierte
laut: Thu’ es! Töte sie! — und ich zielte auf ihre Stirn und drückte
ab ...«
Beide Hände preßte er gegen die Augen, und ein Schauder erschütterte
seinen Körper.
»Sie waren krank, sie hatten die Sicherheit verloren —«, wagte ich
einzuwerfen.
Da fuhr er auf, seine Augen loderten: »Unmöglich!« schrie er schrill.
»Es giebt keine Maschine in dieser Welt, die so sicher fungiert wie
diese Hand!«
Und er schüttelte die hocherhobene Hand. »Eher fällt der Mond vom
Himmel!«
Es war das Grauenhafteste von allem, den Wahnsinn des Künstlerstolzes
zu sehen, der eher einen Mord zuließ, als daß er selbst an seiner
Unfehlbarkeit rüttelte.
Sechs Variationen
über ein bekanntes Thema
[Illustration]
»Sie liebten sich ...«
So begann die Erzählung. Die kleine freundliche Alte legte das Buch
auf den Fenstersims und ein gewisses altmodisches, aus Wehmut und
Wohlwollen zusammengesetztes Lächeln glitt über ihre elfenbeinblassen
Züge. Sie lieben sich ... das uralte, ewig unerschöpfliche Thema!
Werden die Herren Dichter und Geschichtenschreiber denn nicht müde, es
fort und fort anzustimmen? Und so viel Herzen, so viel Variationen!
Auch durch die Saiten ihres Herzens hat einst das Thema geklungen, in
süßen, leidenschaftlichen, jubelnden, elegischen, schrill abreißenden
Tönen. Aus den Schicksalen von Freunden und Verwandten tönt es zu
ihr herauf; und nicht allein die Romane, Idyllen und Tragödien, die
das Leben gedichtet, auch die Kopien, Plagiate und eigenen Melodien
der Geschichtenschreiber finden sich ein. Sie hat viel gelesen, in
frühreifer Jugend, mit klopfendem Herzen, den Kopf voll Hoffnungen und
Illusionen; dann später, als sie das Thema und seine Variationen mit
dem freundlichen Auge der resignierten Kritik betrachtete.
»Sie lieben sich ...« Die alte Geschichte, aber es ist ein Abend,
solche Dinge zu lesen, ein köstlicher Frühlingsabend voll Blütenduft
und Vogelsang. Unten auf der Promenade wandeln geputzte Menschen
nach dem nahen Walde, ein Brautpaar kommt daher, eng aneinander
geschmiegt, eine Handwerkerfamilie ist um das Wäglein beschäftigt,
darin das Jüngste wie ein Prinz ruht. »Sie lieben sich ...« Die klare,
sonnendurchstrahlte Luft ist voll des Themas, und tausend Variationen
schwirren umher.
=Allegro agitato.=
»Sie lieben sich aber doch ...« warf die Frau Generalkonsul in einem
leisen Anflug der Entrüstung hin.
»Dummheit!« fuhr der Generalkonsul heraus. »Ich werde meine einzige
Tochter an einen simplen Lieutenant verschleudern! Das fehlte noch! Sie
könnte einen Prinzen haben! Aber nicht einmal ein Name, kein »von«,
garnichts, ein Lieutenant Schneidig schlankweg — es ist empörend!«
»Er ist einer der liebenswürdigsten Menschen, er würde Else glücklich
machen ...«
»Glücklich — was heißt glücklich? Paperla! Sie muß sich solche Ideen
aus dem Kopf schlagen!«
Eine Weile war es still im Schlafzimmer, nur das Zeitungsblatt, das
er mit vorgestreckten Armen gegen das Licht haltend durchstöberte,
raschelte ärgerlich.
»Gustav, wir heirateten uns doch auch aus Liebe —« kam es wie ein
Seufzer von ihrem Bette her.
»Wir hatten aber auch nichts damals, da war es keine Kunst! Na, nun
gute Nacht!«
Noch ein über den Kursbericht fliegender Blick, dann löschte er das
Licht aus. — — —
Zwei Tage lang herrschte im Hanse ein unheimlich verstörter Ton. Der
Generalkonsul mißlaunisch und mürrisch, die Frau Generalkonsul stumm,
völlig stumm, bis in die zitternden Bänder ihres Häubchens hinein mit
Groll geladen, statt einer Antwort zumeist nur ein gewisses nervöses
Zucken ihrer hageren Schultern; Else aber, die kostbare blonde
Prinzenbraut von einer Lustigkeit, die alle verblüffte, trillernd und
tänzelnd — doch ihr Lachen hallte so eigenartig schrill durch das Haus.
Am Morgen des dritten Tages, beim Frühstückstisch, bekam der
Generalkonsul von seiner Gattin ein Zeitungsblatt hingeschoben: »Da
lies einmal — da unten das: ›Sie liebten sich‹ — fängt es an.«
Mit einem Runzeln seiner roten, wulstigen Stirn würdigte er die Stelle
eines Blickes, machte hm! schob seine Unterlippe zu einer Schaufel vor,
versuchte ein mitleidiges Lächeln über seine feisten Züge gleiten zu
lassen, und ging dann mit einem Räuspern zu anderem über. Aber sie
beobachtete ihn scharf mit ihren grauen Äuglein: — jetzt, ja jetzt ist
er abermals an der betreffenden Stelle! Die hat also doch Eindruck auf
ihn gemacht?
Es war unter der angegebenen Spitzmarke der pikante Bericht über
einen kleinen Berliner Liebesroman. Der Sohn eines weltbekannten
Finanzmannes, der ein einfaches Mädchen liebt, und da er unmöglich die
elterliche Einwilligung zu dieser Mesalliance erlangen wird, so jagt
er sich eine Kugel in die Brust — eine beliebte Variation auf das
bekannte Thema. Jetzt, heißt es, ist die Verzweiflung des Vaters groß,
er bietet den Ärzten ein Vermögen, wenn sie ihm seinen Einzigen (auch
ein solcher!) retten, dann soll ihm auch kein Veto im Wege stehen!
ja, man will sogar wissen, daß das zukünftige Schwiegertöchterlein im
Verein mit dem Vater das Krankenlager hütet ...
»Ich bin begierig auf die Fortsetzung« — warf die Generalkonsulin nach
einer Weile tonlos hin.
»Ah, die Dummheit dort in dem Blatt« — prustete er.
O, er weiß also doch, was ich meine! Es beschäftigt ihn stark!
triumphierte sie.
»Siehst Du, Gustav, Else ist so eigentümlich — sie gefällt mir gar
nicht.«
»Das giebt sich —«
»Sie ist ein resolutes Ding. Wenn man so was liest, so kann einem angst
und bange werden ...«
»Wie meinst Du das?«
Nur ein Achselzucken zur Antwort. —
Weitere drei Tage später befahl der Tyrann im komisch polternden Ärger,
daß ihm die B.-Zeitung nicht mehr auf den Tisch käme. War sie nicht
schuld gewesen, daß er nicht den Mut fand, einen gewissen Lieutenant
Schneidig (bloß Schneidig!), als er um die Hand seines Goldkindes warb,
abzuweisen?
Weil sie sich lieben .... Das wäre ja kein Grund gewesen! »Na aber
meinetwegen!«
=Andante con moto.=
1. »Meine liebe, schmerzlich geliebte Emmy! Ja mit schmerzlich bewegtem
Herzen schreibe ich Dir diese Zeilen. Lange, lange Zeit habe ich mich
gegen den Entschluß dieses Briefes gesträubt, ich habe mir das Gehirn
zermartert nach einem Ausweg; wäre mir ein gläubiges Gemüt bewahrt
geblieben, gewiß ich hätte auch das Mittel nicht unversucht gelassen,
um uns die Hülfe der Himmelsmacht zuzuwenden. Aber alles vergeblich —
es ist das Ende!
Geliebte! Elf Jahre lang hat der Bund unserer Herzen gewährt. Ob
wir glücklich waren? Die Stunden des Glückes aufzuzählen wäre eine
Trivialität; es wäre eine Vermessenheit, mit dem Schicksal zu hadern,
weil es uns diese wenigen Stunden mit so mancher bitteren Enttäuschung,
mit so mancher vereitelten Hoffnung aufgewogen.
Es ist möglich, daß ich den Kampf mit dem Leben tapferer hätte
aufnehmen können — meine träumerische, unpraktische Natur ist mein
und Dein Verhängnis geworden: das Ideal im Auge, stolperte ich fort
und fort. So ist es mir nicht vergönnt gewesen, ein bescheidenes
Plätzchen zu erobern für Dich und mich, wo wir unser Glück genistet
hätten. Es wird mein Geschick sein, zeitlebens die Dienerstellung eines
Hauslehrers zu bekleiden — und Du Arme, Ärmste wirst vergeblich der
Misère des Gouvernantentums zu entfliehen suchen.
So ist es besser, wir lösen unsern Bund! So hart es ist, dies
auszusprechen, ich weiß, daß Dir dieser Vorschlag nichts Neues ist.
Zwischen den Zeilen unserer Briefe lauerte er wie ein Gespenst seit
Jahren schon. Aber wir fanden beide nicht den Mut, meine arme Emmy!
Wohlan so sei es denn!
Ich bitte Dich, meinen Vorschlag so ruhig und objektiv hinzunehmen,
als Du vermagst. Ich bitte Dich zu prüfen, ob Du tapfer genug bist,
eine neue Wartezeit von vielen Jahren zu beginnen, und ob unsere Liebe
solche Probe bestehen würde?
So ist es besser die Blüte zu brechen, ehe sie häßlich verwelkt!
Wir werden nicht scheiden wie zwei Unglückselige, die das Schicksal
gewaltsam auseinanderreißt, sondern wie zwei Kameraden, deren
Reiseroute plötzlich auseinanderläuft, nur daß wir nicht sagen »auf
Wiedersehn!«
Ich erwarte klopfenden Herzens Deinen Bescheid. Nimm wie stets die
Versicherung, daß Dich aus der heißesten Innigkeit seines Herzens liebt
nach wie vor
Dein tiefunglücklicher
Anselm.«
2. »Geehrter Herr!
Sie werden meinen Brief erhalten haben, der Ihnen in schonender Weise
den so schnell und unerwartet erfolgten Tod meiner armen Freundin Emmy,
Ihrer geliebten Braut mitteilte. In Eile, alles andere vorbehaltend,
sende ich Ihnen ein teures Andenken, Ihren letzten Brief, den sie nicht
die Kraft hatte zu öffnen, den sie aber inbrünstig geküßt und den sie
sterbend an ihr Herz gedrückt. Welche Seligkeit für sie, nur dies
Zeichen von Ihnen in den Händen zu halten, bis zuletzt!
Gott tröste und stärke Sie in Ihrem unermeßlichen Schmerz! Bis auf
weiteres
Ihre ergebene
Helene S.«
=Scherzando.=
Sie liebten sich. Unter dem Weihnachtsbaum hatten sie sich
kennen gelernt; schon als er dort ausgestreckt lag auf dem einen
Bescherungstischchen mitten unter Bilderbüchern und allerlei Spielzeug,
schielten seine spaßigen Pulcinellaugen nach ihr herüber, die großartig
aussah, wie es einer Dame von ihrem Kaufpreis, mit echtem blonden,
frisierbaren Menschenhaar und mit einer sprechenden Pariser Maschine in
der Brust geziemte. Er hieß Monsieur Pierre und sie Mademoiselle Ange.
Er war der zierlichste bunteste Hanswurst, voll Späßchen und Mätzchen,
im Herzen aber ein treuer und braver Kerl. Sie behauptete, noch nie
einen so schönen Höcker gesehen zu haben, ja in ihrer bizarren Art
sprach sie es offen aus, daß sie ihn hauptsächlich dieses prächtigen,
mit Schellen behangenen Auswuchses wegen liebte.
Ihre Liebe kam zur offenen Erklärung, als sie sich an dem kleinen
Puppentisch einander gegenüber saßen und den sogenannten Pudding
verzehren sollten, der ihnen von Kinderhand auf dem blanken
Spiritusöfchen aus allerlei Küchenresten zubereitet worden war.
»Ich liebe Pudding nicht!« sagte Fräulein Ange schnippisch.
»Ich ebenfalls nicht!« knurrte er. »Aber ich liebe Sie, Fräulein! —
Sie haben die herrlichsten Augen, die ich je bei einer Puppe gesehen!«
»O wirklich?« flötete sie entzückt, und mit einem ganz feinen Geklapper
schnappten ihre drehbaren Augen nach ihm herum. Die seinen waren fest,
und er mußte jedesmal den ganzen Körper mitwenden, das gab ihm das
Aussehen eines mit einem Hexenschuß Behafteten.
»Ihr Höckerchen ist reizend!« erwiderte sie zur Belohnung. Verstohlen
hinter dem verschmähten Pudding fanden sich ihre Hände, seine
steife geschnitzte Holzhand und ihr weißes hartes, stets kühles
Porzellanhändchen.
Seitdem erfüllten sie mit ihrem Liebeswerben und ihren
augenverdrehenden Zärtlichkeiten alle Winkel der Kinderstube — Eltern
sollten sich hüten, ihren Kleinen solche verliebten Puppengeschöpfe zu
schenken!
Eines Tages wurde dem Monsieur Pierre von einem kleinen patscheligen,
nicht ganz reinlichen Kinderhändchen ein Bein ausgerissen.
»O«, sagte Fräulein Ange, »ich will Ihnen gern eins von den meinen
abgeben — ich hatte längst vor, mir ein paar neue hübschere Stelzchen
zuzulegen.«
»O ich bitte sehr!« wehrte der arme Pierre, aber es half ihm nichts,
die großmütige Laune von Fräulein Ange bestand darauf, daß er sich
eines ihrer für ihn viel zu kurzen Beinchen anheften ließ, während
sie sich ein elegantes neues Paar mit durchbrochenen Strümpfchen und
Hackenschuhen kaufte. Da hinkte er freilich mit seinem ungleichen
Beinwerk, das amüsierte sie aber, — ei, was that er nicht, um sie bei
Laune zu erhalten?
Eines anderen Tages ihres kurzlebigen Puppendaseins zerbrach sich
Fräulein Ange ihren Kopf, ein klaffender Schädelriß von einem Ohr zum
andern. Der gute Pierre erschrak aufs heftigste und war trostlos.
»Was fällt Ihnen ein, zu flennen!« rief Ange — »ausgezeichnet! jetzt
fahre ich nach der großen Puppenklinik in der Leipzigerstraße und lasse
mir den schönsten Patentkopf aufsetzen, der zu haben ist, der da« —
und sie schlug mit der Hand gegen die hohle Scherbe — »paßte mir
längst nicht, ich will mich verändern!«
Gesagt, gethan: der neue Kopf war ein Prachtstück mit braunen, noch
echteren Menschenhaaren und lächelnden Zähnchen. Pierre fand ihn
entzückend, aber siehe da, mit dem neuen Kopf hatte die Angebetete
auch ihren Charakter verändert, sie war launisch und hochmütig und
behandelte ihn schlecht. Zum Beschluß all seiner Qualen erhielt er
sogar den Abschied und weswegen?
»Ich vergeß’ Ihnen das nicht, daß Sie mir nicht, als ich meinen Kopf
zerbrochen hatte, den Ihrigen anboten, Monsieur Pierre!«
»O Gott — er hätte, er hätte Ihnen ja nicht gepaßt, Fräulein!«
stotterte Pierre.
»Warum nicht? Mir paßt alles! Aber Sie sind nicht galant, Sie sind
nicht dankbar, habe ich Ihnen nicht eins von meinen Beinen abgelassen?
Mir paßt, wie gesagt, alles — nur Sie passen mir nicht mehr, verstehen
Sie!«
Der arme Pierre! Eine Woche lang war er außer sich vor Schmerz und lag
mit dem Kopf nach abwärts in einem Baukasten, die beiden ungleichen
Beine aufwärts gestreckt. Bald aber fand er einen Trost. Eine niedliche
kleine Elsässerin that es ihm an. Freilich ganz stumm und nicht
sehr witzig, auch machte es ihm nicht viel Mühe, sie zu erobern. Er
überraschte sie mit einem »=Vive la France!=«, umfaßte dann ihre Taille
und flüsterte ihr in seinem verliebtesten Tone ins Ohr: »=Je vous
aime!=« So ein Schwerenöter!
=Largo. Sulla morte d’un principe.=
Es war ein Königssohn, blühend und begabt, der Stolz und die Hoffnung
des Landes. Die Zuversicht aller Guten baute auf seine Kraft, und
die Begeisterung erhob ihn jauchzend auf ihren Schild. So schien er
gewappnet und gefeit gegen alles menschliche Unheil. Da traf ihn
die Liebe plötzlich mitten ins Mark seines Herzens. Nicht die Liebe
der Fürstensöhne, ein kurzer, wilder Rausch oder eine flüchtige
Schmetterlingslaune, nein, die Liebe, die andere Sterbliche zu treffen
weiß, stark, verzehrend, ohne Widerstand, ein schwüles Gewitter, gegen
dessen Blitze man machtlos ist.
Traf ihn ins Mark des Herzens, durchfieberte seine Gedanken und sog wie
ein fressend Feuer an seiner Lebenskraft. Kein Aufraffen möglich und
keine Wehr dagegen! Taub und abweisend gegen alle Gebote der Pflicht
und die uralt heiligen Satzungen der Ehre. Die Liebe wollte ein Exempel
ihrer Übermacht feststellen, wie sie noch keines festgestellt!
Und sie befahl ihm hinzugehn in die einsame Waldhütte, um sich und die
Geliebte zu tödten, ganz wie sie andern winzigen wehrlosen Menschlein
den Revolver in die Hand drückt und ihnen ein Hotelzimmer oder einen
einsamen Busch im Walde anweist.
Ein ungeheures Entsetzen zuckte durch alle Lande ob des schaurigen
Geschehnisses. Und die Gelehrten, Psychologen und Psychiatriker,
Doktoren der Seele und des Leibes, alle klugen und weisen Leute
zerfaserten, sondierten, sezierten und prüften den Fall in seine Atome
hinein. Man fand aber nichts als die unerhörte, grausige alltägliche
Trivialität: »~Sie liebten sich!~«
=Tempo di menuetto.=
Sie hatten sich geliebt .... ein halbes Jahrhundert war seitdem
vergangen. Jetzt saßen sie Sessel an Sessel an einer Seite des
Ballsaals und sahen dem rythmischen Gewühl der von einem Straußschen
Walzer beschwingten Paare zu. Zwei feine alte Figuren, wertvollem
Meißner gleich. Sie hatte ein Lorgnon =à manche= von eingelegtem
Schildpatt zu den Augen erhoben, er gebrauchte ein Monocle, das an
einem Goldkettchen hing. Der Tanz interessierte sie ungemein; ihr
Gespräch stockte oder sickerte nur in kleinen staccato-artigen Rufen:
»Allerliebst! — reizend das Paar! — hübsch — sehr hübsch!«
Unter diesen Rufen vibrierte die Erinnerung an damals. Ein halbes
Jahrhundert war verflossen, sie sind unterdes beide Excellenzen
geworden, sie ist vielfache Großmama, er hat zwei Frauen zu Grabe
getragen — eine Welt voll Freuden, Sorgen, Erfolgen und Enttäuschungen
liegt zwischen damals und jetzt. —
Es war an einem Ballabend vor fünfzig Jahren; sie saßen Stuhl an Stuhl
wie heute, dem Tanze zuschauend. Und wie das Alter sich heute an der
Jugend ergötzt, so freute sich damals die Jugend des tanzenden Alters.
Denn im Saale wurde ein Menuett aufgeführt, die Alten wollten diesen
verschollenen Tanz noch einmal zu Ehren bringen, eine hübsche Laune,
die allseitig Beifall fand. Und während die ehrwürdigen Paare mit
den zimperlich gemessenen Schritten beim Klang eines spinettartigen
Klaviers, das man besonders zu dem Zweck hervorgeholt, den altmodischen
Reigen vollführten, fanden sich ihre beiden jungen Herzen.
Es war nur ein kurzer Frühlingstraum, den die rauhe Hand der
Wirklichkeit zerwühlte. Vielleicht war es besser so! —
»Ei sieh da, Excellenz, einer von Ihnen und eine von mir!« sagte die
alte Dame mit ihrem feinen Silberstimmchen.
Se. Excellenz nickte wohlgefällig.
Es war sein Lieblingsenkel, der mit einer von den liebreizenden
Enkelkindern Ihrer Excellenz tanzte. Weiß Gott, hat sie nicht
Ähnlichkeit mit einer gewissen anderen Dame von damals?
»Ein famoses Paar, Excellenz!« murmelte er.
»Ein ganz prächtiges Paar, Excellenz!« echote das Silberstimmchen. Und
die verblaßten Äuglein der beiden trafen sich zu einem bedeutsamen
Blick.
Und noch eine bedeutsamere Pause. Nachdem, plötzlich unvermittelt:
»Wissen Sie, Asta ist eine gute Partie« — warf Ihre Excellenz hin.
»Mein Alfred ist einer der talentvollsten Bursche, die ich kenne, er
wird Carriere machen —«
Wieder eine Pause, und während ihre Gedanken die alte Erinnerung
umgaukelten, spannen sie zugleich beim Takt des Walzers flimmernde
Zukunftsbilder, in der das »famose, prächtige Paar« eine immer
wichtigere Rolle spielte.
=Presto con fuoco.=
Der junge Forstmann trat eben aus dem Dickicht in die Schneuse hinaus,
als er stutzte. Horch, der dumpfe Schall von stampfenden Pferdehufen
in dem weichen Waldboden, dazu geheimnisvoll flüsternde Stimmen; so
verloren waren die beiden dort auf den Pferden in ihr Gespräch, daß sie
nicht einmal das Rascheln des Herbstlaubes vernahmen, als der Forstmann
sich Platz durch das Buschwerk bahnte.
Ein wunderschönes Paar! Beide groß, schlank, vornehm; das knappe
dunkle Reitkostüm umzwängt ihren herrlichen Wuchs, und um ihr von
der Abendsonne angeglühtes Antlitz flattert in der leisen Brise der
silbergraue Hutschleier. Sie lassen die Pferde läßig schreiten, sie
achten nicht des Weges, sie haben sich so Wichtiges zu sagen; dicht,
ganz dicht aneinander schreiten die Tiere, und ein leichter dampfender
Hauch geht von deren naßglänzenden Gliedern aus.
Die beiden halten sich sogar bei der Hand, und wie sie sich zuflüstern,
tauchen ihre Blicke sehnsuchtsglänzend in einander. Der Zuschauer
glaubt das Wort »Liebe« zu vernehmen; ja, ihr ganzes Wesen atmet
glühende Liebe.
Plötzlich schlingt der Reiter seine Rechte um die Taille der Reiterin,
hingebend, in bebendem Verlangen ruht sie in seinem Arm, sein vom
eleganten Stutzbart umrahmtes Antlitz beugt sich über das ihre, und ein
langer, langer, seliger Kuß vereinigt ihre Lippen, während die Pferde
läßig ihren Weg fortsetzen.
Da gellt ein hoher mißlautender Vogelruf durch die Waldstille. Wie
erschreckt fahren sie auseinander, — nun läßt die Dame ihren Rappen
ansprengen, der andere ihr nach, eine tolle, immer wildere Jagd
die Schneuse entlang, bis das rotgoldene Waldlaub die Erscheinung
verschlingt.
»Donnerwetter!« rief der Forstmann ganz verblüfft. »Mann und Frau? I,
da hätten sie doch nicht nötig, hier mitten im Walde und gar zu Pferde«
....
Einige Tage darauf, als er abermals diese Waldgegend durchstreifte,
bemerkte er auf einer Blöße Menschen versammelt. Der Sturm hatte das
Goldlaub von den Bäumen gefegt, man hörte deutlich das Rascheln unter
den geschäftig hastigen Tritten der Menschen dort. Was wollen die?
Jetzt vernimmt er laute befehlende Stimmen, jetzt stehen sich zwei
mit nicht vielen Schritten Abstand einander gegenüber. Ist der eine
von den beiden, der große, schlanke, schöne Herr nicht der Reiter,
der so inbrünstig seine Reiterin küßte? Die beiden haben Pistolen
gegeneinander erhoben, ein Kommando schallt, zwei Schüsse puffen — in
dem verwehenden Pulverdampf sinkt der Große in die Kniee und stürzt
dann lang hin.
»Donnerwetter!« entfuhr es dem bestürzten Zuschauer. »Schließlich waren
es doch nicht Mann und Frau, und der kleine Dicke hatte recht, daß er
seine Ehre rächte und den Großen, Schönen niederschoß ....«
Später, im Winter, als die Blutlache dort auf der Blöße, wie die Spuren
der Pferdehufe auf dem Schneusenweg längst vom schweigenden Schnee
bedeckt waren, durchkreuzte der Forstmann mit seinem jungen Weibe
zufällig die Waldstelle. »Sieh’ mal, also dort küßten sie sich, von der
einen Buche bis zur anderen — und dahinten schossen sie sich.«
»Oh!« rief sie, und die blauen Augen des frischen, blühenden Weibes
fuhren hin und her, von der einen Stelle zur anderen.
Er fand sie besonders reizend so und er konnte nicht an sich halten,
umschlang ihre pralle Taille und preßte einen Kuß auf ihre Lippen, daß
es laut durch den Wald erschallte.
Inhalt.
Aus Mitleid 1
Nie! 97
Die gekaufte Stimme 115
Des Kaisers Fünf 135
Der Friedensschluß 173
Der Doppelgänger 213
Das System 231
Er trinkt 295
Versunken 313
Faschingszauber 333
Der Tellsschuß 363
Sechs Variationen 385
Druck von C. H. Schulze & Co. in Gräfenhainichen.
Verein der Bücherfreunde
[Illustration]
Der Verein der Bücherfreunde hat folgende Satzungen:
1. Der Verein der Bücherfreunde bezweckt die Vereinigung aller Freunde
einer feineren litterarischen Unterhaltung und stellt sich zur Aufgabe,
seinen Mitgliedern eine Reihe hervorragender Werke der zeitgenössischen
~deutschen~ Litteratur — also keine Übersetzungen — zum billigsten
Preise zugänglich zu machen.
2. Die Mitglieder verpflichten sich zur Zahlung eines Beitrags von
vierteljährlich 3 Mark 75 Pf. (= 2 Gld. 25 Krz. oder 5 Franken),
welcher zum Beginn eines jeden Vierteljahres zu entrichten ist.
Mitglieder, welche die Bände gleich gebunden zu beziehen wünschen,
haben vierteljährlich 4 Mark 50 Pf. (= 2 Gld. 70 Krz. oder 6 Franken)
Beitrag zu zahlen. Weitere Zahlungen haben die Mitglieder keinesfalls
zu leisten. Der Beitritt verpflichtet für ein ganzes Jahr. Anmeldungen
in jeder Buchhandlung, welche auch die Veröffentlichungen vermittelt.
3. Es erscheinen im Laufe des Jahres in regelmäßigen Zwischenräumen
~sechs bis acht in sich abgeschlossene Werke~, zusammen etwa 150 Bogen
zu 16 Seiten stark. Die Veröffentlichungen bestehen zum größeren Teil
in unterhaltender –Roman, Novelle, Humor, Memoiren u. s. w. — zum
anderen Teil in allgemeinverständlich-wissenschaftlicher Litteratur:
Geschichte, Natur-, Länder- und Völkerkunde u. s. w. Die Bestimmung der
Reihenfolge der Erscheinungen und Änderungen hierin behält sich die
Geschäftsleitung vor.
4. Die Mitgliedschaft erstreckt sich stets auf ein ganzes Jahr. Der
Austritt aus der Gesellschaft muß der vermittelnden Buchhandlung
oder der Geschäftsleitung mindestens zwei Monate vor Ablauf des
Vereinsjahres angezeigt werden. Das erste Vereinsjahr beginnt mit dem
1. Oktober 1891.
5. Der Eintritt in die Gesellschaft kann jederzeit stattfinden. Die
seit Beginn des Vereinsjahres bereits erschienenen Werke werden alsdann
nachgeliefert. Auch Ausländer sowie Frauen können Mitglieder werden,
dagegen sind ~Leihbibliotheken und zu geschäftlichen Zwecken betriebene
Lesezirkel von der Mitgliedschaft ausgeschlossen~.
6. Die Veröffentlichungen des Vereins werden auch an Nichtmitglieder im
Einzelverkauf abgegeben, jedoch ~nur zum doppelten Preise~.
7. Bei genügender Beteiligung ist für später eine Verdoppelung der
jährlichen Bändezahl gegen die entsprechende Mehrzahlung in Aussicht
genommen. Jedem Mitglied wird es alsdann freistehen, sich bei dem
einfachen oder dem doppelten Cyklus zu beteiligen.
8. Die Geschäftsführung und Vertretung des Vereins liegt in den Händen
des Verlagsbuchhändlers Herrn Friedrich Pfeilstücker in Berlin.
=Berlin= und =München=, im August 1891.
Der Vorstand:
Theodor Fontane. Martin Greif. Hermann Heiberg. Otto von Leixner. Fritz
Mauthner. Alexander Baron von Roberts. Ernst von Wolzogen.
Die Geschäftsleitung:
Verlagsbuchhändler =Friedrich Pfeilstücker= in ~Berlin~, =W.=,
Bayreutherstraße 1.
Die Bücherpreise sind in Deutschland noch häufig unmäßig hohe; Länder
wie England und Frankreich sind uns in dieser Beziehung weit voraus.
Unter solchen Umständen sind die Litteraturfreunde in Deutschland
vielfach genötigt gewesen, ihren Bedarf an Büchern aus zweiter Hand
zu entlehnen, da der Ankauf der hohen Preise wegen mit zu erheblichen
Geldopfern verknüpft war.
Diesen Übelstand möchte der »Verein der Bücherfreunde« dadurch
beseitigen helfen, daß er die Veröffentlichung einer Reihe von Werken
~zeitgenössischer deutscher Schriftsteller — also keine Übersetzungen~
— aus verschiedenen Gebieten der Litteratur unternehmen und diese
Werke seinen Mitgliedern zu einem bisher in Deutschland ~unerhört
billigen Preise~ zugänglich machen wird.
Für monatlich 1 Mk. 25 Pf. wird jeder in den Stand gesetzt, sich nach
und nach eine kostbare Bibliothek von Werken unserer deutschen Autoren
— also nicht billige Übersetzungen zweifelhafter ausländischer Romane
— anzuschaffen.
Wenn es der »Verein der Bücherfreunde« wagt, Veröffentlichungen zu
einem so überraschend niedrigen Preise zu veranstalten, einem Preise,
der sogar die ~vielgerühmte Wohlfeilheit der französischen Romanbände
übertrifft~, so kann er es nur unter der Voraussetzung thun, daß
sein gemeinnütziges Vorhaben von allen Litteraturfreunden durch
Mitgliedschaft aufs regste unterstützt wird, denn es bedarf einer
großen Zahl von Freunden des Unternehmens, um dieses lebenskräftig zu
erhalten.
[Illustration]
Zur Veröffentlichung angenommen sind vorläufig folgende Werke:
~=Todsünden=~.
Roman von =Hermann Heiberg=.
(Bereits erschienen.)
Aus Mitleid. Des Kaisers Fünf
u. s. w.
Neue Novellen und Skizzen von =Alexander Baron von Roberts=.
~Inhalt~: Aus Mitleid. — Nie! — Die gekaufte Stimme. — Des =Kaisers=
Fünf. — Friedensschluß. — Doppelgänger. — Das System. — Er trinkt!
— Versunken. — Faschingszauber. — Der Tellsschuß. — Variationen.
[Illustration]
Seelenanalysen.
Novellen von =Max Nordau=.
(Verfasser der konventionellen Lügen der Kulturmenschheit.)
~Inhalt~: Ein Sommernachtstraum. — Blasiert. — Panna. — Die Kunst zu
altern. — Wie Frauen lieben. Zwei Gegenstücke: I. So. — II. Anders.
— Erscheint im Januar. —
[Illustration]
=Ein neuer Roman= von Max Kretzer.
[Illustration]
Es haben ihre Mitarbeiterschaft außerdem zugesagt:
=Adolf Glaser, Wilhelm Jensen, Hans Hopfen, Gerhardt von Amyntor,
Moritz Carrière, Ernst Eckstein, Ludwig Pietsch, Fritz Mauthner,
Martin Greif, Rudolf Genée, Hans Hoffmann, Ernst von Wolzogen, Otto
von Leixner, Moritz von Reichenbach, August Niemann, Julius Hart, Karl
Pröll= und viele andere.
Ferner wissenschaftliche Werke:
— Diese beruhen immer auf genauer Kenntnis der neuesten Forschung —
Aus der
Sturm- und Drangperiode der Erde.
Skizzen aus der Entwickelungs-Geschichte unseres Planeten.
Von Professor =Dr.= =H. Haas=. Mit Abbildungen.
Aus dem ~Inhalt~ des Buches heben wir folgende Hauptabschnitte
hervor: Was wissen wir von der Entstehung unseres Planetensystems im
allgemeinen und unseres Erdballs im besonderen? — Von dem Baumaterial,
das unseren Erdkörper zusammensetzt und von den Kräften, welche
dasselbe bilden und zerstören. — Von den nutzbaren Mineralien (Erzen,
Steinkohlen u. s. w.) und von der Art und Weise, wie solche entstanden
und wo sie vorkommen. — Von der Pflanzen- und der Tierwelt der
Vorzeit, sowie von ihrer allmählichen Entwickelung und Vervollkommnung
im Laufe der geologischen Perioden. — Vom vorgeschichtlichen Menschen.
=Astronomische Abende.= Von =Dr.= =C. Titus=. Mit Abbildungen.
~Ungefähre Inhaltsübersicht~: Die Sonne (tägliche und jährliche
Bewegung. Einflüsse auf die Erde, Sonnenflecken u. s. w.). — Das
Planetensystem und seine Geschichte (Bewegung der Planeten, Entdeckung
derselben, Entstehungstheorie von Kant-Laplace u. s. w.) — Ein Sohn
der Sonne (speziell der Planet Mars, die neuesten Forschungen über
seine Oberfläche, Marskarten, Atmosphäre des Mars, seine Monde, Frage
der Bewohnbarkeit u. s. w.). — Der Begleiter der Erde (Bewegung des
Mondes, Mondphasen, Alter des Mondes, Berge und Rillen auf dem Monde,
Mondsagen, Frage des Einflusses des Mondes auf das Wetter). — Ebbe
und Flut u. s. w. — Finsternisse. — Vom Kalender. — Wie sich der
Laie unter den Sternen zurechtfindet (Teilkärtchen, Sternbilder u. s.
w.). — Wie viel Sterne am Himmel stehen? — Über Fernröhre und deren
Zukunft. — Veränderliche, neue, verschwundene und mehrfache Sterne.
— Nebelflecke (besonders die neue Aufnahme des Nebels im Sternbild
der Andromeda, photographisch aufgenommen, welche eine Bestätigung der
Kantschen Theorie über die Entstehung des Planetensystems brachte;
bei dieser Gelegenheit: Die Photographie im Dienste der Astronomie.)
— Die Milchstraße. — Kometen. — Astrologisches. — Die Frage der
Bewohnbarkeit anderer Welten. — Weltanfang und Weltende in den
Gedanken des Astronomen und Physikers.
=Steinerne Zeugen.= Die Forschungen und Ausgrabungen in Palästina,
Egypten und Assyrien und ihre Beziehungen zur Bibel. Von =Dr.= =Georg
Kampffmeyer=. Mit Abbildungen.
* * * * *
Anmeldungen und ausführliche Prospekte durch jede Buchhandlung
oder auch durch die Geschäftsleitung des Vereins in ~Berlin~, =W.=
Bayreuther Straße 1.
* * * * *
⁂ Mitglieder, welche zehn Beitrittserklärungen sammeln
und die Unterschriften der Geschäftsleitung oder einer Buchhandlung
einsenden, erhalten für sich ein Exemplar der Veröffentlichungen
umsonst. Eine Sammelliste zum Einzeichnen der Namen steht zu dem Zweck
zur Verfügung. ⁂
[Illustration]
C. G. Röder, Leipzig.
Verlag von =Heinrich Minden=, =Dresden= und =Leipzig=.
Alexander Baron von Roberts:
=»Es« und Anderes. Vierte Auflage.= Preis geh. M. 3.— in Originalband
M. 4.—
=Lou.= Roman. =Dritte Auflage.= Preis geh. M. 3.50. — in Originalband
M. 4.50.
=Kohinor.= Novellen. =Zweite Auflage.= Preis geh. M. 3.50. — in
Originalband M. 4.50.
=Die Pensionärin.= Erzählung. =Zweite Auflage.= Preis geh. M. 2.— in
Originalband M. 3.—
=Unmusikalisch und Anderes.= =Zweite Auflage.= Preis geh. M. 3.— in
Originalband M. 4.—
=Unmusikalisch und Anderes.= =Miniatur-Ausgabe.= Preis geh. M. 2.— in
Originalband M. 3.—
=Um den Namen.= Roman. =Dritte Auflage.= Preis geh. M. 5.— in
Originalband M. 6.—
=Die schöne Helena.= Roman. =Zweite Auflage.= Preis geh. M. 5.— in
Originalband M. 6.—
Vorrätig in allen Buchhandlungen.
In der =Romanbibliothek= von =J. Engelhorn=, =Stuttgart=:
»=Satisfaction=« u. s. w. Novellen.
»=Preisgekrönt=«. Roman.
Im Verlag von =Th. Reclam=:
=Satisfaction=, Schauspiel in 4 Aufzügen.
Die schöne Helena.
Roman von =Alexander Baron von Roberts=.
═Zweite Auflage.═
Preis brosch. M. 5.— in Originalband M. 6.—
Nachstehend einige Besprechungen:
»=Deutschland=« 1890 Nr. 11: »Der Verfasser hat noch niemals ein
so gutes Buch geschrieben, wie das vorliegende. ~Roberts~ schafft
wirkliche Menschen, und diesmal aus dem Vollen. Es ist geradezu
erstaunlich, daß vor ihm niemand versucht hat, den preußischen
Feldwebel, ohne Zweifel eine der volkstümlichsten Figuren, so zu
analysieren, wie die neue Schule vor und nach Zola jeden anderen Stand
analysiert hat. (Folgt Inhaltsangabe.) ~Alles ist meisterhaft erzählt~,
auch die Nebenfiguren sind ~greifbar lebendig~ gezeichnet.«
»=Gartenlaube=« 3. Halbheft 1890: »Was uns hier erzählt wird, ist
ein soldatisches Trauerspiel, und zwar bewegt sich die Handlung in
Kasernen, Kasematten und Tanzlokalen. Die Schilderungen sind ~überaus
lebendig und anschaulich~ und zeugen von der genauesten Kenntnis aller
in Betracht kommenden Lokalitäten und Verhältnisse. Der Roman läßt uns
Einblick in das ~Seelenleben~ derer thun, die, mögen es nun Männer
oder Frauen sein, ~hinter den Festungswällen~ ihr Leben hinbringen,
und er zeigt uns, zu welchem furchtbar ernsten Verhängnis das Gesetz
der soldatischen Subordination werden kann. (Folgt Inhaltsangabe.) Die
Schilderung des Magazinbrandes und der Überschwemmung ist ~malerisch~
und ~farbenreich~; die Anschaulichkeit beruht auf ~genauester
Sachkenntnis~.«
»=Westermanns illustr. deutsche Monatshefte=« Nr. 404. Mai 1890: »Es
gehört großes Talent und scharfer Blick für charakteristische Züge
dazu, um aus dem unteren Garnisonleben und was damit zusammenhängt
eine so packend eigenartige und leidenschaftlich bewegte Erzählung
herauszuarbeiten.«
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.
Verlag von Wilhelm Friedrich, K. R. Hofbuchhändler in Leipzig.
Revanche.
Roman von =Alexander Baron von Roberts=.
8°. Preis brosch. M. 6.— eleg. geb. M. 7.—
Alexander ~Baron von Roberts~ hat sich mit diesem zeitgeschichtlichen
Roman in glänzender Weise als Erzähler hervorgethan. Den Gegenstand
desselben bildet die zwischen einem Franzosen und einer schönen,
liebenswürdigen Deutschen geschlossenen Ehe, deren Frieden von dem
Dämon »Revanche« mit brutalen Händen zerstört wird. In gewandtester
Darstellung, in einer feuilletonistisch graziösen, geistvollen und
zuweilen zu eindrücklichster poetischer Kraft sich erhebenden Sprache
schildert der Verfasser, wie der fanatische Haß gegen alles Deutschtum,
von dem Frankreich ergriffen worden, mehr und mehr das Glück jener Ehe
untergräbt, und macht uns in äußerst wirksamen, dramatisch zugespitzten
Scenen mit einer Anzahl interessanter, lebensfrisch gezeichneter
Figuren bekannt: mit dem Gatten Viktor Jaminet und dessen Bruder Armand
Jaminet, der sich mit der Erfindung eines Sprengstoffes beschäftigt,
mit dem ganze Armeen und Festungen der entsetzlichen Preußen von der
Erde weggeblasen werden sollen; mit dem eitlen Narren Boularède, mit
der treuherzigen westerländer Amme, die das kleine Viktorche mit
rührender Sorgfalt hütet, und vor allem mit ihr, mit Gertrud, die den
leuchtenden Mittelpunkt des Romans bildet. Derselbe gehört in der That
zu den besten Erscheinungen der erzählenden Kunst und verdient wärmste
Empfehlung.
(Schlesische Zeitung.)
☛ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen. ☚
*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75008 ***
Aus Mitleid
Download Formats:
Excerpt
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter
Text ist ~so ausgezeichnet~. Im Original in Antiqua gesetzter
Text ist =so markiert=.
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
Der Übersichtlichkeit halber wurde die Buchwerbung am Ende
des Buches zusammengefasst.
Der Autor des vorliegenden Buches ist einer der berühmtesten modernen
deutschen Dichter. Das beweist aber nicht viel. Wir haben momentan
in der Litteratur viele Berühmtheiten, um die...
Read the Full Text
— End of Aus Mitleid —
Book Information
- Title
- Aus Mitleid
- Author(s)
- Roberts, Alexander, Baron von
- Language
- German
- Type
- Text
- Release Date
- January 1, 2025
- Word Count
- 80,133 words
- Library of Congress Classification
- PT
- Bookshelves
- Browsing: Culture/Civilization/Society, Browsing: Fiction
- Rights
- Public domain in the USA.
Related Books
Ruth
by Andreas-Salomé, Lou
German
1280h 8m read
Der Held und andere Novellen
by Holzamer, Wilhelm
German
451h 25m read
Die Bestechung
by Schücking, Levin
German
138h 19m read
Prinzessin Sidonie (Band 3/3)
by Bacher, Julius
German
1028h 21m read
Prinzessin Sidonie (Band 2/3)
by Bacher, Julius
German
913h 35m read
Prinzessin Sidonie (Band 1/3)
by Bacher, Julius
German
840h 55m read